Monat: Juni 2015

E-Book-Singles: Kleine Texte mit großem Spielraum (1/2)

single3 Vor einem halben Jahr habe ich in einem Artikel über den Zustand der Verlagswelt bereits angerissen, dass ich E-Book-Singles derzeit für die interessanteste und innovativste Idee des Buchmarkts halte: kleine Texte mit großem Spielraum, die nur wenig kosten und wie gemacht fürs digitale Lesen sind. Anscheinend habe ich ein Faible für Underdogs, ein typischer deutscher Leser scheine ich jedenfalls nicht zu sein. Denn der interessiere sich nicht für das neue Textformat, stellte Die Welt jüngst in ihrem Feuilleton fest. Hiesige Käufer von E-Books „unterscheiden sich in ihren Vorlieben nicht wesentlich von den Käufern gedruckter Bücher. Sie wollen dicke Romane, Genreliteratur, Krimis, Thriller, Romantik, Sex. Und sie möchten auch auf dem Lesegerät keine unbekannten Autoren entdecken, sondern bleiben bei dem, was sie kennen“, schreibt Konstantin Richter. Auch Johannes Haupt, Betreiber von lesen.net, kommt aufgrund ihrer niedrigen Verkaufszahlen zu einem harschen Urteil über E-Book-Singles und bezeichnet sie gegenüber Deutschlandradio Kultur als Flop. Bei den Hanser Literaturverlagen, wo mit Hanser Box eine der prominentesten Single-Reihen publiziert wird, sieht man das anders. Als Reaktion auf den Welt-Artikel twitterte Verlagslektor Florian Kessler: Bildschirmfoto 2015-06-18 um 11.39.15 Meines Erachtens vertritt Kessler hier genau den richtigen Ansatz: Momentan sollten die kurzen E-Books nicht an den Maßstäben von Bestsellern, sondern nur an ihrem eigenen Potenzial gemessen werden. Ein neues Format braucht Zeit, um sich zu entwickeln und zu finden. Zunächst einmal müssen Grenzen ausgelotet, Möglichkeiten erkundet werden – und zwar sowohl seitens der Autoren als auch seitens der Leser. Das Format bietet Texten eine Chance, die andernfalls womöglich nie veröffentlicht würden: Manche literarischen Texte sind zu kurz oder speziell, um kostendeckend gedruckt zu werden, manche Essays oder Reportagen zu lang, um in Magazinen oder Zeitungen zu erscheinen. Nicht zuletzt entstehen inzwischen immer öfter Texte, die digitale Literatur als eigene Gattung begreifen und in Printform zwar möglich, aber unsinnig wären. Im Frohmann Verlag werden mitunter Tweets zu einem Buch zusammengefasst oder regelrechte MAXI-Singles wie das Mammutprojekt 1000 Tode schreiben veröffentlicht, bei Mikrotext können gesammelte Statusmeldungen aus Facebook den syrischen Bürgerkrieg reflektieren oder Chatprotokolle eine dramatische Flucht ins politische Asyl illustrieren.

Alles geht, nichts muss

Manche Texte funktionieren für das Format vielleicht besser als andere, aber ohne den wirtschaftlichen Zwang zum Erfolg sind die kostengünstig zu produzierenden E-Books eine erfrischende Abwechslung zu den oft ermüdend gleichförmigen, durchkalkulierten Programmen der Publikumsverlage. Ohne größeres Risiko können Autoren aus dem engen Markenkorsett, in das Agenten und Verlage sie zuweilen zwängen, ausbrechen und herumexperimentieren, sich ausprobieren. Kurzgeschichten, für die es in Deutschland noch nie einen nennenswerten Markt gegeben hat, finden eine Plattform außerhalb unverkäuflicher Erzählbände. Reportagen und Essays, denen es auf Seite drei der Süddeutschen zu eng ist, dürfen sich nun auch auf dreißig ausbreiten. Leser, die sich ihre Neugierde bewahrt haben, können sich von Texten wieder öfter überraschen lassen und neue Autoren entdecken. Das alles ist, was Florian Kessler meinte, als er davon sprach, dass E-Book-Singles vor allem eine Erweiterung seien.

