Twitter

Was ist das für 1 Kritik vong Internet her? Joshua Groß, Lisa Krusche und Lars Weisbrod im Gespräch bei lesen.hören 13

IMG_5136Man muss nicht die Tweets von Menschen wie CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak verfolgen, um zu wissen, was falsch läuft in der Welt. Aber es hilft. Greta Thunberg findet deutschen Kohlekompromiss „absurd“ – Oh, man… kein Wort von Arbeitsplätzen, Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit. Nur pure Ideologie. Arme Greta! Das komplette neoliberale Weltbild in a nutshell – Hut ab. Das kann, das sollte man kritisieren. Genau wie die AfD, wie Trump, die Brexiteers, die skrupellosen Konzerne, die ausbeuterischen Startups oder all die anderen Endgegner, die unsere Gegenwart zu der moralischen Bankrotterklärung machen, die sie nun mal ist. Allein: Es bringt nichts. Das jedenfalls meinen die Macher der Anthologie Mindstate Malibu. Kritik ist auch nur eine Form von Eskapismus, die Texte von Autoren wie Clemens Setz und Leif Randt oder Twitter-Künstlern wie Kurt Prödel, Startup Claus und Dax Werner vereint – und zu dem Schluss kommt, „dass der Neoliberalismus die Ablehnung, die ihm entgegenschlägt, bereits mitdenkt und nur mit und aus sich selbst heraus geschlagen werden kann.“ Klingt nach schwerer Kost? Ist tatsächlich aber ebenso komisch wie klug.

„Hier entsteht eine Generation junger Künstler, die eine neue Sprache und neue Formen suchen, um die Gegenwart zu erfassen“, glaubt lesen.hören-Programmleiterin Insa Wilke. Deshalb lud sie den Mitherausgeber des Bandes, Joshua Groß, und die Autorin Lisa Krusche ein, um im Jungen Nationaltheater gemeinsam mit dem Twitter-affinen ZEIT-Redakteur Lars Weisbrod über das Phänomen hinter Mindstate Malibu zu sprechen. „Besonders bei Twitter haben wir es mit neuen Sprachcodes zu tun, einem Mix aus Anspielungen und Versatzstücken etwa aus der Business-Sprache“, erklärt Weisbrod zu Anfang. Wie das im Konkreten aussieht? Die Stichworte sind Überaffirmation, Rekontextualisierung, Power-Dada. Etwa, indem sich in Tweets Inhalte zu Eigen gemacht werden, die eigentlich abgelehnt werden. Aber in schlecht. „Neoliberale Strategien werden zugespitzt und durch die Übersteigerung gebrochen“, sagt Lisa Krusche, die in Hildesheim literarisches Schreiben und in Braunschweig Kunstgeschichte studiert. Ganz neu sei das Konzept natürlich nicht, subversive Affirmation und Kommunikationsguerilla habe es schließlich bereits in den 60ern gegeben – das Internet habe die Form allerdings stark verändert. Vor allem ist es dort lustiger: „Es ist ermüdend, immer nur zu kritisieren – es darf auch Spaß machen.“ 

„In den letzten Jahren war das Schlagwort der merkelschen Alternativlosigkeit prägend“, sagt Herausgeber Joshua Groß, der 2018 als Autor beim Bachmann-Preis las. „Aber man kann Gegenwart auf sprachlich-ästhetischer Ebene anders denken.“ Etwa, indem man den vermeintlich motivierenden Tweet eines ausbeuterischen Startup-Chefs eins zu eins kopiere, dabei aber Fehler einbaue: „Das zeigt, dass an der Message etwas nicht stimmt.“ Für Krusche ist eine solche Rekodierung auch eine Form des Empowermemts, als Beispiel nennt sie die Instagrammerin Signe Pierce, die Geschlechterklischees auf die Spitze treibt und auf diese Weise hinterfragt: „Durch eine Rekontextualisierung schaue ich anders auf die Dinge. Man muss bloß einen Bruch, einen Riss einbauen.“

