Österreich

Eine Leerstelle der Geschichte. Über „Dunkelblum“ von Eva Menasse

172879_1-0d4b0975Ein Buch, das zu Recht als Meisterwerk gefeiert wird: In ihrem dritten Roman „Dunkelblum“ entfaltet Eva Menasse das Panorama eines österreichischen Dorfes, das von seinen totgeschwiegenen Kriegsverbrechen eingeholt wird – und schafft es, dabei auch noch blendend zu unterhalten.

Mehr als 40 Jahre blieb das kleine österreichische Städtchen Dunkelblum von der Geschichte weitestgehend unberührt. Das Leben ging eben weiter nach dem großen Krieg, an den inzwischen nur noch die Ruine des abgebrannten Adelsschlosses erinnert. Denn die Kontinuität ist groß, wie sie es nur im Mikrokosmos der Provinz sein kann: Dieselben Familien, die einander teils feindselig gegenüberstanden, prägen noch immer das Dorfgeschehen. So gilt ein ehemaliger Nazi-Karrierist inzwischen längst als angesehener Bürger, und selbst das einst prächtige Hotel Tüffer trägt noch denselben Namen, obwohl deren jüdischen Besitzer damals vertrieben wurden. Man hat sich halt arrangiert – und zwar nicht nur miteinander, sondern auch mit den dunkelsten Kapiteln der Ortsgeschichte, über die niemand mehr zu sprechen wagt.

Doch im Spätsommer 1989 kehrt plötzlich Unruhe ins kleine Städtchen ein. Während an der nahegelegenen ungarischen Grenze hunderte Geflüchtete aus der DDR darauf warten, dass Geschichte geschrieben wird, werden die alteingesessenen Bürger Dunkelblums ungewollt an die klaffende Leerstelle in ihrer eigenen erinnert – und das an gleich mehreren Fronten auf einmal. Ein vermeintlich Fremder zieht im Hotel Tüffer ein und fängt an, unbequeme Frage zu stellen. Studierende kommen aus der Hauptstadt, um den verwahrlosten jüdischen Friedhof zu restaurieren. Ein Außenseiter und die jüngste Tochter einer allseits beneideten Weinbauerfamilie tun sich mit dem Ziel zusammen, eine ungeschönte Dorfchronik für ein Heimatmuseum zu schreiben. Und als wäre all das für die verschwiegenen Dorfbewohner nicht genug, wird auf einem Feld auch noch eine Leiche entdeckt, die die Aufmerksamkeit des ganzen Landes aufs beschauliche Dunkelblum lenkt – und auf die Frage, was wirklich in jener Nacht kurz vor Kriegsende geschah. Damals, als das Schloss der Gräfin nach einem rauschenden Fest in Flammen aufging und hunderte Zwangsarbeiter erschossen wurden, ohne dass ein Großteil der Täter oder je ein Grab gefunden wurden. Spätestens als die ersten anonymen Drohbriefe auftauchen und die Weinbauerstochter spurlos verschwindet, ist es vorbei mit der Ruhe, die die Dunkelblumer jahrzehntelang zusammengeschweißt hat.

Etliche solcher Massaker sind in der Region historisch belegt

Mit ihrem dritten Roman Dunkelblum wagt sich die vielfach preisgekrönte Autorin Eva Menasse an eines der dunkelsten Kapitel Österreichs, das auf einer wahren Begebenheit beruht. Ähnlich wie im fiktiven Ort Dunkelblum wurden während eines Festes im Schloss Rechnitz im Burgenland fast 200 Juden ermordet – und das ist nur ein Massaker von vielen, die in dieser Region allein in der Zeit kurz vor Kriegsende dokumentiert sind. Doch trotz der erdrückenden Schwere ihres Sujets ist Menasse mit Dunkelblum etwas ganz Außergewöhnliches gelungen: Das mit Austriazismen gespickte Panorama aus den wechselnden Perspektiven der Dorfbewohner liest sich dank Menasses mal süffisanten, mal tiefschwarzen Humors und der ambivalenten, lebensnahen Charaktere so unterhaltsam, dass man Dunkelblum als LeserIn am Ende beinahe schweren Herzens verlässt. Die Orte und Figuren sind einem so vertraut geworden, dass man in der Bar des Hotel Tüffers problemlos am Stammtisch Platz nehmen könnte. Man weiß ja inzwischen, welche Themen man dort lieber nicht anspricht und von wem man sich besser fernhalten sollte.

Die gebürtige Österreicherin Eva Menasse selbst lebt inzwischen in Berlin. Nach der Lektüre ihres emphatischen, aber auch unbarmherzigen Blickes auf ihre Heimat in Dunkelblum ahnt man, warum sie sich dort wohler fühlt.