Soviel zur schönen Theorie. (mehr …)

Vom Glück in Zeiten des Krieges. Ein besonderer Schatz aus einem Nachlass (1/3)

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Eine Großmutter, die ihrer Enkelin kurz vor ihrem Tod ein Jahrzehnte altes Geheimnis anvertraut. Eine versteckte Schachtel mit Erinnerungen an die erste große Liebe. Eine tragische und rührende Geschichte vom kurzen Glück in Zeiten des Krieges. Zugegeben: Das klingt wie der Pitch einer so sentimentalen wie sedierenden Mittwochabendschnulze im Öffentlich Rechtlichen, Taschentuchgarantie inklusive. Oder nach einem Roman, den ich auf meinem Blog ganz sicher nicht besprechen würde. Aber manchmal stimmt es eben doch: Das Leben schreibt die besten Geschichten.

Die Großmutter mit der geheimnisvollen Schachtel gab es wirklich, und ihre Enkelin – eine gute Freundin von mir – hat mir die Erlaubnis gegeben, diesen so wertvollen Schatz aus ihrem Nachlass in meinem Blog vorzustellen. Die Briefe, Tagebücher, Zeichnungen und Fotos, die ihre Großmutter so viele Jahrzehnte in dieser Schachtel aufbewahrt hat, sind vor allem deshalb etwas Besonderes, weil sie eine Geschichte erzählen, die ohne weitere Erklärungen auskommt – sie ist so rund und abgeschlossen wie die Handlung eines Romans.

Es war während eines Gesprächs über die Liebe, als die damals bereits verwitwete Großmutter meiner Freundin – nennen wir sie fortan Maria – plötzlich die Schachtel hervorholte und ihr zeigte, was sonst vielleicht noch nie jemand zu Gesicht bekommen hatte: Ihre Erinnerungen an ein kurzes, aber umso intensiveres Glück im Frühling des Jahres 1941. Erinnerungen an einen Mann, den Maria so lange lieben durfte, bis das Schicksal sie trennte. Einen Mann, den sie auch nach über sechzig – zumeist glücklichen – Ehejahren mit einem anderen nie vergessen hatte.

Die meisten Menschen verpassen die wertvolle Chance, ihren Großeltern eines Tages auf Augenhöhe zu begegnen. Es ist eine Sache, zu begreifen, dass sie einmal genauso waren wie man selbst. Dass ihr Leben einst aus mehr bestanden hat als aus Kaffeekränzchen und Gartenarbeit, ihr Herz einst für mehr geschlagen hat als für das allabendliche, weichgezeichnete Lächeln ihrer Schlageridole. Dass sie einmal leidenschaftlich waren, jung und naiv. Eine ganz andere Sache ist es jedoch, wenn sich die eigene Oma plötzlich in Rose aus Titanic verwandelt.

Denn: Diesen Jack gab es wirklich. Sein Name war Herbert. Alles, was von ihm und ihrer gemeinsamen Liebe geblieben ist, hat Maria in dieser kleinen Schachtel aufbewahrt. Ihr Kernstück: ein gebundenes Buch, in dem Herbert – ein guter Erzähler mit viel Liebe zum Detail – die wenigen Wochen, die sie gemeinsam verbringen durften, Tag für Tag mit rührend viel Aufwand rekapituliert. Das Buch erzählt eine bewegende Geschichte von kurzem, unschuldigem Glück in Zeiten des Krieges; es ist überdies die vielleicht einzige Erinnerung an einen Menschen, der durch die Zeit gefallen, dem Vergessen anheim gefallen ist. Und mit eben diesem Buch – bzw. großen Teilen davon – nimmt diese Geschichte auch ihren Anfang.  (mehr …)