Flucht

Die Möglichkeit einer Flucht. Über „Die kommenden Jahre“ von Norbert Gstrein

Norbert Gstrein - Die kommenden JahreAls Natascha und Richard eine syrische Flüchtlingsfamilie bei sich aufnehmen, steuert ihre Ehe auf eine Katastrophe zu. In Die kommenden Jahre lässt Norbert Gstrein Empathie und Pragmatismus aufeinandertreffen – und widersteht dabei der Versuchung, einfache Antworten zu geben.

Halb im Scherz, halb im Ernst reden sie alle von Flucht. Noch will niemand auf der Tagung daran glauben, dass der Ernstfall tatsächlich eintreten könnte, ein halbes Jahr vor der Präsidentschaftswahl sagen die meisten aber klar, wohin es sie im Falle eines Wahlsiegs Donald Trumps ziehen würde: nach Kanada. Das ist auch Sehnsuchtsort des österreichischen Gletscherforschers Richard, des Protagonisten in Norbert Gstreins Roman Die kommenden Jahre, der auf Einladung seines alten Freundes Tim nach New York geflogen ist – und die Tagung selbst als kleine Flucht begreift. Der Abstand zu seinem Alltag in Hamburg, zu seiner Frau Natascha tut ihm gut. Aber auch in der Ferne kann Richard der Situation, in die sie ihn gebracht hat, nicht entkommen. Längst haben alle Kollegen den Fernsehbeitrag gesehen, der Artikel in der Illustrierten hat vermutlich bereits die Runde gemacht. Für Tim und Richards ehemalige Studentin Idea, die er kurz darauf in Kanada trifft, ist die Sache klar: Mit ihrem zur Schau gestellten Engagement für die Flüchtlingsfamilie Fahri hat die Schriftstellerin Natascha ihren Mann lächerlich gemacht.

Dabei war es nicht einmal Nataschas Idee, im ungenutzten Sommerhaus am See eine syrische Flüchtlingsfamilie einziehen zu lassen, sondern die ihrer verstorbenen Zwillingsschwester Katja. Aber es ist Natascha, die sich die Hilfe für Herrn und Frau Fahri und ihre Kinder plötzlich zur Lebensaufgabe macht und dafür in Kauf nimmt, dass die Distanz zwischen ihr und Richard größer wird. Er nämlich glaubt, sie wolle den Syrern weniger aus Nächstenliebe denn aus Geltungsdrang helfen, sie dagegen wirft ihm emotionale Kälte vor. Und natürlich ist in Norbert Gstreins Die kommenden Jahre nichts so einfach, wie es zunächst scheint. Nach Richards Heimkehr spitzt sich nicht nur die Ehekrise, sondern auch die Situation am See zu. Immer öfter tauchen Jugendliche am Haus auf, die die ungebetenen Gäste einschüchtern wollen, und auch die Motive der Nachbarn werden zunehmend unklarer. Während Natascha nervöser wird, sich schließlich sogar ein Hotelzimmer in der Nähe des Sees nimmt, um gemeinsam mit Herrn Fahri an einem Text über Flucht zu arbeiten, machen Gerüchte über dessen Vergangenheit die Runde. Richards Zweifel werden umso größer, als sich auf ihrer ersten gemeinsamen Lesung herausstellt, dass Katja und Herr Fahri in ihrem Text nicht seine tatsächliche, sondern bloß eine mögliche Flucht beschrieben haben – ein kleiner Eklat.

Die kommenden Jahre ist mehr als ein Roman über eine Ehe- oder die Flüchtlingskrise. So einfach, bloß satirisch mit Nataschas moralisch-hysterischem Gutmenschentum oder Richards rationalem, kühlem Pragmatismus abzurechnen, macht es sich Norbert Gstrein nicht. Vieles bleibt in der Schwebe, sicher geglaubte Gewissheiten schwinden den Figuren wie die schmelzenden Gletscher, an denen Richard forscht. In früheren Texten Norbert Gstreins spielte oft Heimat eine große Rolle, hier ist es die Sehnsucht nach einem anderen, einem besseren Leben, die sich für Richard an Orten genauso festmacht wie an Menschen: die Sehnsucht nach Kanada, ein Land, das ihn an seine Kindheit erinnert, zugleich aber fern genug ist, um Utopie zu bleiben. Die nach Katja, die vielleicht die passendere Wahl zwischen den Zwillingen gewesen wäre. Und nicht zuletzt die nach Idea, die das verkörpert, was Richard am meisten zu brauchen glaubt – die Möglichkeit einer Flucht. „Natascha, du weißt nicht, wie viele Optionen ich habe“, sagt er einmal im Streit zu seiner Frau. Und irrt sich dabei gewaltig: Am Ende – und das gilt für alle Figuren des Romans – sind es weitaus weniger, als er denkt.


