Menschen sind so. Über „Das Floß der Medusa“ von Franzobel

floß der medusaEin Schiffbruch zwischen Afrika und Europa – inzwischen ist das ja kaum noch eine Meldung wert. Fast täglich sterben Menschen auf dem Mittelmeer, ertrinken Frauen, Kinder, Männer bei der verzweifelten Flucht vor Elend und Krieg. Wir haben uns an die Bilder der Toten vor unseren Küsten längst gewöhnt und gelernt, wegzuschauen. Menschen sind so. Auch damals, im Sommer 1816, wollte zunächst niemand etwas vom Unglück der Medusa wissen. Zu ungeheuerlich und furchtbar waren die Ereignisse, die sich infolge des Schiffbruchs vor Afrika zugetragen hatten. Schließlich kam die Katastrophe der französischen Fregatte aber doch ans Licht – und wurde zum Skandal: aufgrund des unfähigen Kapitäns, der seine Position bloß einer treuen royalen Gesinnung verdankte und der, anstatt auf die Warnungen seiner Offiziere zu hören, lieber einem Hochstapler vertraute. Aufgrund der Rettungsboote, von denen es zu wenige gab und die dann nicht einmal voll besetzt waren. Vor allem aber aufgrund des Floßes, das eilig aus Schiffsteilen zusammengebaut worden war und zur grausamen Todesfalle für hundertsiebenundvierzig, vom Kapitän im Stich gelassene Menschen wurde. Nach fast zwei Wochen auf dem offenen Meer lebten nur noch fünfzehn von ihnen – und die waren in ihrer Not zu Kannibalen geworden.

Ein historischer Zerrspiegel aktueller Katastrophen…

Zweihundert Jahre später wirken die Ereignisse vor der westafrikanischen Küste wie ein Zerrspiegel der aktuellen humanitären Katastrophe auf dem Mittelmeer. Die Toten der Medusa waren keine Flüchtlinge, sondern französische Kolonisten auf dem Weg nach Senegal, darunter der zukünftige Gouverneur sowie Dutzende Soldaten zur Aufrechterhaltung der dortigen Machtverhältnisse. Die Hierarchie blieb auch in der Katastrophe bestehen, auf dem Floß wurden hauptsächlich Soldaten und Seeleute zurückgelassen. Was damals für politischen Zündstoff sorgte – mit der Restauration war gerade erst die alte Ordnung nach der französischen Revolution wiederhergestellt worden – hat als menschliche Tragödie bis heute nichts an Aktualität eingebüßt. Der Vorfall inspirierte deshalb nicht nur zu dem berühmten Gemälde aus dem Jahr 1819, das heute im Louvre hängt, sondern auch zu einer zeitgemäßen Interpretation von Streetart-Künstler Banksy.

…und ein Abenteuerroman

Andere Autoren hätten aus diesem Stoff einen schweren, einen düsteren und belehrenden Roman gemacht. Nicht so der Österreicher mit dem ungewöhnlichen Künstlernamen Franzobel: Das Floß der Medusa kommt ohne erhobene Zeigefinger aus – mit Ausnahme vielleicht jener, die von ausgehungerten Figuren abgenagt werden. Denn trotz genauer Recherche überzeugt Franzobel vor allem als Fabulierer, dem es gelingt, eine grausame Geschichte über das, was Menschen bereit sind, für ihr Überleben zu tun, überraschend unterhaltsam zu erzählen. Tatsächlich liest sich Das Floß der Medusa über weite Strecken wie ein Abenteuerroman, der zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises steht. Mit beinahe spöttischem Humor folgt Franzobel dem Schicksal der Schiffbrüchigen und entwirft dabei Figuren, die mal an einen Dickens-Roman, mal an Fluch der Karibik, mal an politische Satire erinnern. Ein cleveres Vorgehen: Ohne Überzeichnung und Komik wären die Ereignisse auf dem Floß vermutlich nur schwer zu ertragen. So ist Franzobel jedoch ein echter Pageturner gelungen, der bestens unterhält, die Frage nach dem Preis von Menschlichkeit im Angesicht des Todes aber dennoch in aller Ernsthaftigkeit stellt. Anders als bei Wassermusik von T.C. Boyle – der Roman, an den ich mich beim Lesen am meisten erinnert fühlte – hat sich Franzobel bei Das Floß der Medusa weitestgehend an den realen historischen Ereignissen orientiert. Die Wikipedia-Recherche gleich nach der Lektüre lässt den Roman deshalb umso stärker nachwirken. An manchen Stellen liest er sich vielleicht wie eine grausame Farce, im Kern ist er jedoch wahr: Menschen sind so – und zwar damals wie heute.

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Franzobel: Das Floß der Medusa. Erschienen bei Zsolnay, 592 Seiten. Der echte Erfahrungsbericht von den Überlebenden Savigny und Corréard erscheint übrigens demnächst in einer Neuauflage bei Matthes & Seitz.

10 Kommentare

  1. Hallo Frank,

    dieses Buch war von der Longlist eines der wenigsten, welches mich allein durch die Leseprobe überzeugen konnte und auch mein einziger richtiger Tipp für die Shortlist war. Nach deiner Besprechung werde ich es wohl wirklich lesen. Bin gespannt darauf, denn solche Stoffe mit einem Augenzwinkern zu präsentieren ist keine leichte Aufgabe.

    Gruß
    Marc

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    1. Hallo Marc,

      mich hat es auch sehr überrascht, wie leicht und verspielt das Buch dank seines Erzählers ist – zwar werden die Ereignisse nicht beschönigt oder ins Lächerliche gezogen, trotzdem schafft die Erzählstimme oft eine Art süffisanter Distanz zum Geschehen. Ich wünsche dir viel Vergnügen beim Lesen!

      Beste Grüße
      Frank

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  2. Über das Floß der Medusa bin ich das erste Mal in Christopher Eckers „Der Bahnhof von Plön“ gestolpert. Im Wesentlichen dient es auch da als düsteres, abschreckendes Bild für „Menschen sind so“. Davon war ich erstmal so abgeschreckt, dass ich bisher Franzobels Roman nicht gelesen habe, obwohl er wirklich sehr interessant klingt.
    Bei weitergehendem Interesse gibt es übrigens eine Doku, die vor einiger Zeit auf arte lief und in der gezeigt wird, wie das Floß der Medusa rekonstruiert und nachgebaut wird. Ich fand es sehr interessant, weil ich mir das Floß völlig anders vorgestellt hatte.

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    1. Dank dir für den Tipp mit der Doku, das klingt sehr interessant! Ich finde es auch schwer, mir das Konstrukt vorzustellen, zumal es (laut Buch) aufgrund des Gewichts seiner Passagiere zumeist unter Wasser stand – anfangs sogar bis zu deren Hüfte. Bislang kannte ich nur die Abbildungen, vor allem die neue Interpretation von Banksy hatte ich noch gut in Erinnerung; umso überraschter war ich, als ich durch das Buch überhaupt erst von dem historischen Hintergrund erfuhr.

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      1. Dass alle eigentlich permanent im Wasser standen, fand ich auch erschreckend. Bei dem Nachbau stand sofort Wasser auf dem Floß, als es zu Wasser gelassen wurde. Auch als nur ein einziger Mensch drauf war, stand der, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, schon bis zu den Knöcheln im Wasser.

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