rezension

„Mittnachtstraße“ bei SWR2-Lesezeichen

IMG_5971Was für eine tolle erste Vorstellung von Mittnachtstraße! Für die Sendung Lesezeichen traf mich SWR2-Redakteurin Silke Arning zum Interview an den Schauplätzen des Romans beim Stuttgarter Nordbahnhof. Der Stuttgarter Norden ist ein besonderer Ort, heißt es in ihrem sehr treffenden Beschreibungstext zum Radiobeitrag. Auf engstem Raum treffen hier verschiedene Welten aufeinander: Kleingartenanlage und wildes Urban Gardening, Container-Dorf der freien Kunstszene und eine Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus. In diesem Nebeneinander von Geschichte und Gegenwart verortet der Stuttgarter Autor, Literaturblogger und Literaturstipendiat des Landes Baden-Württemberg Frank Rudkoffsky seinen neuen Roman „Mittnachtstraße“. Mit scharfem und unerbittlichem Blick seziert er Befindlichkeiten und Generationenkonflikte.

In ihrem – wie ich finde, wirklich gelungenen – Beitrag schildert Silke Arning ihre Eindrücke vom Setting des Romans und befragt mich zu dessen zentralen Motiven. Das Fazit ihrer Buchvorstellung freut mich natürlich ganz besonders: „Mittnachtstraße ist ein beeindruckender Roman […]. Als intellektueller Autor lotet Frank Rudkoffsky die Untiefen seiner Figuren aus. Für die Männer in dieser Geschichte gibt es kein Entkommen.“

Hier könnt ihr euch den ganzen Beitrag anhören!

Retten, was zu retten ist. Über „Erschütterung“ von Percival Everett

everett_erschütterungIn den USA, Frankreich und Italien ist Percival Everett längst Kult, hierzulande gilt er noch als Geheimtipp. Zeit, das endlich zu ändern: In seinem wohl spannendsten und bewegendsten Roman Erschütterung erzählt der Autor von einer Verzweiflungstat. Weil er seine Tochter nicht vor ihrer unheilbaren Krankheit bewahren kann, entschließt sich ein Vater stattdessen zu einer wahnwitzigen Rettungsmission nahe der mexikanischen Grenze.

Zach Wells ist niemand, dem man eine Heldentat zutraut. Schließlich ist der Schwarze Paläontologieprofessor nicht gerade ein netter Mensch. Gegenüber Studierenden und KollegInnen ist er zumeist so schonungslos ehrlich und ironisch distanziert, dass es an Schroffheit grenzt. Auch sich selbst betrachtet er bloß mit selbstgerechter, fast spöttischer Abgeklärtheit. Echtes Engagement für andere, gar Herzlichkeit? Fehlanzeige. Mit den Fossilienfunden aus der abgeschiedenen Höhle, für die er als Experte gilt, scheint er sich wohler zu fühlen als in der Gegenwart lebender Menschen.

Mit einer Ausnahme: Zuhause bei seiner zwölfjährigen Tochter Sarah ist Zach nämlich ein anderer. Die Liebe zu ihr macht einen besseren Menschen aus ihm – und er weiß das. Im Gegensatz zur von Alltag und Entfremdung ermatteten Ehe mit seiner Frau Meg ist die Beziehung zwischen Sarah und ihm von spielerischer Leichtigkeit geprägt. Ob während ihrer regelmäßigen Schachpartien, beim Wandern oder am Esstisch, ständig überbieten die beiden einander mit schlagfertigen Kommentaren oder Insiderwitzen, bei denen Sarahs Mutter außen vor bleibt. Zachs Liebe zu ihr ist so bedingungslos wie aufrichtig, allein sie ist es, die ihm das Leben überhaupt lebenswert erscheinen lässt. Daher ist es auch kein Wunder, dass Zach es als Erster bemerkt: Irgendetwas stimmt mit Sarah nicht. Am Anfang steht ein ungewohnt fahrlässiger Fehler beim Schach, am Ende eine Diagnose, die Zach zutiefst erschüttert. Auf der Suche nach der Ursache für Sarahs rätselhafte Sehstörungen wird bei ihr wird das Batten-Syndrom diagnostiziert – eine unheilbare Krankheit, die für die Zwölfjährige nicht nur baldige Demenz, sondern auch einen frühen Tod bedeutet.

Der erste zweier Wendepunkte im Roman

Es ist Sarahs Diagnose, die den ersten zweier Wendepunkte in Percival Everetts Meisterwerk Erschütterung markiert. Was wie ein sarkastischer Campus-Roman beginnt, kippt so jäh ins Tragische, dass es kaum auszuhalten ist. Auf einmal ist man als LeserIn ganz bei Zach, dem Antihelden, den man eben noch scheitern sehen wollte oder dem man wenigstens eine ordentliche Läuterung an den Hals gewünscht hat. Mit schmerzhafter Klarheit, aber ohne Pathos rückt Everett nun die Hilflosigkeit seines Protagonisten in den Fokus: Egal, was er tut, Zach kann Sarah nicht retten. Ihm und Meg bleibt nichts anderes übrig, als tatenlos zuzusehen, wie ihre Tochter Tag für Tag mehr verschwindet.

Aus Verzweiflung kapselt sich Zach immer weiter von seiner Familie ab. Mit der voranschreitenden Demenz seiner Tochter tritt an die Stelle tiefer Trauer jedoch Entschlossenheit: Als er im Kragen eines im Internet gekauften Hemdes einen eingenähten Hilferuf findet, der ihn auf die Spur entführter mexikanischer Frauen führt, trifft Zack nämlich eine riskante Entscheidung. Wenn er Sarah schon nicht retten kann, dann muss er eben jemand anderen retten, ganz gleich, ob aus Altruismus oder bloß für sich selbst. Anstatt seiner Frau Meg zur Seite zu stehen, bricht Zack ins Gebiet nahe der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze auf, um diese Frauen irgendwie zu retten – und plötzlich nimmt Percival Everetts Roman eine weitere überraschende Wendung.

Wozu sich festlegen?