Norbert Gstrein: Die kommenden Jahre. Erschienen bei Hanser und als Lizenzausgabe bei der Büchergilde, 288 Seiten. Diese Rezension erschien erstmals im Magazin der Büchergilde 4/2018 – auch erhältlich zum kostenlosen Download.

Elterndämmerung. Über „So, und jetzt kommst du“ von Arno Frank

IMG_5876Kindern kann man ja wirklich eine Menge weismachen. Die Existenz von Weihnachtsmännern und Osterhasen zum Beispiel. Eckige Augen, die man vom Fernsehen kriegt, Bauchschmerzen vom Naschen. Und natürlich, dass man stets wisse, was zu tun sei. Es gehört zum Erwachsenwerden dazu, die eigenen Eltern irgendwann zu hinterfragen und dabei zur Erkenntnis zu gelangen, dass auch sie nur Menschen sind. Menschen, die nicht alles wissen. Menschen, die Fehler machen, manchmal sogar sehr große und dumme. Wann kamen Arno Frank wohl die ersten Zweifel an seinen Eltern? Anzeichen für ihre Fehlbarkeit gibt es früh. Amtliche Briefe, die ungelesen in den Müll wandern. Ein gepfändetes Haus und Geschäftsideen des Vaters, die immer windiger, immer riskanter werden. Die Polizei, die irgendwann vor der Tür steht, nachts dann der überstürzte Aufbruch nach Südfrankreich. Das große Geld, das plötzlich da ist und allen ein Leben im Luxus ermöglicht. Arno Frank und seine beiden Geschwister glauben ihren Eltern, eine andere Wahl haben sie ohnehin nicht. Und wozu den Weihnachtsmann in Frage stellen, solange es Bescherung gibt?

So, und jetzt kommst du erzählt die wahre Geschichte von Arno Franks Kindheit als Sohn eines Hochstaplers – und lockt zunächst auf eine falsche Fährte. Ein kindlicher Erzähler in einer leicht verschrobenen Familie, dazu ein paar skurril-sentimentale Erinnerungen an die BRD der Achtziger – das klingt nach Feel good-Bestseller aus dem Baukasten. Man nehme etwas Coming of age-Melancholie, garniere sie mit einer Prise Humor und serviere das Ganze als Roadmovie. Auerhaus meets Tschick, ganz sichere Nummer. Doch dann kommt alles anders.

Horrortrip statt „Tschick“

Als das große Geld irgendwann aufgebraucht ist, mehren sich die Zeichen, dass Arnos Eltern die Kontrolle verloren haben. Das Luxusanwesen an der Küste verwahrlost zusehends. Die Mutter lutscht am Daumen, während der Vater immer erratischer wird. Wieder steht die Polizei vor der Tür, und wieder bleibt der Familie nur die Flucht. Was als Familienabenteuer begann, wird zur albtraumhaften Odyssee durch halb Europa. Und das bedingungslose Vertrauen in die Unfehlbarkeit der Eltern: zum Musterbeispiel fürs Stockholm-Syndrom. Anfangs noch so unterhaltsam wie harmlos, wird der Roman mit jeder Seite beklemmender. Arno Frank schildert die zunehmende Verwahrlosung der Familie – auch im Umgang miteinander – so glaubwürdig und intensiv, dass selbst in grotesken Szenen das Entsetzen dominiert. Das spürbare Gefühl der Ausweglosigkeit gipfelt schließlich in einer Autobahnszene, deren blanker Horror kaum auszuhalten ist. Spätestens hier ist nichts mehr vom Feel good-Roman übrig, der So, und jetzt kommst du hätte werden können. Auch in anderen Coming of age-Romanen müssen sich Kinder von ihren Eltern abnabeln – in diesem sind sie ihnen jedoch ausgeliefert wie Geiseln.