Eva Menasse: Dunkelblum. 528 Seiten, erschienen bei Kiepenheuer & Witsch und als Lizenzausgabe bei der Büchergilde. Diese Besprechung erschien bereits als Beitrag im aktuellen Magazin der Büchergilde.

Nein heißt ja: Petra Piuk dekonstruiert die heile Welt des Schlagers bei lesen.hören 13

IMG_5337Wer meine bisherigen Beiträge zum inzwischen leider beendeten lesen.hören 13 in Mannheim verfolgt hat, dürfte einen Eindruck von der großen Vielfalt des diesjährigen Festivals bekommen haben. Klassische Wasserglaslesungen gab es zwar auch, etwa beim Auftakt mit Joachim Meyerhoff. Aber eben auch Diskussionen über neue Kritikformen bei Twitter, Auszüge aus den NSU-Protokollen, Live-Jazz zu Texten von Roger Willemsen. Oder aber, an diesem Abend: einen Heimatroman mit Schlagersongs. Beziehungsweise: deren Dekonstruktion. Im Gespräch mit der Komödiantin und Schauspielerin Cordula Stratmann stellte die österreichische Autorin Petra Piuk ihren zweiten Roman Toni und Moni oder: Anleitung zum Heimatroman vor – zusammen mit den von Christoph Pütthoff grandios ironisch intonierten Schlagersongs eine Kombination, die für einen sehr lebendigen und launigen Abend sorgte.

Häusliche Gewalt in Dörfern alltäglich

Abgedroschene Klischees von Heimat und Dorfidyll sind natürlich ein allzu dankbarer Stoff für einfache Lacher. Interessant wird es hingegen, wenn die Brüche, die Abgründe hinter der grotesken Scheinwelt zutage treten. Und eben diese Abgründe sind es auch, mit denen Petra Piuk in ihrem „Heimatroman“ so schonungslos wie komisch abrechnet. Immer wieder bricht häusliche und sexuelle Gewalt brutal in die vermeintlich heile Welt ein, die in Schlagern so gerne besungen, in Filmen so gerne idealisiert wird. Der Bruch ist aber nur ein scheinbarer: „In Österreich ist Gewalt gegenüber Kindern und vor allem Frauen gerade in ländlichen Gegenden noch weit verbreitet und für viele normal“, sagt Piuk. Zur Recherche sammelte sie über einen langen Zeitraum Lokalnachrichten über häusliche Gewalt und führte viele Interviews, teils sogar an überraschend auskunftsfreudigen Stammtischen. „Auch in Großstädten gibt es natürlich viel Elend. In Dörfern gibt es aber eine Form der vererbten Gewalt, die sich von Generation zu Generation überträgt“, so Piuk. Ein Kreislauf, der im hermetisch abgeriegelten Dorf nur schwer zu durchbrechen sei. So geht es auch den Figuren in ihrem Roman. Schon als Kind ahmt der vermeintliche Held Toni seinen gewalttätigen und sexuell übergriffigen Vater nach, als Erwachsener entwickelt er sich später zum emphatielosen Mörder, der nicht nur keine Ironie versteht, sondern Schlagertexte und Binsenweisheiten auch allzu wörtlich nimmt. „Der Roman erzählt die Geschichte, wie ein Täter entsteht“, sagt Piuk. Ganz so einfach sei es allerdings nicht: Alle Figuren seien sowohl Täter als auch Opfer zugleich.

Wut und Spieltrieb

Tatsächlich, stellt Piuk im Gespräch mit Stratmann fest, sei Gewalt der gemeinsame Nenner all ihrer Geschichten. „Wut ist ein ganz großer Motor für mich beim Schreiben. Das gleiche gilt für meinen Spieltrieb.“ Letzterer spiegelt sich in den gelesenen Passagen deutlich wider. Toni und Moni ist kein stringent erzählter Roman. Während Piuks sarkastischer Humor auch noch das letzte Dorfklischee gallig dekonstruiert, brechen Metaebenen und Fußnoten immer wieder den Erzählfluss auf oder bilden echte Zeitungsmeldungen einen harten Kontrast zur geschilderten heilen Welt. Doch so amüsant das Buch und der Abend in der Alten Feuerwache stellenweise ist, das Anliegen von Piuk ist ein Ernstes: „Natürlich will ich mit dem Roman auch Aufrütteln. Zu viele Menschen schauen weg, obwohl diese Probleme alltägliche Realität sind“, sagt die Österreicherin, die 2018 mit dem Preis Wortmeldungen für kritisches Denken in der Literatur ausgezeichnet wurde. „Man darf die Dörfer nicht abschotten, sondern muss stattdessen für Aufklärung, Frauenhäuser und mehr Beratungsstellen auf dem Land sorgen.“