Bei seinen Büchern weiß man nie, was einen erwartet: Vielleicht ist das neben dem trockenen Humor die größte Konstante im Schaffen von Percival Everett. Sein Literaturagent soll – so jedenfalls die Legende – ihn sogar schon einmal angefleht haben, sich als Autor doch bitte, bitte einmal zu wiederholen. Offenbar vergebens: Keiner der mehr als zwanzig Romane, die der 1956 geborene, preisgekrönte US-Autor und Englischprofessor bislang veröffentlicht hat, gleicht dem anderen. Im Falle von Telephone, so der Titel der für den Pulitzer-Preis nominierten Originalversion von Erschütterung, trifft Everetts Unberechenbarkeit sogar auf ein einzelnes Buch zu. Man munkelt, dass drei leicht abweichende Versionen des Romans existieren sollen …

Typisch für Percival Everett: Wozu sich festlegen? Einer wie er lässt sich halt nur ungern einordnen. Vielleicht ist das auch der Grund, warum der Schwarze Schriftsteller selbst in den USA lange eher als Geheimtipp galt – eine Art Writer’s Writer, der vor allem von anderen AutorInnen geschätzt wird, aber nie den ganz großen Erfolg hatte. Trotzdem wächst seine Fangemeinde stetig, wie auch in Frankreich und Italien, wo Percival Everett längst als Kultautor gilt und bereits seit Jahren übersetzt wird. Anders in Deutschland: Hierzulande ist er fast noch ein Unbekannter; tatsächlich ist Erschütterung erst das vierte Buch, das ins Deutsche übertragen wurde.

Von der Westernparodie zum Neo-Western

Ein bemerkenswertes Beispiel für die literarische Spannbreite Everetts erschien bereits 2014 in der Weltlese-Reihe der Büchergilde: Herausgegeben von Ilija Trojanow, der Everett einmal als „literarischen Quentin Tarantino auf Speed“ bezeichnete, bildet der Roman God’s Country einen starken Kontrast zum bewegenden Erschütterung. God’s Country, ursprünglich im Jahr 1994 veröffentlicht, ist eine derbe Westernparodie, die das Spiel mit Genreklischees mit viel Witz auf die Spitze treibt Es ist alles da, was man aus alten Hollywoodschinken und Groschenromanen kennt: die Saloons und die Pistolenduelle, markige Cowboys und Native Americans, Bankräuber und Sheriffs, die ihnen mit dem Galgen drohen. Everetts Personal ist so überzeichnet wie in einer Kino-Groteske, sein Thema jedoch ein ernstes: Indem er dem moralisch verkommenen Ich-Erzähler Curt Marder den aufrechten und integren Schwarzen Fährtenleser Bubba an die Seite stellt, um gemeinsam Marders entführte Frau zu retten, stellt Everett im Laufe des Romans nicht nur den Rassismus seiner Hauptfigur und der damaligen Zeit bloß – er entlarvt auch den inhärenten Rassismus einer ganzen Gattung: Der klassische Western hat die US-amerikanische Kultur geprägt wie kein anderes Genre. Sein Narrativ ist, wie Everett zeigt, aber durch und durch von rassistischen Klischees geprägt, die bis heute in die Gesellschaft hineinwirken.

Obwohl Everetts trockener Witz auch im ungleich ernsteren Erschütterung durchscheint und beide Romane in eine waghalsige Rettungsmission münden, könnten sie kaum unterschiedlicher sein – dabei kommt Everett dem Western im letzten Drittel Erschütterung tatsächlich so nahe wie seit God Country nicht mehr. Als der trauernde Paläontologe Zach Wells im Grenzgebiet zu Mexiko das Fabrikgebäude entdeckt, in der US-amerikanische Neonazis ein gutes Dutzend entführter mexikanischer Frauen zur Arbeit zwingen, findet man sich als LeserIn plötzlich im Setting eines Neo-Westerns wieder und fühlt sich an die trostlosen Wüstenszenen hinter Albuquerque aus der Serie Breaking Bad oder an den Film No Country for Old Men von den Coen-Brüdern erinnert.

Eine Pointe, auf die nur einer wie Everett kommen kann

Mit diesem Bruch im Plot gelingt Everett ein wahres Kunststück: Ohne an Glaubwürdigkeit zu verlieren, wird der anfangs launige, später tieftraurige Roman auf einmal zu einem fesselnden Pageturner, in dem sich der Protagonist ernsthaft in Gefahr begibt. Zwar ist sich Zach im Klaren darüber, dass sein wahnwitziger Plan den Schmerz darüber, Sarah nicht retten zu können, niemals lindern kann, trotzdem sieht er keine Alternative: Er muss diesen Frauen helfen, um irgendjemanden – vielleicht sogar sich selbst – zu retten. Dass Zachs absurd riskante Mission zur Befreiung der Frauen dann ausgerechnet mithilfe eines Hobby-Dichterkreises gelingen könnte, ist eine Pointe, auf die vermutlich nur ein Autor wie Percival Everett kommen kann.

„Thu es oder thu es nicht, beides wird dich verdrießen“, heißt es in dem Zitat von Kierkegaard, das dem Roman nicht ohne Grund vorangestellt ist. Bei der Frage, ob man Percival Everetts Bücher lesen sollte, gilt allerdings das komplette Gegenteil. Es gibt nämlich zwei Arten von LeserInnen, stellte man in der Jury des US-amerikanischen National Book Critics Circle sehr treffend fest: Diejenigen, die Percival Everett lesen – und diejenigen, die etwas verpassen.

Percival Everett: Erschütterung. 288 Seiten. Erschienen bei Hanser und als Lizenzausgabe bei der Büchergilde. Diese Besprechung erschien auch im Magazin 3/22 der Büchergilde, hier kostenlos als Download erhältlich.

Eine Leerstelle der Geschichte. Über „Dunkelblum“ von Eva Menasse

172879_1-0d4b0975Ein Buch, das zu Recht als Meisterwerk gefeiert wird: In ihrem dritten Roman „Dunkelblum“ entfaltet Eva Menasse das Panorama eines österreichischen Dorfes, das von seinen totgeschwiegenen Kriegsverbrechen eingeholt wird – und schafft es, dabei auch noch blendend zu unterhalten.

Mehr als 40 Jahre blieb das kleine österreichische Städtchen Dunkelblum von der Geschichte weitestgehend unberührt. Das Leben ging eben weiter nach dem großen Krieg, an den inzwischen nur noch die Ruine des abgebrannten Adelsschlosses erinnert. Denn die Kontinuität ist groß, wie sie es nur im Mikrokosmos der Provinz sein kann: Dieselben Familien, die einander teils feindselig gegenüberstanden, prägen noch immer das Dorfgeschehen. So gilt ein ehemaliger Nazi-Karrierist inzwischen längst als angesehener Bürger, und selbst das einst prächtige Hotel Tüffer trägt noch denselben Namen, obwohl deren jüdischen Besitzer damals vertrieben wurden. Man hat sich halt arrangiert – und zwar nicht nur miteinander, sondern auch mit den dunkelsten Kapiteln der Ortsgeschichte, über die niemand mehr zu sprechen wagt.

