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Schlecky Silberstein rechnet bei lesen.hören 13 mit dem Internet ab

IMG_5265„Viele meiner Zuhörer stellen anschließend überrascht fest: Ich habe kein einziges Mal gelacht“, sagt der Blogger und Comedy-Autor Christian Brandes alias Schlecky Silberstein einmal ironisch während der Lesung. Das stimmt an diesem Abend in der Alten Feuerwache zwar nicht ganz – aber so lustig wie erwartet ist die Lesung aus seinem Buch Das Internet muss weg tatsächlich nicht. Dafür ist Silberstein sein Anliegen auch viel zu ernst: „Das Medium, dem ich alles zu verdanken habe, ist irreparabel kaputt.“ Eine ziemlich brutale Diagnose. Aber Silberstein steht nicht gerade im Verdacht, ein rückwärtsgewandter Fortschrittsgegner zu sein, schließlich ist er das, was man einen digital native nennt, er ist mit dem und durch das Internet groß geworden. Für ihn ist es die größte Errungenschaft seit Erfindung des Rads – „in 100.000 Jahren wird man sagen: das war die große Zeitenwende der Menschheit“. Und das soll jetzt einfach weg, wie sein Buchtitel plakativ einfordert? Natürlich nicht, erklärt Silberstein. „Nicht das Internet muss weg, sondern die aktuelle Version davon – und die begann am 9.2.2009 mit der Einführung des Facebook-Likes.“

Ist es umsonst, bist du das Produkt

Eine große Gemeinsamkeit vieler Dystopien in Romanen oder Filmen sei, dass die Welt in ihnen von Konzernen regiert werde. Genau das treffe bereits auf unsere Gegenwart zu, in der Unternehmen wie Facebook, Google oder Apple eine enorme Machtfülle besäßen. „Weil sie hauptsächlich mit unseren Daten Geld verdienen und ständig neuen Rohstoff brauchen, hat sich die Architektur des Internets grundlegend verändert“, sagt Silberstein. Was den Datenhunger betreffe, gebe es eine einfache Faustregel: „Wenn ein Dienst nichts kostet, bist du das Produkt.“ Soziale Netzwerke funktionieren deshalb wie Kasinos, sie sollen gezielt Abhängigkeit erzeugen, damit ihre Nutzer durch ständige Interaktionen möglichst viele Daten preisgeben. Silberstein vergleicht die Wirkung des Like-Buttons mit Tierexperimenten – etwa mit Tauben, die umso öfter den Auslöser ihrer Futterstation betätigen, wenn die Futterausschüttung nicht garantiert ist. „Ein Statusupdate ist mit der Erwartung von Resonanz verbunden. Weil viele Likes nicht selbstverständlich sind, wird umso mehr Dopamin in unserem Belohnungszentrum ausgeschüttet, wenn ein Beitrag gut ankommt“, erklärt Silberstein. Diese Form des Brainhackings führe geradewegs in die Sucht – und zwar mit Vorsatz.

Abhängig von permanenter Resonanz sind aber nicht nur einfache User, sondern auch Journalisten. Gerade Online-Redakteure wollen immer die ersten sein, die eine Geschichte bringen, allein schon, weil sie dann mit Abstand die meisten Klicks generieren. Das hat Folgen für den Journalismus. Trendtools mit automatisierter Stichwortsuche bestimmen zunehmend, über was berichtet wird. „Deshalb schreiben alle das Gleiche, Themen werden geritten und nicht mehr gesetzt.“ Dadurch steige auch Risiko von Falschmeldungen oder schlecht recherchierter Artikel, was Silberstein am Beispiel der Meldung ausführt, in Schweden bräuchten Menschen vor dem Sex nun per Gesetz das formelle Einverständnis des anderen. Tatsächlich ging es dabei bloß um eine Selbstverständlichkeit – nämlich einvernehmlichen Sex. Die zehntausendfach geteilte übertriebene Auslegung einer Lokalzeitung führte binnen kürzester Zeit zu immer abstruseren Varianten bis hin zur „schriftlichen Einverständniserklärung“ bei Focus Online.

