Die kleinen Leute. Über „Cold Spring Harbor“ von Richard Yates

Cold Spring Harbor von Richard Yates

Es gibt sie ja, diese One Trick Ponys in der Literatur: Während sich andere Autoren mit jedem Buch neu erfinden, drehen sich ihre Geschichten stets um dieselben Themen, leiten sich ihre Figuren stets als Variationen aus der eigenen Biographie ab. Egal, welche Bücher man von diesen Autoren aufschlägt, man fühlt sich in ihnen gleich zuhause. Im „Zuhause“ von Richard Yates begegnen wir immer wieder aufs Neue der Hölle des vielzitierten Anna-Karenina-Prinzips: Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.

Ein Chronist gescheiterter Lebensentwürfe – so nannte Birgit Böllinger ihre Rezension zu „Cold Spring Harbor“ auf Sätze & Schätze; treffender kann man das Lebenswerk von Richard Yates nicht zusammenfassen. All seinen Figuren gemein ist das Scheitern an der eigenen Hybris. Sie alle wollen ausbrechen: aus ihrem festgefahrenen Leben und einengenden Beziehungen, aus ihren vorgesehenen Rollen und den Grenzen kleinbürgerlicher Existenz. Sie erwarten mehr vom Leben als das, was ihnen in die Wiege gelegt wurde, fordern ein, was ihnen der Amerikanische Traum einst versprach. Doch keiner von ihnen kann aus seiner Haut: Immer sind es mangelnde Einsicht, Hochmut und die Unfähigkeit zur Selbstreflexion, die sie – mitunter leichtfertig – falsche Entscheidungen treffen lassen und ihre Ambitionen zu Fall bringen. Richard Yates seziert das Scheitern seiner Figuren mit geradezu spöttischer Nüchternheit. Er hat kein Erbarmen, kein Mitleid mit seinen Figuren – schließlich macht er sich vor allem selbst zur Zielscheibe seines Spotts. In seinen Augen ist er einer von ihnen: ein Verlierer.

Verlierer des Amerikanischen Traums

Obwohl ihn inzwischen viele Autoren der amerikanischen Gegenwartsliteratur als Vorbild nennen, blieb Yates der Erfolg zu Lebzeiten verwehrt. Im Scheitern seiner Figuren verhandelte er stets auch sein eigenes: Seine Erzählungen und Romane sind bevölkert von überambitionierten Künstlern und labilen Alkoholikern, deren Zusammenbrüche und Aufenthalte in geschlossenen Psychiatrien seinen eigenen Niedergang spiegeln. Besonders darum gelang ihm die Charakterisierung seiner Protagonisten so glaubwürdig und emphatisch wie nur wenigen anderen; Yates Figuren wirken vor allem deshalb wie aus dem Leben gegriffen, weil sie es sind.

Das gilt auch für die Figuren von „Cold Spring Harbor“, dem letzten Roman, den Richard Yates 1986 fertigstellen konnte. Im Zentrum des Romans stehen zwei Familien, deren Schicksal sich erst dank eines Zufalls, dann aufgrund kurzsichtiger und leichtfertiger Entscheidungen miteinander verknüpft. Charles Shepard, ein zwangsverrenteter Berufssoldat, der es im Militär aus gesundheitlichen Gründen nur zu wenig gebracht hat, lebt gemeinsam mit seiner psychisch kranken Frau und ihrem Sohn Evan in Cold Spring Harbor. Seine Hoffnung, dass zumindest Taugenichts Evan – der nach einer rüpelhaften Jugend gerade noch rechtzeitig die Kurve gekriegt hat – etwas aus seinem Leben machen würde, zerschlägt sich jedoch, als dieser mit Zufallsbekanntschaft Rachel Drake bereits nach kürzester Zeit seine zweite Ehe eingeht. Anstatt wie geplant auf ein Maschinenbaustudium zu sparen, schafft sich Evan ein Gefängnis aus wirtschaftlichen Zwängen und familiären Verbindlichkeiten: Weil Rachel schwanger wird, ziehen sie gemeinsam mit ihrer neurotischen und anstrengenden Mutter Gloria und ihrem Bruder, einem pubertären Spätzünder, in ein marodes Haus in der Nachbarschaft. Die Enge erstickt die noch junge Liebe von Evan zu Rachel schnell im Keim, und auch die harmonische Fassade der Drakes offenbart bald Risse, die sich, sind sie erst einmal entdeckt, fortan nicht mehr ignorieren lassen. Alle hoffen insgeheim, dass ihnen ein anderer ein neues Leben ermöglicht. Charles wünscht sich, dass Evan an seiner statt Karriere beim Militär macht. In ihrer Schwärmerei für Charles sehnt sich die einsame Gloria nach gesellschaftlichem Aufstieg und Gesellschaft. Als Rachel klar wird, dass ihr Ehemann nicht ihren Anspruch auf Glück erfüllen kann, projiziert sie alle Hoffnungen auf das gemeinsame Kind. Und Evan bricht schließlich aus seinem selbstgeschaffenen Gefängnis aus, indem er sich auf die Vergangenheit besinnt: Er bändelt wieder mit seiner Exfrau und ihrer gemeinsamen Tochter an und beweist mit einem Rückfall in alte Verhaltensmuster, dass er nie ein anderer sein wird als der, der er einmal war.