Mit seinem Debütroman ist Arno Frank das seltene Kunststück gelungen, gleichermaßen zu unterhalten wie zu erschüttern. An manchen Stellen hochkomisch und skurril, ist So, und jetzt kommst du mit zunehmenden Verlauf vor Spannung kaum auszuhalten. Im letzten Jahr wurde Thomas Melle, obwohl auch Die Welt im Rücken kein fiktionaler, sondern ein autobiografischer Roman ist, für den Deutschen Buchpreis nominiert. So, und jetzt kommt Frank – ein Platz auf der Longlist wäre jedenfalls durchaus verdient!


Arno Frank: So, und jetzt kommst du. Erschienen bei Tropen/Klett-Cotta, 352 Seiten. Nachtrag: Ein interessantes und aufschlussreiches Interview mit Arno Frank ist auf Lesen macht glücklich zu finden.

Out now: Willkommen! Blogger schreiben für Flüchtlinge

Cover - Willkommen! Blogger schreiben für Flüchtlinge

ISBN 978-3-944543-28-4

Schon mehrfach habe ich in meinem Blog über die Vorteile des digitalen Verlegens geschrieben, allen voran die Möglichkeit, schnell auf aktuelle Themen und Debatten zu reagieren. Mit Willkommen. Blogger schreiben für Flüchtlinge ist heute bei Mikrotext ein E-Book erschienen, das hinter diese These ein Ausrufezeichen setzt. Kein Thema bewegt uns derzeit mehr als die vielen Menschen, die sich auf den weiten Weg gemacht haben, auf der Flucht vor Krieg, Armut, Krankheit, Folter, Hunger, Tod. Im Zuge der Spendeninitiative #bloggerfuerfluechtlinge haben sich in den vergangenen Monaten so viele Menschen in Wort und Tat für Flüchtlinge engagiert, dass Caterina Kirsten von Schöne Seiten mit ihrer Idee, die besten Texte unter diesem Hashtag in einem E-Book zu veröffentlichen, bei Nikola Richter von Mikrotext sofort auf offene Ohren stieß. Mit Katharina Gerhardt, Ariane Novel, Eva Siegmund und mir fanden sich schnell genügend Mitstreiter, um dieses ehrenamtliche Projekt in ehrgeizig kurzer Zeit auf die Beine zu stellen.

Drei Monate lang haben wir Texte gesichtet, gesammelt und diskutiert. Wir wollten Vielfalt. Und wir wollten Qualität. Von Anfang an war es uns wichtig, ein differenziertes und breites Bild aufzuzeigen, das sich nicht nur auf die Situation der letzten Monate beschränkt, sondern diese auch in einen historischen Kontext setzt. Und obwohl wir uns manchmal ein gemeinsames Großraumbüro mit Kaffeemaschine und Keksdose gewünscht hätten, haben wir uns im digitalen Raum zwischen Hamburg, Berlin, Frankfurt, Stuttgart, München und Barcelona kennen, schätzen und mögen gelernt – und eine Anthologie zusammengestellt, auf die wir alle stolz sind.

Die Geschichten, Meinungen und Statusmeldungen, die in diesem E-Book versammelt sind, öffnen dem Leser die Augen, jede auf ihre Art. 54 persönliche Texte – so unterschiedlich wie die Menschen, die sie geschrieben haben – erzählen von Flucht und Flüchtlingshilfe, erzählen von Menschen, die damals wie heute auf die Hilfsbereitschaft anderer angewiesen waren und sind.