Wut ist die viralste Emotion

Auch die Debattenkultur habe sich durch die Mechanismen sozialer Netzwerke massiv verändert, sagt Silberstein. „Durch die ständige Empörung leben wir in einer Zeit der Hysterie. Das liegt aber nicht an uns. Diese Hysterie ist ein wichtiges Werk von Unternehmen.“ Angst sei für die Menschheit ein evolutionärer Vorteil gewesen, so lange es ums nackte Überleben ging. Jetzt sorge dieser Instinkt jedoch dafür, dass wir schlechten Nachrichten und negativen Emotionen deutlich mehr Aufmerksamkeit schenkten. Die Algorithmen sozialer Netzwerke nutzen das gezielt aus – was inzwischen selbst Wahlen entscheiden kann. „Studien belegen das: Wut ist die viralste Emotion. Kein Wunder also, dass rechtspopulistische Parteien die mit Abstand höchsten Interaktionsraten haben“, so Silberstein. Differenzierte Informationen seien dagegen reines Reichweitengift. Das bekam er nach einer missglückten Satire-Aktion auch selbst zu spüren. Silberstein stellte eine Nachrichtenseite mit erfundenen Horrormeldungen über Straftaten von Flüchtlingen ins Netz. Wer die Artikel anklickte, bekam jedoch stattdessen eine ironische Aufklärung über die Gefahr von Fake News zu lesen. Tatsächlich klickte aber nur jeder elfte den Link an, stattdessen wurden die erfundenen Meldungen bloß tausendfach in rechten Netzwerken geteilt. Nach nur anderthalb Wochen nahm Silberstein die Seite wieder vom Netz – weil sie zu erfolgreich war.

Auch die „richtige“ Empörung kann falsch sein

Sind die Menschen also schlechter geworden? „Die Rückwärtsgewandten gab es immer“, glaubt Silberstein. Sie seien jetzt lediglich miteinander vernetzt. „Vor dem Internet glaubten wir, in den Medien ein Abbild unserer Gesellschaft zu sehen. Tatsächlich zeigten sie aber nur das Weltbild der Medienschaffenden, die nun mal eher progressiv und liberal sind.“ Aber auch die Empörung auf der anderen Seite ist für Silberstein ein Teil des Problems, darum kritisiert er etwa die die aktuellen Debatten um den Karneval und politische Korrektheit. „Selbst wenn man Recht hat: Durch die ständige Zurechtweisung der anderen und Zurschaustellung der eigenen moralischen Überlegenheit werden gesellschaftliche Gräben unüberwindbar.“ Ein besonderes Problem sieht Silberstein bei Shitstorms auf Twitter: „Die Massenempörung gegenüber einem einzelnen hat ja in Wirklichkeit einen ganz anderen Adressaten – nämlich die eigenen Follower, denen man zeigen will, welche Werte man vertritt“, so Silberstein. Shitstorms seien ein typisches Beispiel für die Aufmerksamkeitsökonomie, die durch die Mechanismen sozialer Netzwerke entstanden sei.

Aufmerksam bleiben die vielen Zuhörer in der Alten Feuerwache auch ohne die vielen Gags, die manche vielleicht erwartet hätten. Schlecky Silberstein widmet sich seinem Thema zwar fundiert und mit dem nötigen Ernst, macht das aber zugleich so locker und unterhaltsam, dass ihn das Publikum mit anhaltendem Applaus um eine Zugabe bittet. Und der ist womöglich sogar lauter als sonst: Nicht wenige dürften den reflexartigen Griff zum Smartphone nach Silbersteins Ausführungen gescheut haben. Zumindest für einen kurzen Moment. Andererseits: So ein Foto von Schlecky Silberstein aus der Nähe – das bringt sicher viele Likes, oder?

Vernetzung statt Hierarchie.

Oder: Die Leanderwattisierung des Literaturbetriebs. Eine kleine Utopie

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Natürlich ist sie ermüdend, die ständige und sich im Kreis drehende Debatte um Blogs und das Feuilleton, zu der auch ich jüngst meinen Senf beisteuern durfte. Dennoch war sie eines der beherrschenden Themen der Leipziger Buchmesse 2016, zu der etwa 800 Blogger akkreditiert waren und damit doppelt so viele wie noch im Vorjahr. Die Podiumsdiskussion mit Ijoma Mangold von der Zeit brachte erwartungsgemäß nur wenige neue Erkenntnisse. Denn dass bloß über Blogger, aber nicht mit ihnen – und zwar auf Augenhöhe – gesprochen wurde, ist nicht nur symptomatisch und ignorant, sondern geradezu anachronistisch. Erhellender dagegen war Karla Pauls Vortrag auf der Konferenz blogger:sessions am Sonntag: ein leidenschaftliches Plädoyer für mehr Selbstbewusstsein seitens der Blogger, die den Diskurs über Literatur schon längst verändert, längst demokratisiert hätten. Aber auch ein Appell: Momentan seien es nämlich die Blogger selbst, die sich klein machten – es sei an der Zeit, sich endlich zu professionalisieren.

Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Es ist an der Zeit, sich in Stellung zu bringen. Wer noch immer glaubt, es ginge um Blogs vs. Feuilleton, der hat die Zeichen der Zeit nicht verstanden; es geht hier nicht um Neuland gegen Brachland. Blogs werden das Feuilleton nicht ersetzen, sondern den literarischen Diskurs, das literarische Spielfeld erweitern – und zwar als Mit-, nicht als Gegenspieler. Sie sind Teil eines unaufhaltsamen Wandels im Literaturbetrieb, der gerade erst beginnt. Das Gegeneinander-Ausspielen, um alte Hierarchien und den eigenen Status zu verteidigen, wird irgendwann ausgedient haben. Die Zukunft gehört der Vernetzung, gehört jenen, die sich heute ganz selbstverständlich in sozialen Netzwerken bewegen und Projekte anstoßen, die in alten Strukturen kaum denkbar gewesen wären.

Offene Grenzen, neue Möglichkeiten

Die Grenzen zerfließen schon jetzt: Heute schreiben Zeitungen von Bloggern noch ab, morgen drucken sie ihre Texte und stellen sie ein. Namhaft besetzte Projekte wie tell, ein soeben gestartetes Online-Magazin für Literatur, Kritik und Zeitgenossenschaft, sind vielversprechende Zeichen des Aufbruchs. Auch bereits etablierte Blogger suchen nach neuen Wegen und Kooperationen, die Zeichen eines erstarkten Selbstvertrauens sind: Die Literaturplattform 54stories veranstaltet nun in mehreren Städten Deutschlands auch Lesungen. Erst kürzlich rief Das Debüt den ersten Blogger-Literaturpreis ins Leben. Und Tobias Nazemi von Buchrevier plant im Schulterschluss mit namhaften Bloggern eine Verlagskooperation, die – soviel sei verraten – von sich reden machen wird.

Aber auch die Verlagswelt selbst ist längst im Wandel. Die Bloggerin Karla Paul ist inzwischen Verlagsleiterin bei Edel ebooks. Mara Giese von Buzzaldrins lässt als Volontärin bei edel & electric im Verlagsblog u.a. LektorInnen und Blogger zu Wort kommen und Debatten anstoßen. Junge Lektoren wie Florian Kessler bei Hanser bringen nicht nur frischen Wind in die Verlage, sondern sind ganz selbstverständlich in den sozialen Netzwerken unterwegs und mischen dort auf Augenhöhe mit Bloggern und anderen Netzmenschen bei aktuellen Debatten mit. Ganz besonders stechen natürlich jene Netzwerker hervor, die mit ihrem vielfältigen (und scheinbar unermüdlichen) Engagement gleich an mehreren Stellen Bewegung in die Branche bringen. Felix Wegener (BOOKMARKS, Readbox, direttissima) ist so einer: Seine Medien- und Publishingkonferenz #dico16, die im April in München stattfindet, lädt zum branchenübergreifenden Austausch über Erfahrungen und Chancen digitalen Arbeitens ein; es ist, wie sollte es auch anders sein, im Prinzip eine Networking-Konferenz. Und dann ist da natürlich – last but not least – Leander Wattig, der nicht umsonst titelgebend für diesen Artikel ist. Wie kein anderer steht er für den beginnenden Wandel im Literaturbetrieb und leistet in zahlreichen Vernetzungsprojekten Pionierarbeit. Ob mit seinen vielfältigen Projekten für Orbanism oder Konferenzen wie der Leipziger Autorenrunde: Wattig bringt Menschen zusammen, die gemeinsam etwas bewegen wollen. Menschen, denen es nicht wichtig ist, was sie trennt, sondern das, was sie verbindet. Ich bin fest davon überzeugt: Hier entstehen Strukturen, die bleiben. (mehr …)