Doch im Spätsommer 1989 kehrt plötzlich Unruhe ins kleine Städtchen ein. Während an der nahegelegenen ungarischen Grenze hunderte Geflüchtete aus der DDR darauf warten, dass Geschichte geschrieben wird, werden die alteingesessenen Bürger Dunkelblums ungewollt an die klaffende Leerstelle in ihrer eigenen erinnert – und das an gleich mehreren Fronten auf einmal. Ein vermeintlich Fremder zieht im Hotel Tüffer ein und fängt an, unbequeme Frage zu stellen. Studierende kommen aus der Hauptstadt, um den verwahrlosten jüdischen Friedhof zu restaurieren. Ein Außenseiter und die jüngste Tochter einer allseits beneideten Weinbauerfamilie tun sich mit dem Ziel zusammen, eine ungeschönte Dorfchronik für ein Heimatmuseum zu schreiben. Und als wäre all das für die verschwiegenen Dorfbewohner nicht genug, wird auf einem Feld auch noch eine Leiche entdeckt, die die Aufmerksamkeit des ganzen Landes aufs beschauliche Dunkelblum lenkt – und auf die Frage, was wirklich in jener Nacht kurz vor Kriegsende geschah. Damals, als das Schloss der Gräfin nach einem rauschenden Fest in Flammen aufging und hunderte Zwangsarbeiter erschossen wurden, ohne dass ein Großteil der Täter oder je ein Grab gefunden wurden. Spätestens als die ersten anonymen Drohbriefe auftauchen und die Weinbauerstochter spurlos verschwindet, ist es vorbei mit der Ruhe, die die Dunkelblumer jahrzehntelang zusammengeschweißt hat.

Etliche solcher Massaker sind in der Region historisch belegt

Mit ihrem dritten Roman Dunkelblum wagt sich die vielfach preisgekrönte Autorin Eva Menasse an eines der dunkelsten Kapitel Österreichs, das auf einer wahren Begebenheit beruht. Ähnlich wie im fiktiven Ort Dunkelblum wurden während eines Festes im Schloss Rechnitz im Burgenland fast 200 Juden ermordet – und das ist nur ein Massaker von vielen, die in dieser Region allein in der Zeit kurz vor Kriegsende dokumentiert sind. Doch trotz der erdrückenden Schwere ihres Sujets ist Menasse mit Dunkelblum etwas ganz Außergewöhnliches gelungen: Das mit Austriazismen gespickte Panorama aus den wechselnden Perspektiven der Dorfbewohner liest sich dank Menasses mal süffisanten, mal tiefschwarzen Humors und der ambivalenten, lebensnahen Charaktere so unterhaltsam, dass man Dunkelblum als LeserIn am Ende beinahe schweren Herzens verlässt. Die Orte und Figuren sind einem so vertraut geworden, dass man in der Bar des Hotel Tüffers problemlos am Stammtisch Platz nehmen könnte. Man weiß ja inzwischen, welche Themen man dort lieber nicht anspricht und von wem man sich besser fernhalten sollte.

Die gebürtige Österreicherin Eva Menasse selbst lebt inzwischen in Berlin. Nach der Lektüre ihres emphatischen, aber auch unbarmherzigen Blickes auf ihre Heimat in Dunkelblum ahnt man, warum sie sich dort wohler fühlt.

Eva Menasse: Dunkelblum. 528 Seiten, erschienen bei Kiepenheuer & Witsch und als Lizenzausgabe bei der Büchergilde. Diese Besprechung erschien bereits als Beitrag im aktuellen Magazin der Büchergilde.

Ordnung und Zerfall. Über „Winterbienen“ von Norbert Scheuer

winterbienenIn Norbert Scheuers Roman „Winterbienen“ schmuggelt ein Imker Juden in Bienenkörben über die Grenze – und hält in seinem geheimen Tagebuch den Zerfall aller Ordnung angesichts des Krieges fest.

Bei seinen Bienen ist die Welt noch in Ordnung. In den Stöcken geht alles seinen gewohnten Gang, ganz im Rhythmus der Natur und ungeachtet des Zweiten Weltkriegs, der immer näher an das kleine Städtchen Kall in der Eifel heranrückt – und damit auch ans Leben des Imkers Egidius Arimond. Anders als sein Bruder Alfons und die meisten Männer der Stadt ist Egidius aufgrund einer Krankheit vom Krieg bislang verschont worden. Seine Epilepsie ist Fluch und Segen zugleich: Ihretwegen verlor er seine Anstellung als Lateinlehrer und wurde zwangssterilisiert, ihretwegen muss er aber auch nicht an die Front. So kann Egidius selbst im Januar 1944 noch ein weitestgehend ruhiges Leben führen, festgehalten in einem heimlichen Tagebuch, das er in einem seiner Bienenkörbe versteckt. Sein Alltag besteht aus dem Versorgen seiner Völker, dem Versuch, die historischen lateinischen Schriften seines Vorfahren Ambrosius Arimond zu übersetzen, und aus amourösen Abenteuern mit den zurückgelassenen Frauen in Kall. Selbst vor einer Affäre mit Charlotte, der Frau des NSDAP-Kreisleiters, schreckt der Imker nicht zurück.

Allerdings hat Egidius auch ein gefährliches Geheimnis: Um sich die Medizin gegen seine epileptischen Anfälle leisten zu können, versteckt er jüdische Flüchtlinge in einem stillgelegten unterirdischen Bergstollen und schmuggelt sie dann in Bienenkörben über die belgische Grenze. Er geht damit ein Risiko ein, das wächst, je näher die Front heranrückt: Immer öfter kreisen britische und US-amerikanische Bomber über der Eifel, immer mehr Soldaten werden in der Stadt und zuletzt sogar im Haus von Egidius stationiert. Die Versorgung bricht zusammen, aus dem Tanzlokal wird ein Lazarett, Bomben zerstören Häuser und schleudern Leichen aus ihren Gräbern. Ohne seine Medizin kehren auch die epileptischen Anfälle zurück und werfen Egidius immer weiter aus der Bahn, bis er kaum noch einen klaren Gedanken fassen kann. Und dann steht eines Tages die Gestapo vor seiner Tür.

„Meine Erinnerungen gleichen denen der Winterbienen in ihrem dunklen Stock; ich weiß nicht, ob etwas erst gestern gewesen ist oder schon lange Jahre zurückliegt. Sie erscheinen mir wie ein winziger Punkt in einem unendlichen Raum.“

In der Danksagung von Winterbienen schreibt Norbert Scheuer, ihm seien die in einem alten Bienenstock entdeckten Aufzeichnungen des entfernt mit ihm verwandten Imkers Arimond anvertraut worden, mit Insektenflügeln zwischen den Seiten und einem Geruch von Wachs und Honig. Scheuer arbeitet dabei mit einer Mischung aus Wahrheit und Fiktion: Tatsächlich wurden in der Region Flüchtlinge von Bauern über die belgische Grenze geschmuggelt, auch gab es im Ort jemanden, dessen Tagebuch aus den letzten Kriegsjahren erhalten blieb. Das Spiel mit der vermeintlichen Authentizität erlaubt es dem Leser, in Winterbienen unmittelbar am Erleben und Denken Arimonds teilzuhaben und so auch Zeuge seiner inneren Zerrrüttung zu werden.

