Monat: Januar 2018

Ausgeliefert. Über „Im Herzen der Gewalt“ von Édouard Louis

Édouard Louis - Im Herzen der GewaltÉdouard hat es geschafft. Noch ist er zwar nicht der große Starautor mit dem gefeierten Debüt, aber das verhasste Leben in der französischen Provinz, über das er in Das Ende von Eddy schrieb, hat er endlich hinter sich gelassen. Er ist weg aus der Kleinstadt, in der man ihn so viele Jahre aufgrund seiner Homosexualität erniedrigte, weg von der Familie, die sein Wesen eher duldete und deckte, als es zu akzeptieren. In Paris kann Édouard er selbst sein, kann ein offenes Leben als Schwuler führen, als Intellektueller und Bohème. Den Kontakt zu seiner Familie hat er weitestgehend abgebrochen, stattdessen verbringt er seinen Heiligabend lieber mit Freunden. Es ist ein weinseliger Abend mit guten Gesprächen, man schenkt einander Bücher und ständig nach; als Édouard spät nachts alleine nach Hause geht, ist er angetrunken und müde, trotzdem lässt er sich auf der Straße von einem jungen Franzosen mit algerischen Wurzeln in ein Gespräch verwickeln und nimmt ihn nach anfänglichem Zögern mit in seine Wohnung. Ein harmloser Flirt mit brutalen Konsequenzen: Die Nacht mit Reda ist zunächst von Zärtlichkeit und Leidenschaft, in den intimen Gesprächen sogar von echter Nähe geprägt. Als Édouard seinen Gast jedoch beim Klauen erwischt, eskaliert die Situation plötzlich. Überfordert von der Situation erwürgt ihn Reda beinahe, schließlich zückt er eine Waffe und vergewaltigt ihn brutal.

Diese Nacht hat Édouard Louis wirklich erlebt. Sein zweiter Roman Im Herzen der Gewalt ist die autobiografische Aufarbeitung von endlosen Stunden in Todesangst, die intime Auseinandersetzung mit einem Trauma, das ihn noch lange über diese eine Nacht hinaus gefangen hielt. Der Roman ist zugleich aber auch eine Reflexion über die vielen unsichtbaren Formen von Gewalt und ihren Folgen.

Eine Reflexion über die Formen von Gewalt

Gewalt bedeutet für Édouard Louis Fremdbestimmung und Zwang, bedeutet das Gefangensein in einer Situation, aus der man nicht entkommen kann. Auch nachdem Reda längst aus seiner Wohnung verschwunden ist, bleibt Édouard den Folgen dieser Nacht ausgeliefert. Nicht nur, dass er ständig über sie reden, dass er sich und anderen wieder und wieder das Erlebte vor Augen führen muss. Nicht nur, dass er psychisch die Hölle durchmacht, er sich und seine Wohnung geradezu zwanghaft von Reda zu reinigen versucht. Édouard ist auch gezwungen zur nebenwirkungsreichen Aidsprophylaxe, gezwungen zu Aussagen gegenüber gleich mehreren Polizeidienststellen, gezwungen zu Besuchen bei Psychologen und Ärzten mit demütigenden Untersuchungen. Das Gefühl, einer fremden Gewalt ausgeliefert zu sein, reißt für Édouard einfach nicht ab. Selbst die eigenen Gedanken entziehen sich seiner Kontrolle: Auf einmal zwingen sich ihm genau jene rassistischen Vorurteile auf, die er früher stets verachtete.

Irgendwann zieht Édouard die Reißleine. Er muss ausbrechen aus seinem zehrenden Gedankenkarussell und endlich Abstand von jener Nacht gewinnen. Also kehrt er ausgerechnet dorthin zurück, von wo er einst geflohen ist, und besucht seine Schwester in der Provinz. Im Roman lässt er sie große Teile der Ereignisse in einem belauschten Gespräch mit ihrem Mann rekapitulieren – ein erzählerischer Kniff, der es ihm erlaubt, mit seiner persönlichen Perspektive zu brechen und sich selbst in Frage zu stellen. Die erneute Konfrontation mit seiner Vergangenheit führt aber auch zu einer Auseinandersetzung mit den vielen unsichtbaren Formen von Gewalt und deren Folgen. Opfer von Gewalt ist für Édouard Louis auch, wer in einem Dorf lebt, in dem einen jeder hasst. Wer – wie seine Mutter – finanziell gezwungen ist, Menschen zu pflegen, die ihre Scheiße an Gardinen schmieren. Oder wer wie Reda tagtäglich Vorurteilen ausgesetzt ist und nie eine Chance auf ein anderes Leben hatte. Deshalb hat Édouard Verständnis für Reda, obwohl er ihn fürchtet. Auch er war in jener Nacht bloß gefangen in seinen Mustern und seiner Angst.

