Große Messe, kleine Welt. Versuch einer Rekonstruktion der #lbm17

IMG_8753Donnerstag

Die Leipziger Buchmesse 2017 beginnt mit einem Déjà-vu: Tobias Nazemi am Bahnsteig des Flughafens, wie schon im letzten Jahr fahren wir gemeinsam zur Messe und trinken den ersten Kaffee im Pressezentrum. Und doch ist etwas anders: Zeigte er mir im letzten Jahr auf dem iPad noch seine ersten Ideen zu Blogbuster, sprechen wir diesmal bereits über die Kandidaten der Longlist. Keine Zeitschleife also, auch wenn mich der Wecker um 4:45 wie ein Murmeltier aus dem Winterschlaf riss. Dass die Zeit nicht stehengeblieben ist, darf ich erfreulicherweise auch bei der inzwischen schon traditionellen Erstvisite am Stand von duotincta feststellen. Nicht, dass ich mich über die Titel der Nebenstände auf vergangenen Messen (allen voran den Evergreen Gebete für Tiere) nicht amüsiert hätte – aber die unmittelbare Nähe zu Verlagen wie Voland & Quist, Frankfurter Verlagsanstalt, Mayrisch oder Verbrecher steht den Verlegern meines Debütromans dann doch ein wenig besser zu Gesicht. Besonders mit den Kollegen von homunculus erschöpft sich die Nachbarschaftshilfe nicht bloß im regelmäßigen Austausch von Bier (duotincta) und Schnaps (homunculus): Am Abend ist auch eine gemeinsame Lesung im Beyerhaus geplant.

Ein bisschen sind Buchmessen ja wie Klassentreffen. Man freut sich, einander wiederzusehen, tauscht sich aus – und wird alberner, je länger es dauert. Besonders bei den unabhängigen Verlagen geht es familiär zu, so auch bei duotincta: Verleger und Autoren verbringen nicht nur die meiste Zeit gemeinsam am Stand, sondern wohnen zum Teil sogar in derselben Messe-WG, wo auch für Freunde des Verlages noch ein Isomattenplatz frei ist. Mit dem Autor Frank Schliedermann, den ich 2015 in Frankfurt auf der 1000 Tode-Lesung kennenlernte, verbindet inzwischen alle eine so gute Freundschaft, dass er es sich nicht nehmen ließ, sich als Verlagsmaskottchen adoptieren zu lassen. Nach guten Gesprächen mit ihm, den duotincta-AutorInnen Daniel Breuer, Kathrin Wildenberger und Birgit Rabisch sowie den Verlegern Jürgen Volk und Ansgar Köb warten am Nachmittag die ersten Termine auf mich.

Zumindest die erste Stunde der Veranstaltung How Indie are you? mit Nikola Richter, Elisabeth Ruge und Susan Hawthorne lasse ich mir aber nicht entgehen – eine interessante Gesprächsrunde über die Zukunft der unabhängigen Verlage, der ich gerne länger zugehört hätte. Bemerkenswert ist etwa die Antwort Ruges auf die Frage, warum sie denn die Seiten gewechselt habe – von der Verlegerin zur Agentin: Es sei, so Ruge, eigentlich eine Rückkehr zu ihren Wurzeln. Als Agentin stehe für sie endlich wieder der Text im Vordergrund, während die Entscheidungen in großen Verlagen zunehmend von Marketingabteilungen getroffen würden. Natürlich ist auch Elisabeth Ruges Agentur vom Erfolg ihrer Autoren abhängig, ihr Engagement für Autoren wie Frank Witzel oder als Jurymitglied bei Blogbuster zeugt jedoch davon, dass der Idealismus ihrer Aussage keineswegs aufgesetzt ist. Die Leidenschaft für gute Literatur ist echt und etwas, das alle auf dem Podium miteinander verbindet.