Drehten sich die Einträge im Tagebuch des Bienenzüchters lange um den Versuch, die Normalität im Alltag aufrechtzuerhalten, zeugen sie mit dem Einzug des Krieges in Kall plötzlich vom Zerfall aller Ordnung – der inneren wie der äußeren. Immer öfter bricht Egidius ab, bleiben die Einträge undatiert. Die Sprache wird knapper, verzweifelter, nach Anfällen bisweilen gar fahrig und wirr. Frieden findet der Imker nur, wenn er über seine Bienen und die komplexen Strukturen ihrer Völker schreibt. Dieses Spannungsfeld aus summenden Bienen und dröhnenden Bombern am Himmel, aus Frieden und Schrecken, aus Ordnung und Zerfall ist der Kontrast, dem der Roman seine große Wirkung verdankt und der ihn zu einem Meisterwerk macht, für das Scheuer zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand und mit dem Wilhelm-Raabe-Literaturpreis ausgezeichnet wurde.


Norbert Scheuer: Winterbienen. 320 Seiten, erschienen bei C.H. Beck und als Lizenz bei der Büchergilde. Diese Besprechung erschien erstmals im Magazin der Büchergilde 2/2020.

Fake News #3

rudkoffsky_fake-vorschau-coverEin Update zu Fake wollte ich schon lange mal wieder schreiben, nun möchte ich das aus einem aktuellen Anlass aber nicht weiter hinauszögern. Grund dafür ist die heutige Besprechung von Fake beim Büchermarkt auf Deutschlandfunk. An sich eine sehr schöne Besprechung – zumindest bis kurz vorm Schluss, bei dem der Rezensent Jürgen Deppe als Kritik in den Raum stellt, ich würde in meinem Roman bewusst die Gefahr von Rechts verharmlosen. So bedauerlich ich diesen Eindruck finde, so vehement muss ich ihm hier aber auch (obwohl ich das normalerweise als unsouverän empfinde) widersprechen: Nichts lag mir ferner, im Gegenteil. Vielmehr wollte ich in meinem Roman über den Unschuldsverlust von sozialen Medien schreiben, über den Weg vom vermeintlich harmlosen, anonymen Frustabbau im Netz hin zu organisierten Trollarmeen – und über die realen Konsequenzen, die das für Einzelne und für unsere Gesellschaft inzwischen hat, auch im realen Leben. 

Es hat einen Grund, warum der Roman im Sommer 2015 vor der Flüchtlingskrise endet und warum ich meine zweite Hauptfigur Jan noch zu Anfangszeiten von Pegida recherchieren ließ, als der AfD-Vorsitzende noch Bernd Lucke hieß (der am Ende des Romans in einem Nebensatz vom rechten Flügel geputscht wird): Es geht eben „nur“ um den Beginn einer Entwicklung, die mit der Ermordung Walter Lübckes 2019 ihren vorläufigen und entsetzlichen Höhepunkt fand. Ich glaube auch, dass die Härte und Grausamkeit der Trollangriffe auf Jan im letzten Drittel von Fake hier eigentlich eine klare Sprache sprechen. 

Hätte ich meine Figuren – ja, auch diejenigen aus dem noch frühen Pegida-Mitläufer-Umfeld – aber ohne Empathie schwarz-weiß gezeichnet und nicht als echte Menschen, dann wäre ich der thematischen Herausforderung des Romans nicht gerecht geworden. Denn es sind echte Menschen, die Hass im Netz verbreiten, Nachbarn, Kollegen, vielleicht sogar der eigene Partner. Es sind echte Menschen, die die Polarisierung unserer Gesellschaft vorantreiben und dabei von rechten Strategen hinters Licht geführt, aufgestachelt und instrumentalisiert werden. Mit meinem Roman wollte ich vieles, aber ganz sicher nicht dieses Spiel der Polarisierung mitspielen.

Leider trübt dieser leise Vorwurf die insgesamt ja eigentlich sehr schöne und bis zu diesem Punkt positive Rezension – und ich bin froh, dass diese Lesart nach den wirklich vielen Besprechungen von Fake bislang ein Einzeleindruck ist. Aber: Es ist natürlich das gute Recht des Rezensenten, meinen Versuch, das oben stehende möglichst differenziert im Roman abzubilden, als missverständlich oder misslungen zu empfinden – darum danke ich Jürgen Deppe nichtsdestotrotz für seine Vorstellung von Fake.

Zum Glück nur eine Einzelmeinung

Frank Rudkoffsky _DSC1723Zum Glück gibt es aus den letzten Monaten aber auch weitaus Positiveres zu berichten.
So wurde Fake unter anderem im Börsenblatt, im Emotion Magazin oder vom Nürnberger Buchhändler Steffen Beutel (Buchladen am Kopernikusplatz) bei Lesart auf Deutschlandfunk Kultur empfohlen. Neben etlichen schönen Rezensionen auf Instagram landete mein Roman auch in einigen Jahresbestenlisten von Blogs, etwa bei Sounds & Books (die gelungene Rezension lest ihr hier), Lesen in Leipzig oder – sogar auf Platz 1! – bei Leselust. Ganz besonders habe ich mich im Dezember über die Podcast-Folge von Pageturner gefreut, in der sich Inaiê Macedo gleich ganze 40 Minuten mit der tollen Mareike Fallwickl über Fake unterhält – vielen Dank!

Und wer mich aus Fake lesen hören möchte, hat dazu schon ab morgen wieder die Gelegenheit, dann lese ich nämlich in der Büchergilde Buchhandlung und Galerie in Frankfurt. Am 7. Februar geht es zur Buchhandlung Lehmanns in Leipzig, wohin es mich natürlich im März auch zur Buchmesse verschlägt – und die steht mit vier Lesungen an drei Abenden noch einmal ganz im Zeichen von Fake!

Heimat der Toten. Über „Das Feld“ von Robert Seethaler

Robert Seethaler - Das FeldGleich 29 Verstorbene lässt Robert Seethaler in seinem Roman „Das Feld“ zurück auf ihr Leben blicken und verknüpft ihre Geschichten zu einem bewegenden Kleinstadtporträt. Ein Roman so vielfältig, traurig und schön wie das Leben selbst.