Da ist der Münchner Karim Hamed, der in einem Auffanglager auf Arabisch mit den Menschen spricht und uns ihre Gedanken lesen lässt. Da ist die österreichische Kultautorin Stefanie Sargnagel, die böse, aber hochkritisch ihren Blick auf die linke Gutmenschenriege knallen lässt. Da ist die erfolgreiche Sängerin Sarah Connor, die eine syrische Mutter mit fünf Kindern aufnimmt. Und da ist die Netzaktivistin Anke Domscheit-Berg, die von ihren Flüchtlingsvorfahren erzählt. Ein Vater mit Papablog schreibt einen rührenden Brief an sein Kind über die eigene Flucht aus der DDR, eine österreichische Modebloggerin einen verzweifelten Brief an ihre Regierung. Ein Reporter schleicht sich undercover in Europas größtes Flüchtlingscamp, und ein Lesern meines Blogs nicht ganz unbekannter syrischer Flüchtling – Aboud Saeed – erzählt gewohnt launig von seinem neuen Leben in Berlin. Auch Literaturblogger kommen natürlich zu Wort: Uwe Kalkowski, Ilja Regier und Tania Folaji lassen uns an den Flüchtlingsschicksalen ihrer eigenen Familie teilhaben und ziehen daraus ihre Schlüsse.

Das E-Book soll aber nicht Beweis einer neuen Willkommenskultur sein und ein klares Zeichen setzen, dass die Hetzer in Deutschland nicht in der Mehrheit sind und Menschen in der Not bei uns willkommen. Es soll auch einen Beitrag leisten: Sämtliche Erlöse werden zugunsten der Initiative #bloggerfuerfluechtlinge gespendet. Mehr Informationen und Leseproben aus den Texten gibt es bei Mikrotext. Doch am besten kauft ihr es ohne Umwege gleich für 4,99 € in einem E-Book-Store eurer Wahl, zum Beispiel bei Minimore!

PS: Frei nach Steve Jobs gäbe es da noch one more thing: Wenn ihr ohnehin schon beim gut sortierten Minimore vorbeischaut, könnt ihr gleich auch eine Digitalausgabe von ]trash[pool in den Einkaufswagen legen – ab sofort sind dort die Ausgaben 4-6 als Digitalversion sowie mein Roman Dezemberfieber erhältlich!


Update (10.1.2016): Inzwischen wurde das E-Book nicht nur auf einigen Blogs vorgestellt, sondern auch im Börsenblatt und der F.A.Z.!

Texte gesucht: E-Book #bloggerfuerfluechtlinge

Instagram-bloggerfuerfluchtlingeViele haben es ja sicher bereits auf Schöne Seiten oder anderswo gesehen: Für ein karitatives E-Book, das beim Digitalverlag mikrotext erscheinen wird, suchen wir Beiträge zum Thema Flucht: Persönliche Auseinandersetzungen mit Flucht und Flüchtlingshilfe (z.B. Interviews, Porträts oder Erfahrungsberichte), die sich aber nicht allein auf die aktuelle Situation beschränken müssen. Obwohl diese natürlich im Fokus steht, möchten wir gerne auch ein größeres Bild aufzeigen; immer wieder in der Geschichte sahen sich Menschen in Not gezwungen, ihre Heimat zu verlassen und waren auf die Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft anderer angewiesen. Das fünfundzwanzigjährige Jubiläum der Wiedervereinigung sollte uns dieser Tage daran erinnern, dass eine Flucht unter Lebensgefahr noch immer Teil der jüngeren Geschichte Deutschlands ist.

In den letzten Wochen haben wir für das Projekt, dessen Erlöse der Initiative Blogger für Flüchtlinge zugute kommen sollen, bereits viele großartige und wichtige Texte gelesen. Doch wir sind weiterhin auf der Suche nach Beiträgen, die das E-Book thematisch bereichern können und freuen uns sowohl über selbstgeschriebene Texte als auch über Links und Hinweise auf Artikel, die wir uns unbedingt einmal anschauen sollten!

Mehr zur Ausschreibung findet ihr im Exposé!

E-Book-Singles: Kleine Texte mit großem Spielraum (2/2)

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Ich muss zugeben: Die große Resonanz auf den ersten Teil meines Artikels hat mich überrascht. Virale Phänomene kannte ich persönlich bislang nur aus der KiTa-Eingewöhnung meiner Tochter, entsprechend erstaunt war ich darüber, wie oft mein Text in den ersten Tagen nach seiner Veröffentlichung retweetet wurde. Krönung des Ganzen war ein Crossposting im Blog des Buchreports und schließlich sogar der Abdruck in dessen Magazin. Fast zeitgleich schrieb meine geschätzte Bloggerkollegin Mara Giese über ihre Eindrücke von der Electronic Book Fair und wurde daraufhin im Perlentaucher bei Spiegel Online verlinkt. Entgegen mancher Meinung, dass es keinen nennenswerten Markt für digitale Literatur, insbesondere Formate wie E-Book-Singles gäbe, scheint also großes Interesse an dem Thema zu bestehen – ein Grund mehr, an dieser Stelle wie angekündigt einige aktuelle Titel exemplarisch vorzustellen. (mehr …)