Abends dann die gemeinsame Indie-Lesung von duotincta und homunculus im Beyerhaus – und eine Überraschung: Während wir im Erdgeschoss noch plaudern, füllt sich, ohne dass wir etwas davon mitbekommen, unten bereits der Saal. Trotz der großen Konkurrenz bei Leipzig liest stellen wir vor vielen (und großteils ausdauernden) Gästen unsere Bücher vor und lassen dabei auch drei Blogger zu Wort kommen: Jochen Kienbaum sowie Andrea und Klaus Daniel präsentieren stellvertretend für 40 Blogger ihre Texte aus Warum ich lese. Eine schöne, aber auch sehr lange Lesung, nach der ich mich, anstatt mehrere abzuklappern, für eine Party entscheiden muss: Ullstein, Rowohlt oder Tropen. Osmotisch führt es uns schließlich zum Ort mit der größten Konzentration. Die Tropenparty gleicht wie immer einem Wimmelbild: die halbe Buchbranche auf kleinstem Raum zusammengepfercht. Weil kein Durchkommen ist, winkt man sich halt zu. Wenn man denn den Arm hochkriegt. Im letzten Jahr hielt ich bis vier durch, diesmal siegt, weil ich am nächsten Mittag auf der Messe aus Dezemberfieber lese, jedoch die Vernunft. Ein bisschen zumindest: Bis drei muss es dann doch wieder sein, die Musik ist einfach zu gut.

Freitag

Meine Stimme ist erwartungsgemäß angeschlagen, aber ich habe bei der Lesung am Stand schließlich ein Mikro. Und zwar für ganze drei Minuten. Nach dem Ausfall der Technik bleibt mir nichts anderes übrig, als aufzustehen und gegen den Messelärm anzulesen, bis ich heiser bin. Eine Szene zumindest, das müsste reichen. Tut es aber nicht: Ein älterer Herr bittet mich darum, doch noch ein bisschen weiterzulesen. Und weil der Kunde König ist, bilden wir mit dem verbleibenden Publikum, der Autorin Lucia Leidenfrost, Martin Kulik sowie Tina Thiele, einen Sitzkreis. Eine kleine intime Lesung mitten auf der Messe und nur wenige Meter von der Leseinsel der jungen Verlage entfernt – tatsächlich eine schöne Erfahrung.

Eine schöne Erfahrung verbindet mich auch mit Lucia, mit der ich anschließend eine Stunde in der Sonne plaudere. Obwohl wir ihre Erzählung Flugübungen (die es nun auch in ihr Debüt Mir ist die Zunge so schwer geschafft hat) bereits in ]trash[pool veröffentlicht hatten und sie und ich zeitgleich in Tübingen am Studio Literatur und Theater studierten, lernten wir uns erst auf dem Prosanova 2011 in Hildesheim kennen, zu dem ich ich damals als Finalist des Literaturwettbewerbs eingeladen war. Manchmal ist die Literaturwelt wirklich verblüffend klein. Das merke ich auch beim anschließenden kurzen Plausch mit Caterina Kirsten: Als der Agent Markus Michalek hinzustößt und ihr einen jungen Autoren empfiehlt, stellt sich schnell heraus, dass dieser auch einen Text für die kommende Ausgabe von ]trash[pool eingereicht hat. Um Literaturzeitschriften dreht es sich auch bei meinem nächsten Termin: Beim Kaffee tauschen Anneke Lubkowitz von Sachen mit Woertern und ich Hefte aus und sprechen über die notwenige Vernetzung junger Magazine. Und über Enten. Die im Übrigen viel interessanter sind, als ich dachte.

Beim Blogger-Empfang von Rowohlt gibt es dann viele bekannte Gesichter und Würstchen, beim Umtrunk am Stand von Voland & Quist dagegen Bier und Herrn Bieber. Herr Bieber ist vom Wachpersonal und nicht besonders glücklich darüber, dass in der Halle nach Messeschluss geraucht wird. Kaum biegt Herr Bieber am Gang ab, klicken wieder die Feuerzeuge. Aber Herr Bieber kommt wieder, und mit ihm das Gefühl, dass wir alle hier auf Klassenfahrt sind. Ein Gefühl, das auf der Party der jungen Verlage bis spät in die Nacht anhält, die ich hauptsächlich mit befreundeten Bloggern verbringe – allen voran Tobias Nazemi, Ilja Regier und Isabella Caldart (an diesem Abend mit der glockenklaren Stimme eines Tom Waits), mit denen ich das Ganze vor einigen Wochen schon beim Blog@bout von Ullstein fünf geübt habe. Meine Hausaufgaben habe ich anscheinend zu gut gemacht, gegen drei zwingt mich der Übereifer jedenfalls zum etwas plötzlichen Aufbruch.