Nur: Warum muss das alles so trashig sein wie etwa das Musikvideo von Twitter-Autor Kurt Prödel, den sogar Clemens Setz als Vorbild nennt? Ist das nichts weiter als ein postmodernes Spiel mit Ironie? „Natürlich ist das ironisch“, sagt Groß. Es sei zugleich aber auch Kunst: „Wir leben in einer Zeit, in der wir immer performen müssen, keinen Makel haben dürfen. Das ist ein Bruch damit.“

„Wir brauchen eine utopische Kritik“

Am Beispiel des Rappers Money Boy zeigt sich dagegen, dass das Spiel mit Überaffirmation auch zu weit gehen kann. Der harte und ziemlich dämliche Gangster-Rapper ist eine Kunstfigur, in Wahrheit hat Sebastian Meisinger nicht nur einen Uni-Abschluss, sondern sogar seine Diplomarbeit über Rap und dessen Auswirkungen auf Jugendliche geschrieben. Dass er mit seinen frauenverachtenden Texten nur bekannte Klischees aufgreift, ändere jedoch nichts an ihrer negativen Wirkung, findet Lisa Krusche. Auch Groß glaubt, dass sich Meisinger inzwischen nicht mehr von der Kunstfigur trennen lasse: „Das ist wie bei Udo Lindenberg miteinander verschmolzen.“ Bei aller ironischen Überaffirmation darf der Ernst also nicht nicht gänzlich auf der Strecke bleiben. Joshua Groß bringt das im Twitter-Duktus auf den Punkt: „Nur wenn durch alle Ironie-Layer ein struggle durchscheint, ist es ein guter Tweet.“

Mit alles verneinender Kritik ist es für ihn ohnehin nicht getan. „Was wir brauchen, ist eine utopische Kritik. Entscheidend ist die Frage, wie wir in dieser Welt leben wollen“, so Groß. In diese Kerbe schlägt auch das Manifest des Podcast-Duos Creamspeak aus Mindstate Malibu, das zwischen den Gesprächen von Johannes Bauer, einem Schauspieler vom Jungen Nationaltheater, mit Verve vorgetragen wird: Ein sehr komischer und kluger Text über die Götter, die wir uns ausdenken, weil wir glauben, sie zu brauchen. Als wir den biblischen „Schlechte-Laune-Influencer“ hinter uns ließen, ersetzten wir ihn durch neue Götter wie Prestige, Leistung, Geld, einen Master in BWL. Paul Ziemiak gefällt das. Bleibt eigentlich nur noch eine Frage: Tschuligom, was letzte preis?


Mindstate Malibu. Herausgegeben von Joshua Groß, Johannes Hertwig und Andy Kassier in Zusammenarbeit mit dem Institut für moderne Kunst Nürnberg. Erschienen bei Starfruit Publications, 320 Seiten. Zwei sehr lesenswerte Rezensionen zum Buch sind in der Süddeutschen und der ZEIT erschienen.

E-Book-Singles: Kleine Texte mit großem Spielraum (2/2)

single4

Ich muss zugeben: Die große Resonanz auf den ersten Teil meines Artikels hat mich überrascht. Virale Phänomene kannte ich persönlich bislang nur aus der KiTa-Eingewöhnung meiner Tochter, entsprechend erstaunt war ich darüber, wie oft mein Text in den ersten Tagen nach seiner Veröffentlichung retweetet wurde. Krönung des Ganzen war ein Crossposting im Blog des Buchreports und schließlich sogar der Abdruck in dessen Magazin. Fast zeitgleich schrieb meine geschätzte Bloggerkollegin Mara Giese über ihre Eindrücke von der Electronic Book Fair und wurde daraufhin im Perlentaucher bei Spiegel Online verlinkt. Entgegen mancher Meinung, dass es keinen nennenswerten Markt für digitale Literatur, insbesondere Formate wie E-Book-Singles gäbe, scheint also großes Interesse an dem Thema zu bestehen – ein Grund mehr, an dieser Stelle wie angekündigt einige aktuelle Titel exemplarisch vorzustellen. (mehr …)