Die letzten Worte eines Menschen: Da denkt man an Pathos und Reue, an finalen Erkenntnisgewinn und überhöhte Einsichten in das, was im Leben wirklich zählt. Man denkt an moralische Belehrungen, an Kitsch. Und an Autoren, die aus diesem Stoff einen esoterischen Roman voller spontan mit Weisheit gesegneter Besserwisser gemacht hätten. Nicht so Robert Seethaler. Die toten Paulstädter, die er in Das Feld zu Wort kommen lässt, wissen es nicht besser. Anstatt von einer höheren Warte aus zu erzählen, bleiben sie auch zwei Meter unter der Erde noch immer, wer sie zu Lebzeiten waren. Die alltäglichen Kämpfe haben sie zwar hinter sich gelassen, auch scheinen alle ihren Frieden mit dem Tod gemacht zu haben, weiser ist allerdings keiner von ihnen geworden. Weder hat der korrupte Bürgermeister aus seinen Fehlern gelernt, noch bereut der Bauer mit dem schlechten Boden die lebenslange Vergeblichkeit seines Tuns. Ein Vater gibt seinem Sohn Ratschläge aus dem Jenseits, die kaum über Renovierungstipps hinausgehen, eine alte Frau blickt auf ihre 67 Liebhaber zurück, während eine andere für ihre Mitbürger bloß noch ein einziges Wort übrig hat: „Idioten“.

Selbstgespräche auf dem Friedhof

29 zumeist einfache Menschen, darunter Alte wie Kinder, Einfältige wie Kluge, Zufriedene wie Ruhelose lässt Robert Seethaler in Das Feld nach ihrem Tod sprechen. Doch die wenigsten wenden sich an die Lebenden. Vielmehr führen sie Selbstgespräche, sie klammern sich zwar nicht an ihr Leben, sehr wohl aber an das, was es einmal ausmachte. Manche erinnern sich ans Sterben, andere ziehen Bilanz, die meisten aber bleiben wenigen Augenblicken verhaftet, die sie in besonders intensiver Erinnerung behielten – und sei es bloß ein unbeschwerter Tag in ihrer Kindheit. Jeder erzählt von dem, was er in seinem Leben als besonders wichtig oder prägend empfand. Von einem Gefühl, einem Moment, einer Person.

„Ein Sonntag ohne dich war nicht vollständig. Dich lieben, dann neben dir liegen, im Bett, im Gras, im Schnee. Das war alles.“

Die kurzen Episoden sind nur lose miteinander verknüpft und auch nicht chronologisch geordnet, und doch vermitteln sie, je mehr Menschen man aus Paulstadt kennenlernt, ein immer präziseres Bild vom Leben in diesem Ort. Irgendwann glaubt man sie zu kennen, die Paulstädter, man nimmt Teil an ihrem Alltag und kennt die Gerüchte und Geschichten, die sie sich erzählen, die kleinen und großen Katastrophen, die Beziehungen untereinander. Man nickt wissend, wenn von Pfarrer Hoberg und seiner brennenden Kirche oder dem eingestürzten Einkaufszentrum die Rede ist, von den Verlierern abends am Tresen im Goldenen Mond oder dem Kind im Sumpf. Indem Robert Seethaler aus den Leben dieser Menschen erzählt, erzählt er zugleich vom Leben in ihrer Stadt. Das Feld ist kein Porträt von 29 Verstorbenen. Es ist das Porträt einer ganzen Gemeinde, ein Heimatroman – umso wehmütiger stimmt dann auch der Abschied aus Paulstadt nach der letzten Seite. Schließlich hatte man sich hier gerade erst eingelebt.


Robert Seethaler: Das Feld. Erschienen bei Hanser Berlin und als Lizenzausgabe bei der Büchergilde, 240 Seiten. Diese Rezension erschien zuerst im Magazin der Büchergilde 1/2019 – erhältlich auch als kostenloses PDF zum Download.

Die Möglichkeit einer Flucht. Über „Die kommenden Jahre“ von Norbert Gstrein

Norbert Gstrein - Die kommenden JahreAls Natascha und Richard eine syrische Flüchtlingsfamilie bei sich aufnehmen, steuert ihre Ehe auf eine Katastrophe zu. In Die kommenden Jahre lässt Norbert Gstrein Empathie und Pragmatismus aufeinandertreffen – und widersteht dabei der Versuchung, einfache Antworten zu geben.

Halb im Scherz, halb im Ernst reden sie alle von Flucht. Noch will niemand auf der Tagung daran glauben, dass der Ernstfall tatsächlich eintreten könnte, ein halbes Jahr vor der Präsidentschaftswahl sagen die meisten aber klar, wohin es sie im Falle eines Wahlsiegs Donald Trumps ziehen würde: nach Kanada. Das ist auch Sehnsuchtsort des österreichischen Gletscherforschers Richard, des Protagonisten in Norbert Gstreins Roman Die kommenden Jahre, der auf Einladung seines alten Freundes Tim nach New York geflogen ist – und die Tagung selbst als kleine Flucht begreift. Der Abstand zu seinem Alltag in Hamburg, zu seiner Frau Natascha tut ihm gut. Aber auch in der Ferne kann Richard der Situation, in die sie ihn gebracht hat, nicht entkommen. Längst haben alle Kollegen den Fernsehbeitrag gesehen, der Artikel in der Illustrierten hat vermutlich bereits die Runde gemacht. Für Tim und Richards ehemalige Studentin Idea, die er kurz darauf in Kanada trifft, ist die Sache klar: Mit ihrem zur Schau gestellten Engagement für die Flüchtlingsfamilie Fahri hat die Schriftstellerin Natascha ihren Mann lächerlich gemacht.

Dabei war es nicht einmal Nataschas Idee, im ungenutzten Sommerhaus am See eine syrische Flüchtlingsfamilie einziehen zu lassen, sondern die ihrer verstorbenen Zwillingsschwester Katja. Aber es ist Natascha, die sich die Hilfe für Herrn und Frau Fahri und ihre Kinder plötzlich zur Lebensaufgabe macht und dafür in Kauf nimmt, dass die Distanz zwischen ihr und Richard größer wird. Er nämlich glaubt, sie wolle den Syrern weniger aus Nächstenliebe denn aus Geltungsdrang helfen, sie dagegen wirft ihm emotionale Kälte vor. Und natürlich ist in Norbert Gstreins Die kommenden Jahre nichts so einfach, wie es zunächst scheint. Nach Richards Heimkehr spitzt sich nicht nur die Ehekrise, sondern auch die Situation am See zu. Immer öfter tauchen Jugendliche am Haus auf, die die ungebetenen Gäste einschüchtern wollen, und auch die Motive der Nachbarn werden zunehmend unklarer. Während Natascha nervöser wird, sich schließlich sogar ein Hotelzimmer in der Nähe des Sees nimmt, um gemeinsam mit Herrn Fahri an einem Text über Flucht zu arbeiten, machen Gerüchte über dessen Vergangenheit die Runde. Richards Zweifel werden umso größer, als sich auf ihrer ersten gemeinsamen Lesung herausstellt, dass Katja und Herr Fahri in ihrem Text nicht seine tatsächliche, sondern bloß eine mögliche Flucht beschrieben haben – ein kleiner Eklat.