E-Book-Singles: Kleine Texte mit großem Spielraum (1/2)

single3 Vor einem halben Jahr habe ich in einem Artikel über den Zustand der Verlagswelt bereits angerissen, dass ich E-Book-Singles derzeit für die interessanteste und innovativste Idee des Buchmarkts halte: kleine Texte mit großem Spielraum, die nur wenig kosten und wie gemacht fürs digitale Lesen sind. Anscheinend habe ich ein Faible für Underdogs, ein typischer deutscher Leser scheine ich jedenfalls nicht zu sein. Denn der interessiere sich nicht für das neue Textformat, stellte Die Welt jüngst in ihrem Feuilleton fest. Hiesige Käufer von E-Books „unterscheiden sich in ihren Vorlieben nicht wesentlich von den Käufern gedruckter Bücher. Sie wollen dicke Romane, Genreliteratur, Krimis, Thriller, Romantik, Sex. Und sie möchten auch auf dem Lesegerät keine unbekannten Autoren entdecken, sondern bleiben bei dem, was sie kennen“, schreibt Konstantin Richter. Auch Johannes Haupt, Betreiber von lesen.net, kommt aufgrund ihrer niedrigen Verkaufszahlen zu einem harschen Urteil über E-Book-Singles und bezeichnet sie gegenüber Deutschlandradio Kultur als Flop. Bei den Hanser Literaturverlagen, wo mit Hanser Box eine der prominentesten Single-Reihen publiziert wird, sieht man das anders. Als Reaktion auf den Welt-Artikel twitterte Verlagslektor Florian Kessler: Bildschirmfoto 2015-06-18 um 11.39.15 Meines Erachtens vertritt Kessler hier genau den richtigen Ansatz: Momentan sollten die kurzen E-Books nicht an den Maßstäben von Bestsellern, sondern nur an ihrem eigenen Potenzial gemessen werden. Ein neues Format braucht Zeit, um sich zu entwickeln und zu finden. Zunächst einmal müssen Grenzen ausgelotet, Möglichkeiten erkundet werden – und zwar sowohl seitens der Autoren als auch seitens der Leser. Das Format bietet Texten eine Chance, die andernfalls womöglich nie veröffentlicht würden: Manche literarischen Texte sind zu kurz oder speziell, um kostendeckend gedruckt zu werden, manche Essays oder Reportagen zu lang, um in Magazinen oder Zeitungen zu erscheinen. Nicht zuletzt entstehen inzwischen immer öfter Texte, die digitale Literatur als eigene Gattung begreifen und in Printform zwar möglich, aber unsinnig wären. Im Frohmann Verlag werden mitunter Tweets zu einem Buch zusammengefasst oder regelrechte MAXI-Singles wie das Mammutprojekt 1000 Tode schreiben veröffentlicht, bei Mikrotext können gesammelte Statusmeldungen aus Facebook den syrischen Bürgerkrieg reflektieren oder Chatprotokolle eine dramatische Flucht ins politische Asyl illustrieren.

Alles geht, nichts muss

Manche Texte funktionieren für das Format vielleicht besser als andere, aber ohne den wirtschaftlichen Zwang zum Erfolg sind die kostengünstig zu produzierenden E-Books eine erfrischende Abwechslung zu den oft ermüdend gleichförmigen, durchkalkulierten Programmen der Publikumsverlage. Ohne größeres Risiko können Autoren aus dem engen Markenkorsett, in das Agenten und Verlage sie zuweilen zwängen, ausbrechen und herumexperimentieren, sich ausprobieren. Kurzgeschichten, für die es in Deutschland noch nie einen nennenswerten Markt gegeben hat, finden eine Plattform außerhalb unverkäuflicher Erzählbände. Reportagen und Essays, denen es auf Seite drei der Süddeutschen zu eng ist, dürfen sich nun auch auf dreißig ausbreiten. Leser, die sich ihre Neugierde bewahrt haben, können sich von Texten wieder öfter überraschen lassen und neue Autoren entdecken. Das alles ist, was Florian Kessler meinte, als er davon sprach, dass E-Book-Singles vor allem eine Erweiterung seien.