Samstag

Letzter Messetag und bloß noch ein einziger Pflichttermin. Während ich im vergangenen Jahr den halben Tag bei der (großartigen!) Leipziger Autorenrunde verbrachte, um dort gemeinsam mit Nikola Richter und Katharina Gerhardt unsere Teamarbeit am E-Book Willkommen! Blogger schreiben für Flüchtlinge vorzustellen, gönne ich mir 2017 einen ruhigeren Messeausklang und komme erst zu Warum ich lese in die Hallen. Launig und souverän stellen Katharina Herrmann, Sophie Weigand und Sarah Reul auf der Leseinsel ihre Texte aus dem Band bei homunculus vor, anschließend trifft man sich zum Plaudern in der Bloggerlounge. Von den ersten nehme ich bereits Abschied, andere treffe ich noch mehrere Male wieder – im Falle von Katharina Herrmann allerdings stets mit Identifizierungsproblemen, was mal mit ihrer Kurzsichtigkeit, mal mit geistig-kognitiven Schwächen meinerseits zu tun hat. Zu meiner Verteidigung: Im Gegensatz zu ihr überrascht es mich zumindest nie, dass Menschen Nasen haben!

Am Abend schließlich der ruhige Ausklang: ein Essen mit der duotincta-Familie (ein richtiges sogar, mit Vitaminen und allem Pipapo – nach drei Tagen Messe eine Sensation!) und dann ab ins Bett. So zumindest der Plan. Und der ist durchaus vernünftig, immerhin sehe ich nach zwei durchfeierten Nächten und den durchgetakteten Messetagen längst aus wie Frodo am Fuße des Schicksalsbergs. Aber die Verlockung ist groß, ich muss auf dem Heimweg bei Sputnik Litpop vorbei. Alleine auf eine Party gehen? Eigentlich eine Schnapsidee. Aber es ist ja Messe. Und eine kleine Welt. Kaum drin, treffe ich gleich auf die ersten bekannten Gesichter – erfreulicherweise dann auch noch jene, die ich bislang verpasst habe. Beim Konzert der Mighty Oaks kann ich allerdings kaum noch stehen. Vor der Tür verquatsche ich mich auf ein Bier und gefühlt siebzehn Zigaretten mit Leander Wattig, bevor ich den Abend alleine und ganz entspannt ausklingen lasse: im vibrierenden Polstersessel vor der Tanzfläche. In der Hand ein Bier, im Kopf die Eindrücke von drei anstrengenden, aber ganz und gar großartigen Tagen.

Ach so, Bücher gab es in Leipzig natürlich auch. Aber das, was eine Buchmesse so besonders macht, sind in Wahrheit die Menschen, die sie lieben. Und obwohl es mir an vielem fehlte – Schlaf, gesundem Essen, Pausen – reise ich zwar entschieden ärmer, aber sehr bereichert aus Leipzig wieder ab. Und freue mich schon jetzt auf Frankfurt.


Hier entlang zu meinem Bericht über die Leipziger Buchmesse 2016, in dem ich mir Gedanken zur Rolle von Blogs in einer sich wandelnden Literaturbranche mache. Weitere Berichte zur #lbm17 sind u.a. bei Schöne Seiten, Pinkfish, Sounds & Books, lustauflesen.de & Fräulein Julia erschienen.

6 Kommentare

  1. Wunderbarer Text! Und über folgenden Satz musste ich schmunzeln: »gegen drei zwingt mich der Übereifer jedenfalls zum etwas plötzlichen Aufbruch«. Ich hatte mich schon gewundert, wohin du auf einmal verschwunden warst. 😉 Schön war’s, dich wiederzusehen!

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