Ein klassischer Yates – nur noch resignierter

In seiner Anlage ist „Cold Spring Harbor“ ein klassischer Yates. Doch im Gegensatz zu den meisten seiner Romane sind die Ambitionen der Figuren diesmal kleiner. Die Wheelers in „Zeiten des Aufruhrs“ wollen etwas Besonderes sein. Sie scheitern an diffusen und naiven Vorstellungen von einem alternativen Leben und der Unfähigkeit, ihre Lebenslügen zu hinterfragen. Bei den Davenports in „Eine strahlende Zukunft“ sind es abermals zu große Ambitionen und eine verzerrte Selbstwahrnehmung, die zwangsläufig zum Scheitern führen. Und dass John Wilders Hoffnung in „Ruhestörung“, Karriere als Filmproduzent zu machen, geradewegs in die Selbstzerstörung führt, deutet sich bereits auf den ersten Seiten des Buches an.

Wenn Richard Yates die hochtrabenden Ambitionen seiner Protagonisten verspottete, rechnete er stets auch mit seiner eigenen Hybris ab, war er doch selbst bloß ein erfolgloser Schriftsteller. In „Cold Spring Harbor“ scheitern die Figuren jedoch bereits am einfachen Traum von einem besseren Leben, und das macht seinen letzten Roman umso grausamer. Angesichts seiner Biographie ist diese Resignation wenig überraschend: Auch abseits der Literatur war ihm ein gelungenes Leben nicht vergönnt. Dass Richard Yates nun posthum (und zurecht) als einer wichtigsten und besten amerikanischen Autoren seiner Zeit gilt, ist bitter. Aber es wäre eine Pointe ganz nach seinem Geschmack.


Erschienen bei DVA in einer Übersetzung von Thomas Gunkel, 240 S., 19,99 €.  Weitere, sehr gelungene Rezensionen zu „Cold Spring Harbor“ gibt es auf Sätze & Schätze und Zeichen und Zeiten.

8 Kommentare

  1. Wow, erst einmal ein dickes Danke sehr für den Hinweis auf meinen Beitrag und das Zitat – das freut mich sehr! Aber vor allem danke für diese runde, umfassende und treffende Besprechung – toll zu lesen. Ja, in „Cold Spring Harbour“ geht Yates tatsächlich mit noch mehr „spöttischer Nüchternheit“, wie Du schreibst, mit seinen Figuren um, noch desillusionierter. Ich kriege Lust, gleich wieder in einen Yates-Roman abzutauchen.
    Aber – ich habe gerade das weibliche Pendant zu Yates entdeckt: Lucia Berlin. Auch sie kreist in ihren Geschichten um die eigene Biographie, schreibt von Lebensversagen, Alkoholismus, gescheiterten Ehen und Illusionen. Ich denke, Dir könnte diese Autorin auch sehr zusagen – Lucia Berlin, ihre Erzählungen nun erschienen im Arche Verlag.
    Und nochmals: Danke!
    LG Birgit

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    1. Ich danke dir, liebe Birgit! Nach der Lektüre der gelungenen Rezensionen von dir und Constanze hatte ich ein bisschen Angst, dem nichts mehr hinzufügen zu können – umso schöner, dass es mir in deinen Augen offenbar gelungen ist. Danke auch für den Tipp, da schaue ich auf jeden Fall mal hinein!

      LG, Frank

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  2. Vielen, vielen Dank für die Verlinkung. Dein Beitrag ist hervorragend, er schaut hinter das Werk, bringt Roman, Autor und das alles verbindende Thema von Yates zusammen und auf den Punkt, so dass man wirklich neugierig wird und viel daraus erfährt. Ich finde gerade die vergangenen Jahre sehr spannend, in denen immer wieder Autoren – vor allem aus Amerika – entdeckt wurden, die vergessen waren oder nie zu Lebzeiten den Ruhm ernten konnten, den sie verdient haben. Ich bin sehr gespannt, was da noch folgen wird. Es wird also nicht langweilig. Viele Grüße

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  3. Obwohl ich Yates üblicherweise sehr gerne lese, war ich von seinem letzten Roman nicht so angetan, wenngleich ich es nicht ganz in Worte fassen kann…vielleicht war er mir doch etwas zu trübsinnig ;-D

    GlG Klara
    http://www.psychobuch.org

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