Leben. Trotz. Krieg. Über Aboud Saeeds „Lebensgroßer Newsticker“

Cover - Aboud Saeed – Lebensgroßer NewstickerWenn Aboud Saeed nicht gerade versucht, einem Esel den Penis abzureißen, ist er eigentlich ein ganz normaler junger Mann. Er denkt zu oft an Frauen, treibt sich zu lange auf Facebook herum, gibt zu viel Geld für Alkohol und Zigaretten aus. Man könnte glatt mit ihm befreundet sein oder ihn aus der Nachbarschaft kennen. Aboud Saeed ist aber nicht der Junge von Nebenan, sondern in einer syrischen Kleinstadt nahe Aleppo aufgewachsen. In einem Land, in dem Bürgerkrieg und Armut, Assad und ISIS nicht die Nachrichten, sondern den Alltag prägen, träumt man als Heranwachsender nicht nur von Mädchen und wilden Nächten, sondern eben auch von einem Leben, „wo die Tochter meiner Schwester ihren gekauten Kaugummi nicht auf den Fernseher klebt, damit sie ihn am Tag darauf weiterkauen kann.“ Oder davon, dass der Bruder nur kurz hätte innehalten müssen, um sich seine Zigarette anzuzünden: „Dann hätte ihn die Bombe knapp verpasst.“

Im Digitalverlag Mikrotext, den ich hier schon einmal kurz vorgestellt habe, ist gerade Aboud Saeeds zweites Buch „Lebensgroßer Newsletter. Szenen aus der Erinnerung“ erschienen, in dem der 1983 geborene Syrer, der inzwischen mit politischem Asyl in Berlin lebt, von seiner Jugend in Manbidsch schreibt. Sein erster Band „Der klügste Mensch im Facebook“ mit gesammelten Statusmeldungen während der syrischen Revolution erschien 2013 ebenfalls bei Nikola Richters innovativem E-Book-Verlag; beide Bände wurden von Sandra Hetzl aus dem Arabischen übersetzt.

Alltagsskizzen aus dem Bürgerkrieg

„Lebensgroßer Newsletter“ erzählt nicht vom Krieg, sondern von einem Land, in dem der Krieg längst zur Normalität geworden ist. In kurzen Anekdoten, poetischen Gedankenspielen und Alltagsskizzen zeigt Saeed, wie sehr dieser die Menschen verändert, die trotz Armut und Leid weitermachen, weiter funktionieren müssen. Saeeds Texte kommen ohne verklärten Blick aus dem Westen aus, wirken stattdessen wie mitten aus dem Leben gegriffen. Sie stecken voller Details, die deutlich machen, wie sehr sich der kulturelle und gesellschaftliche Hintergrund Syriens von unserem unterscheidet. Fußnoten erläutern notwendiges Wissen über Namen, Geschichtsdaten oder muslimische Bräuche. Im Gegensatz zu Marjane Satrapi, deren großartige Graphic Novel „Persepolis“ autobiographisch von ihrer Kindheit im Iran der Achtziger erzählt, ist Aboud Saeeds Jugend nicht von westlicher Popkultur geprägt.

Doch so anders er auch aufgewachsen ist als wir, so ähnlich sind seine Wünsche, Hoffnungen, Sehnsüchte. In den manchmal bitteren, oft aber auch leichtfüßigen und amüsanten Anekdoten liest man von lebenshungrigem Trotz und jugendlicher Großmäuligkeit. Man liest von Saeeds Unsicherheit gegenüber Mädchen und seiner Frustration, in Armut zu leben. Liest vom Versuch, einem Esel den Pimmel auzureißen und davon, was es heißt, nicht genügend Töpfe für die undichten Stellen im Dach zu haben. Liest manchmal Albernes, fast Belangloses – und dann wieder diesen einen Satz, der einem ohne Vorwarnung das Herz bricht. (mehr …)

Besorgter als Bono: Über Dave Eggers Entwicklung als Autor und sein gesellschaftliches Engagement