Die kommenden Jahre ist mehr als ein Roman über eine Ehe- oder die Flüchtlingskrise. So einfach, bloß satirisch mit Nataschas moralisch-hysterischem Gutmenschentum oder Richards rationalem, kühlem Pragmatismus abzurechnen, macht es sich Norbert Gstrein nicht. Vieles bleibt in der Schwebe, sicher geglaubte Gewissheiten schwinden den Figuren wie die schmelzenden Gletscher, an denen Richard forscht. In früheren Texten Norbert Gstreins spielte oft Heimat eine große Rolle, hier ist es die Sehnsucht nach einem anderen, einem besseren Leben, die sich für Richard an Orten genauso festmacht wie an Menschen: die Sehnsucht nach Kanada, ein Land, das ihn an seine Kindheit erinnert, zugleich aber fern genug ist, um Utopie zu bleiben. Die nach Katja, die vielleicht die passendere Wahl zwischen den Zwillingen gewesen wäre. Und nicht zuletzt die nach Idea, die das verkörpert, was Richard am meisten zu brauchen glaubt – die Möglichkeit einer Flucht. „Natascha, du weißt nicht, wie viele Optionen ich habe“, sagt er einmal im Streit zu seiner Frau. Und irrt sich dabei gewaltig: Am Ende – und das gilt für alle Figuren des Romans – sind es weitaus weniger, als er denkt.


Norbert Gstrein: Die kommenden Jahre. Erschienen bei Hanser und als Lizenzausgabe bei der Büchergilde, 288 Seiten. Diese Rezension erschien erstmals im Magazin der Büchergilde 4/2018 – auch erhältlich zum kostenlosen Download.

Durst. Über Maja Lundes „Die Geschichte des Wassers“

Maja Lunde - Die Geschichte des WassersDie Welt am Abgrund: Im Jahr 2041 flieht ein Vater mit seiner Tochter vor der großen Dürre, während überall neue Grenzen entstehen. Ihre letzte Rettung könnte das Vermächtnis einer Umweltschützerin sein, die einst gegen Wasserverschwendung protestierte. In Die Geschichte des Wassers widmet sich Maja Lunde wieder den großen Themen unserer Zeit.

Es brauchte nur wenig, bis alles auseinanderfiel. Fünf Jahre ohne Regen genügten, um ganz Europa kollabieren zu lassen und neue Grenzen, neue Kriege, neue Regeln zu schaffen. Die reichen Wasserländer im Norden schotten sich ab, während die Menschen aus dem Süden vor der Dürre fliehen. Es sind Franzosen, Spanier oder Italiener, die mitten in Europa in Flüchtlingslagern unterkommen müssen, Menschen, die vor Kurzem noch einen Beruf, ein Zuhause, ein Leben hatten. Auch David und seine Tochter Lou haben alles verloren, geblieben ist ihnen nur die Hoffnung, dass es Lous Mutter Anna vielleicht doch mit dem Baby aus dem Feuer geschafft hat, das die Familie bei der Flucht trennte – doch diese schwindet mit jedem weiteren Tag, an dem sie ohne Meldung die Rotkreuz-Station wieder verlassen müssen. David gibt sein Bestes, um der kleinen Lou ein guter Vater zu sein, gleichwohl erkennt er die Zeichen, dass ihr Überleben im Flüchtlingslager nicht mehr lange gesichert ist. Immer mehr Menschen stehen vor der Tür, in den Hallen wird es enger und in den Vorratskammern leerer. Bald wird das streng rationierte Wasser hier nicht mehr reichen, spätestens dann drohen wieder Feuer und Unruhen. Irgendwann wird David klar: Das ausrangierte Boot, das er und Lou bei einem Haus in der Nähe gefunden haben, ist vielleicht mehr als nur ein Abenteuerspielplatz, um sich Ablenkung zu verschaffen. Es könnte ihre letzte Hoffnung sein.

Es ist dieses Boot, das die beiden Handlungsstränge in Lundes Die Geschichte des Wassers miteinander verknüpft. Vor 24 Jahren gehörte das Boot noch Signe, die zu Beginn des Romans erstmals seit vielen Jahren in den Hafen ihrer norwegischen Heimatstadt einläuft. Für die fast siebzigjährige Umweltschützerin schließt sich mit der Rückkehr ein Kreis. Hier begann einst ihr Engagement gegen den Raubbau an der Natur, ein lebenslanger Kampf, für den Signe einen hohen Preis zahlen musste: Die Beziehung zu ihrer Jugendliebe Magnus zerbrach damals an ihrem Idealismus – und an seinem Verrat. Ein halbes Leben später will Signe Magnus mit seiner größten Sünde konfrontieren. Er war es nämlich, der hinter der Idee steckte, das Gletschereis ihrer gemeinsamen Heimat abzubauen und in großem Stil als Luxuseiswürfel für die Cocktails von Reichen zu verkaufen – ein dekadentes Beispiel für den Raubbau an der Natur, der die Menschheit wenige Jahrzehnte danach in die Katastrophe führte.

Wie schon im Vorgänger Die Geschichte der Bienen setzt Maja Lunde mehrere Handlungsstränge auf verschiedenen Zeitebenen in Verbindung zu großen Umweltthemen und verdeutlicht dabei, wie sehr alles miteinander zusammenhängt – und dass der Eingriff in das fragile Gleichgewicht der Natur unumkehrbare Konsequenzen zur Folge hat. Erschreckend am zweiten Teil des großen „Klima-Quartetts“ der Norwegerin ist vor allem, wie schnell er bereits von der Realität eingeholt wurde. Die auf den ersten Blick geradezu abstruse Idee, Gletschereis in Cocktailbars zu verkaufen, ist als realer Plan inzwischen zum Gegenstand eines Rechtsstreits geworden. In Europa hat man sich derweil längst von der Solidarität gegenüber Flüchtlingen verabschiedet und schottet sich immer strenger nach außen ab. Deshalb ist Die Geschichte des Wassers weit mehr als nur ein Roman über den Klimawandel. Es ist ebenso ein hochaktueller Roman über die Frage, wie schwer es ist, im Angesicht der Not die Menschlichkeit zu bewahren und an Idealen festzuhalten – eine Frage, an deren Antwort sich unsere Gesellschaft auch in der Gegenwart immer wieder aufs Neue messen lassen muss.