Entsetzen und Empathie

Im Herzen der Gewalt ist ein ehrliches, ein dringliches Buch, das dank Édouard Louis’ dichter Sprache einen starken Sog entwickelt, obwohl der Plot bloß um diese eine Nacht und deren Folgen kreist. Der Roman ist gleichermaßen von Empathie als auch von tief empfundenem Entsetzen geprägt: Man spürt in jeder Zeile das Trauma und die Angst, trotzdem macht es sich Édouard Louis nicht so leicht, seinen Peiniger einfach bloß zu verurteilen. Es wäre verlockend einfach, die Welt in schwarz und weiß, gut und böse, richtiges und falsches Leben aufzuteilen – aber genau diese Ignoranz ist es, die Louis’ mit seiner Flucht aus der Kleinstadt einst hinter sich lassen wollte. Mit seinem Roman über jene traumatische Nacht hat er sich aus der Ohnmacht befreit und die Rollen zwischen Reda und sich vertauscht: Als Romanfigur ist der echte Reda ihm und seiner Erzählung ausgeliefert, praktisch also in seiner Gewalt. Louis hätte ihn zum Psychopathen, zum Schwerverbrecher, zum Musterbeispiel für die Warnungen von Le Pen & Co stilisieren können. Stattdessen hat er sich für Empathie entschieden. Und für echte Größe.


Édouard Louis: Im Herzen der Gewalt. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Erschienen bei S. Fischer, 224 S.

Mad Men: „Alles über Heather“ von Matthew Weiner

Matthew Weiner - alles über heatherUnd schon wieder ist es passiert: Der Buchmarkt ist tot. Diesmal wirklich. Also so richtig. Schuld sind all diese neuen herausragenden Serien, die ja eigentlich den guten alten Roman zum Vorbild haben, schuld sind Netflix und all die Bingewatcher da draußen, die weder Lust auf die hundertsiebenundachtzigste Marvelverfilmung noch auf den nächsten zielgruppenformatierten Krimischmöker mit bereits von elf anderen Verlagen erprobtem Coverdesign haben. Vielleicht wollte Matthew Weiner also lieber noch schnell ein Buch schreiben, solange es noch welche gibt. Vielleicht ist er aber auch einer dieser Visionäre, die wissen, wann man antizyklisch denken muss, und hat den nächsten großen Hype – das Comeback des totgesagten Buchs – zur rechten Zeit antizipiert. Vielleicht, ganz vielleicht hat Matthew Weiner aber auch einfach nur eine gute Geschichte erzählen wollen und dafür das Medium gewählt, das für sie am besten geeignet war. Soll es ja geben.

Matthew Weiner, das sollte man wissen, ist nämlich eigentlich Serienautor. Unter anderem schrieb er an der Mutter aller modernen Serien, The Sopranos, mit. Vor allem aber war Weiner Schöpfer und Showrunner von Mad Men, einer sieben Staffeln langen und mit Preisen überhäuften Serie über eine Werbeagentur in den Sechzigern, die tatsächlich zum Besten zählt, was das Fernsehen in den letzten zwanzig Jahren hervorgebracht hat. Nach dem Ende von Mad Men hat sich Weiner jedoch keine neue Serie ausgedacht. Sondern einen Roman geschrieben. Seinen ersten.