Eines vorweg: Ich werde gar nicht erst versuchen, auf meinem Blog mit anderen Buchbloggern um die neuesten und besten Rezensionen zu konkurrieren – das wäre von an Anfang an zum Scheitern verurteilt. Ich ziehe meinen Hut vor dem Leseeifer anderer Blogger, die im Jahr vermutlich genügend Bücher schaffen, um mit den Stapeln in ihren Wohnzimmern die Skyline von New York nachzubauen. Ich käme da wahrscheinlich bestenfalls auf Wuppertal, als Leser gleiche ich nämlich eher einem Quartalssäufer. Manchmal lese ich monatelang nichts – vor allem, wenn ich gerade selber schreibe -, dann aber gleich wieder sechs Romane am Stück. Weil ich jedoch immer weniger lese, als ich eigentlich möchte, macht mir der Stapel ungelesener Bücher auf meinem Regal stets ein schlechtes Gewissen. Allerdings gibt es eine Handvoll Autoren, die mir aus unterschiedlichen Gründen so viel bedeuten, dass ich deren neuesten Veröffentlichungen immer sofort lesen muss. Einer von ihnen, Dave Eggers, war im letzten Jahr wegen seines Romans The Circle in aller Munde; sein hierzulande erfolgreichster Roman ist ein relevanter und durchaus wichtiger Kommentar zur social media-Gesellschaft, aber sicher nicht Eggers beste Arbeit. Warum mich seine anderen Romane mehr überzeugt haben und inwiefern er mich vor allem über sein Schreiben hinaus inspiriert hat, möchte ich darum anhand einer ausführlichen Werkschau begründen.

Die Dringlichkeit eines Idealisten

Als sein Debüt 2001 in Deutschland herauskam, bin ich gleich auf Dave Eggers hereingefallen. Der Titel seines großteils autobiographischen Romans – Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität – war so ironisch wie brillant, entsprach allerdings nur der halben Wahrheit: Die Geschichte, wie Eggers mit 22 seinen achtjährigen Bruder Toph großziehen muss, weil ihre Eltern innerhalb weniger Wochen verstorben sind, ist tatsächlich herzzerreißend. Genial ist das Buch aber nur zu Anfang. Das Spiel mit der Metaebene und den postmodernen Brechungen im langen Vorwort hat mir, weil ich z.B. David Foster Wallace damals noch nicht kannte, ganz neue, aufregende Möglichkeiten von Literatur aufgezeigt; in diesem hat Eggers allerdings auch schon vorweggenommen, dass das Buch ab Seite 135 „irgendwie unausgewogen“ sei – leider zurecht. Das erste Drittel des Romans begeistert noch mit emotionaler Wucht: Hilflosigkeit und Schmerz sind genauso unmittelbar wie der trotzige, unbedingte Willen zum Leben, den die Familientragödie bei Eggers ausgelöst hat. Wider allem Leid strotzt sein Debüt nur so von Komik und Lebenslust. Im weiteren Verlauf der Handlung blitzen zwar immer wieder geniale Momente auf, doch leider mangelt es ihr zunehmend an Stringenz; immer öfter verliert sich der Roman in Nebenschauplätzen und fasert aus. Dennoch blieb für mich der Eindruck, hier auf eine aufregende neue Stimme der amerikanischen Gegenwartsliteratur gestoßen zu sein.

Eggers erster fiktionaler Roman Ihr werdet (noch) merken, wie schnell wir sind – eines meiner absoluten Lieblingsbücher – setzt sich praktisch aus denselben Zutaten wie sein Debüt zusammen, schafft es zugleich aber auch, eine spannende und mitreißende Geschichte zu erzählen. Wieder einmal ist es der Tod, der die Ereignisse in Gang setzt: Um den Verlust ihres besten Freundes zu verarbeiten, brechen Will und Hand zu einer fünftägigen, planlosen Weltreise auf und versuchen auf dieser, so viel Geld wie möglich zu verschenken – was zu allerhand skurrilen und abenteuerlichen Situationen führt. Trotz allen Humors bleibt der Leidensdruck der Protagonisten immer erkennbar. Als Leser spürt man eine permanente Dringlicheit, die sich auch in der Gestaltung der deutschen Erstausgabe spiegelt: Die Handlung setzt bereits auf dem Cover ein und lässt keinen Platz für editorische Hinweise. Es besteht kein Zweifel: Diese Figuren haben keine Zeit zu verlieren. Dieselbe Dringlichkeit spürt man auch beim Autor: Da ist einer, der muss etwas erzählen; diese Geschichte, dieses Thema muss aus ihm heraus.  (mehr …)