Maja Lunde: Die Geschichte des Wassers. Erschienen bei btb und als Lizenzausgabe bei der Büchergilde, 480 Seiten. Diese Rezension erschien erstmals im Magazin der Büchergilde 4/2018 – auch erhältlich zum kostenlosen Download.

Aus den Fugen. Über „Bungalow“ von Helene Hegemann

IMG_3998Seit dieser Woche ist die Shortlist für den Deutschen Buchpreis bekannt und keiner meiner vier Titel ist noch im Rennen. Damit bin ich nun wohl offiziell die lame duck unter den Buchpreisbloggern – und kann mich bei den verbliebenen Büchern eigentlich nur noch fragen: Woran lag’s?

Bungalow von Helene Hegemann machte mich vor allem deshalb neugierig, weil ich bislang partout keinen ihrer Romane lesen wollte. Die Gründe lagen für mich auf der Hand, damals beim Debüt. Da war der aufgepumpte Hype um Axolotl Roadkill, der in mir die für Hypes üblichen Abwehrreflexe weckte. Da war der allzu prominente Name, der bei mir grundsätzliche Skepsis, als zu diesem Zeitpunkt noch unveröffentlichtem Autor aber sicher auch ein wenig Neid hervorrief. Da war das Buch selbst, das, soweit ich es anhand von Auszügen beurteilen konnte, nichts weiter als krass sein wollte. Und nicht zuletzt war da der Plagiatsskandal, der mich abschreckte – die Art und Weise, wie sich Hegemann bei anderen Künstlern bedient hatte, war schließlich nicht einfach nur naiv gewesen. Sondern dreist. Acht Jahre und zwei Romane später gab es aber nun zwei gute Gründe, Helene Hegemann mit Bungalow eine Chance zu geben: Hanser als Verlagshaus und die Nominierung für den Deutschen Buchpreis.

Nach dem Klappentext erwartete ich eine prekäre Coming of Age-Geschichte vor dem Hintergrund einer drohenden Apokalypse, nach den ersten paar Dutzend Seiten jedoch eher einen bemüht krassen Roman, der zwar bedeutungsschwanger daherkam, am Ende aber wenig Substanz hatte. Kurzum: Ich erwartete meinen ersten Verriss als Buchpreisblogger. Gleich auf der ersten Seite begegnen wir der Teenagerin und Ich-Erzählerin Charlie beim Sex mit dem erwachsenen Georg, dessen Frau Maria gerade gelangweilt fernsieht, die Szene eskaliert kurz in Gewalt und löst sich dann harmlos wieder auf. Die Welt ist längst im Arsch, womöglich hat es eine Umweltkatastrophe gegeben, einen Krieg vor unserer Haustür, nichts Genaues weiß man nicht, das bleibt den Lesern des Buches anfangs aber genauso egal wie seinen nihilistischen Figuren. Vieles ist einfallsreich an den ersten Kapiteln von Bungalow, immer wieder streut Hegemann clevere oder irritierende Details ein, die zunächst überraschen und amüsieren, dann aber bloß reiner Selbstzweck ohne Kontext, ohne Bedeutung bleiben. Oft denkt man an futuristische Mode, die sich als Alufolie entpuppt: Es knistert und glänzt an allen Ecken, ist letzten Endes aber dann doch ziemlich dünn. Auch die Struktur von Bungalow macht den Einstieg nicht leichter. Charlie berichtet nicht nur von ihrem toxischen Verhältnis zu den reichen Nachbarn Georg und Marie, sondern taucht auch mit unglaubwürdiger Detailkenntnis in deren Vergangenheit ein. Die Erzählhaltung wird erst schlüssiger, als sich die Perspektive auf Charlies eigenes Leben verengt – und der Roman zu meiner Überraschung plötzlich richtig gut wird.

Zeichen des Niedergangs

Im weiteren Verlauf erzählt Charlie aus ihrer frühen Jugend, schon damals war die Welt nicht mehr in Ordnung, aber noch nicht vollends aus den Fugen geraten. Gemeinsam mit ihrer Mutter, einer schweren Alkoholikerin, deren psychische Aussetzer immer häufiger und länger werden, lebt sie in einem Hochhaus mit Blick auf die Bungalows der Reichen, die Charlie um ihr Leben beneidet. Lässt sich ihre Armut anfangs noch kaschieren, wird die Verwahrlosung der Familie mit jedem Schuljahr offensichtlicher. Das Geld fürs Essen reicht gerade mal bis zur Mitte des Monats, die Kraft zur Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Normen irgendwann nicht einmal mehr für eine Dusche. Die Eskalationen werden immer häufiger, irgendwann stehen sich Charlie und ihre Mutter sogar mit dem Messer gegenüber. Angesichts des Niedergangs allerorten schlagen sie sich aber noch beachtlich gut: Die Stadt ist voller Tierkadaver und Selbstmörder, andauernd wird von blutigen Geiselnahmen und Anschlägen berichtet, sogar von Krieg ist immer öfter die Rede. Und so ist es kein Wunder, dass Iskender, Charlies altkluger, von Kung Fu träumender bester Freund, eine immer kleinere Rolle in ihrem Leben spielt, als das schillernde Paar Georg und Maria in einen der Bungalows zieht. Schnell kippt Charlies Faszination für die beiden in eine Besessenheit, die an Stalking grenzt.