Schlager zur Vergewaltigung

Sowohl die gelesenen Romanauszüge als auch das Gespräch sorgten für einen unterhaltsamen Abend, die heimlichen Stars waren aber tatsächlich andere: Christoph Pütthoff, Ensemblemitglied am Schauspiel Frankfurt, sang zwischen den Gesprächsblöcken in Begleitung vom Pianisten Günter Lehr die abgründigsten deutschen Schlagersongs der jüngeren Vergangenheit – und das mit solch ironisch gebrochener Inbrunst, dass ihm das hochamüsierte Publikum sicher auch einen ganzen Abend lang gelauscht hätte. Vermutlich wäre das allerdings nur schwer zu ertragen gewesen: Über Wenn ich an meine Heimat denke von Hansi Hinterseer kann man sich noch relativ harmlos amüsieren. Bei Uwe Busses Ich bin ein zärtlicher Tyrann bleibt einem dann schon mal das Lachen im Halse stecken. Wirklich abgründig wird es – zumal am Weltfrauentag, an dem die Veranstaltung stattfand – aber spätestens beim Song Nein heißt ja von G.G. Anderson, den Petra Piuk in ihrem Roman in eine Vergewaltigungsszene montiert: 

Nein heißt ja / Wenn man lächelt so wie Du / Warum willst Du Deinem Herz nicht trau’n / Nein heißt ja / Wenn man flüstert so wie Du / Du kannst mir ruhig in die Augen schau’n / Nimm den Mut in die Hand / Pfeif auf Deinen Verstand / Und vertrau darauf was Du fühlst / Oh – Nein heißt ja / Wenn man lächelt so wie Du

Das Publikum klatschte nach Aufforderung von Christoph Pütthoff beherzt mit. Der kleine, aber feine Unterschied zum Dorfzelt? Im Saal der Alten Feuerwache war es ironisch gemeint.

Befangen. Über „Dunkelgrün fast schwarz“ von Mareike Fallwickl

IMG_5558Ich sag’s lieber gleich vorweg: Ich bin befangen. Nicht nur, weil ich mit meiner Bloggerfreundin Mareike regelmäßig chatte oder auf Buchmessenpartys zu schlechter Musik tanze. Auch nicht, weil sie so lieb war, mich in der Danksagung ihres Romans zu erwähnen – so leicht bin ich nun auch nicht zu bestechen. Befangen bin ich aus einem ganz anderen Grund: Ich hatte die große Ehre, die Entstehung von Dunkelgrün fast schwarz beinahe von Anfang an mitzuverfolgen. Da wir beide zeitgleich an unseren Romanen arbeiteten, tauschten wir uns regelmäßig über unsere Fortschritte, Erfolge und Niederlagen aus, gaben uns gegenseitig die neuesten Kapitel zu lesen und warteten dann bangend aufs Feedback, machten einander, wenn nötig, hin und wieder auch mal Mut. Das tat gut und machte Spaß, war als Leser aber auch eine frustrierende Erfahrung: Während ihr da draußen den Roman, wie es sich für ihn gehört, am Stück verschlingt, musste ich oft Wochen, manchmal sogar Monate warten, ehe ich weiterlesen durfte. Wer das Buch kennt, kann sich vorstellen, wie schwer mir das fiel. Denn trotz aller Befangenheit: In eine moralische Zwickmühle bringt mich die Vorstellung von Mareikes Roman nicht – dafür ist er nämlich viel zu gut. Und das war er von Anfang an.

Eine gefährliche Freundschaft

Befangen ist auch Moritz, als Raffael plötzlich vor seiner Tür steht, ganze sechzehn Jahre, nachdem er sich einfach so und scheinbar grundlos aus dem Staub machte. Eigentlich sollte er Wichtigeres im Sinn haben, als seinen alten Freund bei sich aufzunehmen, schließlich steht die Geburt seines ersten Kindes unmittelbar bevor. Aber trotz ihrer langen Trennung voneinander ist gleich alles wieder wie früher: Raffael gibt den Ton an, und Moritz tanzt nach seiner Pfeife, obwohl Raffael ganz offensichtlich etwas zu verbergen hat.