Soviel zur schönen Theorie. (mehr …)

Leben. Trotz. Krieg. Über Aboud Saeeds „Lebensgroßer Newsticker“

Cover - Aboud Saeed – Lebensgroßer NewstickerWenn Aboud Saeed nicht gerade versucht, einem Esel den Penis abzureißen, ist er eigentlich ein ganz normaler junger Mann. Er denkt zu oft an Frauen, treibt sich zu lange auf Facebook herum, gibt zu viel Geld für Alkohol und Zigaretten aus. Man könnte glatt mit ihm befreundet sein oder ihn aus der Nachbarschaft kennen. Aboud Saeed ist aber nicht der Junge von Nebenan, sondern in einer syrischen Kleinstadt nahe Aleppo aufgewachsen. In einem Land, in dem Bürgerkrieg und Armut, Assad und ISIS nicht die Nachrichten, sondern den Alltag prägen, träumt man als Heranwachsender nicht nur von Mädchen und wilden Nächten, sondern eben auch von einem Leben, „wo die Tochter meiner Schwester ihren gekauten Kaugummi nicht auf den Fernseher klebt, damit sie ihn am Tag darauf weiterkauen kann.“ Oder davon, dass der Bruder nur kurz hätte innehalten müssen, um sich seine Zigarette anzuzünden: „Dann hätte ihn die Bombe knapp verpasst.“

Im Digitalverlag Mikrotext, den ich hier schon einmal kurz vorgestellt habe, ist gerade Aboud Saeeds zweites Buch „Lebensgroßer Newsletter. Szenen aus der Erinnerung“ erschienen, in dem der 1983 geborene Syrer, der inzwischen mit politischem Asyl in Berlin lebt, von seiner Jugend in Manbidsch schreibt. Sein erster Band „Der klügste Mensch im Facebook“ mit gesammelten Statusmeldungen während der syrischen Revolution erschien 2013 ebenfalls bei Nikola Richters innovativem E-Book-Verlag; beide Bände wurden von Sandra Hetzl aus dem Arabischen übersetzt.

Alltagsskizzen aus dem Bürgerkrieg

„Lebensgroßer Newsletter“ erzählt nicht vom Krieg, sondern von einem Land, in dem der Krieg längst zur Normalität geworden ist. In kurzen Anekdoten, poetischen Gedankenspielen und Alltagsskizzen zeigt Saeed, wie sehr dieser die Menschen verändert, die trotz Armut und Leid weitermachen, weiter funktionieren müssen. Saeeds Texte kommen ohne verklärten Blick aus dem Westen aus, wirken stattdessen wie mitten aus dem Leben gegriffen. Sie stecken voller Details, die deutlich machen, wie sehr sich der kulturelle und gesellschaftliche Hintergrund Syriens von unserem unterscheidet. Fußnoten erläutern notwendiges Wissen über Namen, Geschichtsdaten oder muslimische Bräuche. Im Gegensatz zu Marjane Satrapi, deren großartige Graphic Novel „Persepolis“ autobiographisch von ihrer Kindheit im Iran der Achtziger erzählt, ist Aboud Saeeds Jugend nicht von westlicher Popkultur geprägt.

Doch so anders er auch aufgewachsen ist als wir, so ähnlich sind seine Wünsche, Hoffnungen, Sehnsüchte. In den manchmal bitteren, oft aber auch leichtfüßigen und amüsanten Anekdoten liest man von lebenshungrigem Trotz und jugendlicher Großmäuligkeit. Man liest von Saeeds Unsicherheit gegenüber Mädchen und seiner Frustration, in Armut zu leben. Liest vom Versuch, einem Esel den Pimmel auzureißen und davon, was es heißt, nicht genügend Töpfe für die undichten Stellen im Dach zu haben. Liest manchmal Albernes, fast Belangloses – und dann wieder diesen einen Satz, der einem ohne Vorwarnung das Herz bricht. (mehr …)