Alle lieben Heather

Die Geschichte von Alles über Heather ist schnell erzählt. Mark und Karen Breakstone führen eigentlich ein gutes Leben, glücklich sind sie aber deshalb noch lange nicht – ein klassischer Tolstoi-Topos also. Mark Breakstone ist kein Don Draper, noch nicht einmal ein Pete Campbell. Zwar hat er es zu einigem Wohlstand gebracht, dennoch ist er so unscheinbar, dass er bei Beförderungen stets übergangen wird. Immer sind andere charismatischer, besser vernetzt, erfolgreicher als er. Seine Frau Karen hat ihre ohnehin kaum aussichtsreiche Karriere dagegen der Familienplanung geopfert – und damit dem einzig Guten, das ihrer Ehe entsprungen ist: ihrer in allen Belangen perfekten Tochter Heather. Fortan ist Heather der Mittelpunkt in Karens Leben. Sie pflegt weder Freundschaften noch ihre Ehe mit Mark, kümmert sich einzig und allein um das Wohlergehen ihrer Tochter. Umso schlimmer ist es deshalb für sie, als Heather zum Teenager heranreift und beginnt, sich von ihrer überfürsorglichen Mutter abzunabeln und stattdessen ihrem Vater zuzuwenden.

Heather ist Fixpunkt und Projektionsfläche für alle Figuren des Romans. Jeder sieht in ihr dasjenige, was seinem Leben fehlt. Heather ist es, die die Leere in Karens Leben füllen soll. Mark empfindet Heather nach Jahren in einer lieblosen Ehe dagegen als einzigen emotionalen Anker in der Familie. Und für den Bauarbeiter Bobby, der die Fassade ihres Hauses renoviert und der vierzehnjährigen Bewohnerin immer wieder verstohlene Blicke zuwirft, ist Heather vor allem eines: das perfekte, erhabene Opfer.

Bobby Klasky ist die dritte Hauptfigur des Romans, ein ewiger Verlierer, der nie, noch nicht einmal von seiner heroinabhängigen Mutter geliebt wurde. Sein Leben war stets von Rückschlägen, Sucht und Gewalt bestimmt – und doch sehnt er sich nach etwas Größerem, etwas, das ihn endlich ganz macht. Genau das glaubt er in Heather gefunden zu haben, genauer gesagt: in ihrem Tod. Mark registriert jedoch die Blicke, mit denen Bobby seine Tochter fixiert. Er wird nicht nur misstrauisch, sondern geradezu krank vor Sorge um das einzig Wertvolle, das er noch in seinem Leben hat. Für ihn besteht kein Zweifel: Er muss handeln, ehe es zu spät ist. Und so ist es die Liebe zu Heather, die beide Männer bis zum Äußersten treibt…

In den Fußstapfen von Cheever und Yates

Mad Men: Zumindest zum Titel von Matthew Weiners größtem Erfolg schließt sich hier der Kreis. Aber auch sonst gibt es durchaus Parallelen. Schon die Serie erinnerte oft an die Romane von Richard Yates oder John Cheever. Die Zeit der Handlung und das allgemeine Setting, die genau beobachteten, erbarmungslos sezierten Figuren und ihr Scheitern an sich selbst, auch die Gesellschaftskritik im Kleinen – all das weckte beim Schauen oft Erinnerungen an die literarischen Vorbilder. Alles über Heather ist zwar in der Gegenwart verankert, ansonsten aber ein im guten Sinne altmodischer Roman, der keinen Hehl aus seinen Inspirationsquellen macht. Die Beziehung zwischen Mark und Karen hätte trotz dezenter Verweise auf moderne Technik genauso von Yates beschrieben worden sein können, die Grundspannung erinnert nicht selten an Cheevers Die Lichter von Bullet Park (das erst kürzlich sehr schön bei Novellieren besprochen wurde).

Natürlich ist es wahr, was sie sagen: Die herausragenden Serien der letzten Jahre haben mehr mit Literatur zu tun als mit Kino, speisen sich aus denselben Vorbildern, Erzähltraditionen und Zitaten. Und genau deshalb sprechen sie auch dieselben Menschen an. Aber letzten Endes sollte es nicht um das Für und Wider von Serien oder Romanen gehen. Sondern darum, ob jemand eine gute Geschichte erzählen kann. Matthew Weiner jedenfalls kann es, egal in welchem Medium.


Matthew Weiner: Alles über Heather. Aus dem Amerikanischen von Bernhard Robben. Erschienen bei Rowohlt, 144 Seiten.