Was anfangs noch nervte, funktioniert im Verlauf des Romans immer besser. Die verschrobenen Details wirken nicht mehr aufgesetzt, sondern erfüllen einen Zeck, fügen sich ins Gesamtbild ein. Helene Hegemann beschreibt in Bungalow nicht nur das Auseinanderdriften der Kluft zwischen Arm und Reich, sondern auch eine Gesellschaft, die den Kipppunkt in Richtung Niedergang bereits überschritten hat – alles ist längst in Auflösung begriffen. Während die einen noch fürchten, dass die Welt, wie wir sie kennen, vor die Hunde geht, können es die anderen kaum erwarten:

„Ich erinnere mich, wie ich irgendwann eine Politikergattin im »Frühstücksfernsehen« darüber reden sah, dass sie ein langes, freies Leben wolle, für sich und alle anderen Menschen, und wie wichtig es sei, Geld zu spenden an Umweltorganisationen und so, und ich dachte nur, dass das klar ist, dass Leute, die Interviews im Fernsehen geben […], die genug zu tun haben, um irgendwas an dieser Welt paradiesisch finden zu können, dass die Organisationen unterstützen, die sich für den Fortbestand ebendieser Welt starkmachen. Wie bei einer tollen Villa, in der jemand lebt, der will nicht, dass die abfackelt oder einstürzt, aber Leute in termitenbefallenen Bretterverschlägen oder ich im Wohnzimmer, das nach Vinylchlorid und modernder Zersetzung stinkt und von dem aus ich in Fenster sehen kann, hinter denen Duftkerzen für achtzig Euro aufflackern, Sandelholz, Leder, Honig, Kräuter, wir konnten nur Zerstörung wollen, oder uns zumindest heimlich danach sehnen. Du musst nicht hungern, um dir eine gewaltvolle Umwälzung der Verhältnisse herbeizuwünschen, du musst dich langweilen. Klanglos vor dich hin versanden und ahnen, dass diese Welt dich nicht nötig hat.“

Diese Zeilen sind nicht nur treffend für die dystopische Zukunftsvision, die Helene Hegemann in Bungalow entwirft. Sie fangen ebenso gut den aktuellen Zeitgeist ein, in dem die Wut der Abgehängten – oder jenen, die sich als solche empfinden – sowohl hierzulande als auch weltweit eine immer größere Wucht entwickelt. Trotz vieler starker Momente gerade in der zweiten Hälfte fehlt Bungalow etwa die kompositorische Klasse und inhaltliche Tiefe von Franziska Hausers Die Gewitterschwimmererin, das definitiv einen Platz auf der Shortlist verdient gehabt hätte. Nichtsdestotrotz hinterlässt Helene Hegemanns dritter Roman einen bleibenden Eindruck – und die Erkenntnis, dass es sich lohnt, seine Scheuklappen hin und wieder abzulegen.Buchpreisblogger_Banner1500x500


Helene Hegemann: Bungalow. Erschienen bei Hanser Berlin, 288 Seiten.

Appell zur Geistesgegenwart. Über Roger Willemsens „Wer wir waren“

Wer wir waren - Roger WillemsenEhe er starb, wollte Roger Willemsen unsere Gegenwart aus der Perspektive der Zukunft beleuchten. Seine Zukunftsrede ist deshalb zu seinem Vermächtnis geworden: eine scharfsinnige und weitsichtige Analyse unserer Zeit.

Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Hoffnungsvolle Utopien sind längst aus der Mode gekommen, haben Platz gemacht für Weltuntergangsszenarien und Kulturpessimismus. Anscheinend haben uns Trump, Brexit und eine AfD im Bundestag das letzte bisschen Optimismus ausgetrieben. Die jüngste große Zukunftsvision? Ein Reinfall mit böser Pointe: Hofften wir vor ein paar Jahren noch auf soziale Medien als Chance für die Demokratie, sehen wir nun hilflos dabei zu, wie ihnen stattdessen die Wahrheit zum Opfer fällt und sie ausgerechnet einem neuen Nationalismus Vorschub leisten. Aber auf eine Gewissheit ist Verlass: Früher war alles besser, schon immer.

„Wenn man es genau bedenkt, ist vom Anfang aller Tage an alles immer schlechter geworden. Luft und Wasser sowieso, dann die Manieren, die politischen Persönlichkeiten, der Zusammenhalt unter den Menschen, das Herrentennis und das Aroma der Tomaten.“

Vielleicht ist es genau dieser leicht spöttische, unaufgeregte Ton, der uns in dieser an vergifteten Debatten und Dauerkrisen übersättigten Zeit am meisten fehlt. Einer wie Roger Willemsen hätte uns mit seiner Klugheit und Geistesgegenwart ein wenig Orientierung geben können und dabei geholfen, die Themen unserer Gegenwart besser einzuordnen. Willemsen war einerseits ein intellektueller und präziser Beobachter der Gesellschaft, wurde im gleichen Maße aber auch für seine Neugier, seine Offenheit, seinen Witz geschätzt. Er konnte sich vortrefflich über die Welt und die Zeit, in der wir leben, amüsieren, war bei aller Ironie aber nie überheblich oder belehrend, sondern immer auch ein überzeugter Moralist und Menschenfreund.

Sein letztes Buch sollte Wer wir waren heißen und unsere Gegenwart aus der Perspektive der Zukunft betrachten – einer Zukunft, die der Autor selbst nicht mehr erleben durfte. Roger Willemsen starb 2016 an Krebs, das Buch hat er vor seinem Tod nicht mehr schreiben können. In seinen letzten Reden vor der Erkrankung jedoch hat Willemsen einige der zentralen Gedanken bereits vorgestellt. Die „Zukunftsrede“ aus dem Juli 2015, auf der dieses letzte Buch nun basiert, ist deshalb zu einem vielleicht nicht beabsichtigten, aber nicht unpassenden Vermächtnis geworden.

Wer wir waren ist ein melancholischer Blick auf die Flüchtigkeit unserer Gegenwart, die dank virtueller Nebenschauplätze immer zersplitterter, immer beschleunigter, immer simulierter wird. Wir leben im Zeitalter der ständigen Ablenkung und verlieren unseren Fokus im medialen Grundrauschen, sind trotz permanenter Selbstdarstellung in sozialen Netzwerken immer seltener tatsächlich anwesend. Viele der Themen und Phänomene, die drei Jahre nach seiner Rede unseren Alltag prägen, nimmt Willemsen bereits mit Scharfsinn und Weitsicht vorweg:

„Jedes Jahr dämmert ein neues Jahr 1984 und dann ein neues Jahr 2000, eine neuere Zukunftsformel haben wir noch nicht. Wir werden diese Zukunft aber auch daran erkennen, dass die Grenzen zwischen dem Original und der Simulation immer stärker verschwimmen.“

Trotz Willemsens kritischer Analyse unserer digitalen Welt ist Wer wir waren alles andere als ein kulturpessimistisches Pamphlet, sondern vielmehr ein Appell zu Aufmerksamkeit und Fokus, ein Appell dazu, innezuhalten und sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Vor allem eines wird nach der Lektüre seiner „Zukunftsrede“ deutlich: Vielleicht war früher nicht alles besser, die Welt aber ist ohne Roger Willemsens Scharfsinn und seinen Witz auf jeden Fall ein wenig ärmer.


Roger Willemsen: Wer wir waren. Erschienen bei S. Fischer sowie als Lizenzausgabe im aktuellen Programm der Büchergilde, 64 Seiten. Diese Besprechung erschien erstmals im Magazin der Büchergilde in Ausgabe 3/18 – hier entlang zum kostenlosen Download!