E-Book-Singles: Kleine Texte mit großem Spielraum (1/2)

single3 Vor einem halben Jahr habe ich in einem Artikel über den Zustand der Verlagswelt bereits angerissen, dass ich E-Book-Singles derzeit für die interessanteste und innovativste Idee des Buchmarkts halte: kleine Texte mit großem Spielraum, die nur wenig kosten und wie gemacht fürs digitale Lesen sind. Anscheinend habe ich ein Faible für Underdogs, ein typischer deutscher Leser scheine ich jedenfalls nicht zu sein. Denn der interessiere sich nicht für das neue Textformat, stellte Die Welt jüngst in ihrem Feuilleton fest. Hiesige Käufer von E-Books „unterscheiden sich in ihren Vorlieben nicht wesentlich von den Käufern gedruckter Bücher. Sie wollen dicke Romane, Genreliteratur, Krimis, Thriller, Romantik, Sex. Und sie möchten auch auf dem Lesegerät keine unbekannten Autoren entdecken, sondern bleiben bei dem, was sie kennen“, schreibt Konstantin Richter. Auch Johannes Haupt, Betreiber von lesen.net, kommt aufgrund ihrer niedrigen Verkaufszahlen zu einem harschen Urteil über E-Book-Singles und bezeichnet sie gegenüber Deutschlandradio Kultur als Flop. Bei den Hanser Literaturverlagen, wo mit Hanser Box eine der prominentesten Single-Reihen publiziert wird, sieht man das anders. Als Reaktion auf den Welt-Artikel twitterte Verlagslektor Florian Kessler: Bildschirmfoto 2015-06-18 um 11.39.15 Meines Erachtens vertritt Kessler hier genau den richtigen Ansatz: Momentan sollten die kurzen E-Books nicht an den Maßstäben von Bestsellern, sondern nur an ihrem eigenen Potenzial gemessen werden. Ein neues Format braucht Zeit, um sich zu entwickeln und zu finden. Zunächst einmal müssen Grenzen ausgelotet, Möglichkeiten erkundet werden – und zwar sowohl seitens der Autoren als auch seitens der Leser. Das Format bietet Texten eine Chance, die andernfalls womöglich nie veröffentlicht würden: Manche literarischen Texte sind zu kurz oder speziell, um kostendeckend gedruckt zu werden, manche Essays oder Reportagen zu lang, um in Magazinen oder Zeitungen zu erscheinen. Nicht zuletzt entstehen inzwischen immer öfter Texte, die digitale Literatur als eigene Gattung begreifen und in Printform zwar möglich, aber unsinnig wären. Im Frohmann Verlag werden mitunter Tweets zu einem Buch zusammengefasst oder regelrechte MAXI-Singles wie das Mammutprojekt 1000 Tode schreiben veröffentlicht, bei Mikrotext können gesammelte Statusmeldungen aus Facebook den syrischen Bürgerkrieg reflektieren oder Chatprotokolle eine dramatische Flucht ins politische Asyl illustrieren.

Alles geht, nichts muss

Manche Texte funktionieren für das Format vielleicht besser als andere, aber ohne den wirtschaftlichen Zwang zum Erfolg sind die kostengünstig zu produzierenden E-Books eine erfrischende Abwechslung zu den oft ermüdend gleichförmigen, durchkalkulierten Programmen der Publikumsverlage. Ohne größeres Risiko können Autoren aus dem engen Markenkorsett, in das Agenten und Verlage sie zuweilen zwängen, ausbrechen und herumexperimentieren, sich ausprobieren. Kurzgeschichten, für die es in Deutschland noch nie einen nennenswerten Markt gegeben hat, finden eine Plattform außerhalb unverkäuflicher Erzählbände. Reportagen und Essays, denen es auf Seite drei der Süddeutschen zu eng ist, dürfen sich nun auch auf dreißig ausbreiten. Leser, die sich ihre Neugierde bewahrt haben, können sich von Texten wieder öfter überraschen lassen und neue Autoren entdecken. Das alles ist, was Florian Kessler meinte, als er davon sprach, dass E-Book-Singles vor allem eine Erweiterung seien.

Soviel zur schönen Theorie. (mehr …)