Schon als Kleindkind ist Raffael ein echter Rattenfänger. Und ein Arschloch. Mit Grauen muss Moritz‘ Mutter Marie mitansehen, welche Macht der beste Freund ihres Sohnes über ihn hat, wie er ihn manipuliert und drangsaliert, ihn abgängig von sich macht. Und doch sind Moz und Raf, wie die beiden einander als Kinder nannten, stets unzertrennlich: der eine ein rücksichtsloser Draufgänger, der andere sensibel und zaghaft. Sie brauchen einander. Raf holt Moz aus seiner Komfortzone und lässt ihn über sich hinauswachsen, Moz gibt Raf dagegen ein Gefühl der Zugehörigkeit, das ihm in seiner eigenen Familie fehlt. Eine scheinbar unzerstörbare Freundschaft, selbst, als das Waisenmädchen Jonanna zum Duo hinzustößt und mit ihr die ersten Gefühle ins Spiel kommen. Nur Marie bleibt über die Jahre weiter skeptisch: Dieser Raffael ist gefährlich – und wird Moritz eines Tages ins Unglück stürzen. Marie hat einen guten Grund, so zu denken. Sie kennt die Macht, die Raffael über ihren Sohn hat. Sein Vater ist nämlich genau wie er, ein skrupelloser Manipulator, der die Schwächen anderer genau auszunutzen weiß: zum Beispiel ihre Einsamkeit als Mutter zweier Kinder mit einem abwesenden Vater…

So komplex wie spannend

Und das sind gerade einmal die groben Züge der Handlung von Dunkelgrün fast schwarz: Geschickt spinnt Mareike Fallwickl einen Bogen zwischen den Generationen, erzählt multiperspektivisch und auf mehreren Zeitebenen die Geschichten von Marie, Moritz und Johanna und führt deren Fäden mit der Rückkehr des undurchsichtigen Raffaels am Ende schließlich zusammen. Was auf dem Papier kompliziert klingt, fügt sich so mühelos ineinander, dass Mareike mit Dunkelgrün fast schwarz ein wahrer Pageturner über Freundschaft, Abhängigkeiten und die gefährliche Macht, die Menschen übereinander haben, gelungen ist, der bei allem Anspruch in der Komposition nie zu unterhalten vergisst. Im Gegenteil: Man ist als Leser den Figuren so nahe, dass die Spannung manchmal kaum auszuhalten ist.

Liebe Mareike, es ist mir eine Ehre, in einem so gelungenen und wunderbaren Buch erwähnt zu werden – selbst, wenn du meine Hilfe nie brauchtest. Ich weiß, wie hart du an diesem Roman gearbeitet hast: Den Erfolg hast du dir mehr als verdient. Und deshalb bin ich nicht nur befangen, sondern vor allem eines: sehr, sehr stolz auf dich!


Mareike Fallwickl: Dunkelgrün fast schwarz. Erschienen bei der Frankfurter Verlagsanstalt, 480 Seiten. Trotz der Fülle an Besprechungen, die dieser Tage erscheinen, möchte ich eine ganz besonders hervorheben: Auf Buchrevier schrieb Tobias Nazemi einen sehr schönen, ebenfalls sehr persönlichen Leserbrief an Mareike.

Ausgangspunkt ist immer die Sprache. Lucia Leidenfrost im Gespräch

Lucia LeidenfrostVor einigen Monaten habe ich Mir ist die Zunge so schwer, das Erzähldebüt der österreichischen Autorin Lucia Leidenfrost besprochen. In Geschichten wie Einmachgläsern fängt sie darin die Stimmen der Weltkriegsgeneration ein und konserviert Erinnerungen an eine Zeit, über die die Betroffenen ein Leben lang geschwiegen haben. Sie schaut einfachen Menschen aus der Provinz in die Köpfe und auf den Mund – und das ist es, was den Ton ihres ersten Erzählbandes so besonders macht.

Du hast lange an deinem Erzählband „Mir ist die Zunge so schwer“ gearbeitet, die Geschichte „Flugübungen“ haben wir zum Beispiel schon 2011 in ]trash[pool veröffentlicht. Im Fokus vieler der Erzählungen stehen alte Menschen, zumeist Dorfbewohner der österreichischen Weltkriegsgeneration. Wie bist du auf die Idee zu diesem Zyklus gekommen, und wie ist er entstanden?

Es ist eine spannende Frage, wie ein Stoff, ein Thema zu einem kommt. Ich glaube nicht, dass ich das bei Mir ist die Zunge so schwer bis in alle Ecken ausleuchten kann. Im Hinterher fällt es einem natürlich leichter, zu sagen, das war schon alles von Anfang an klar. Es gibt nicht den einen Augenblick, wie ich auf eine Idee komme. Bei Mir ist die Zunge so schwer waren es ein paar lose Enden, die mich dazu gebracht haben. Im Prozess des Schreibens entsteht ja auch manches, was man so nicht erwartet. (Damit will ich aber natürlich nicht sagen, dass es mir „eingegeben“ wird oder mir in den Schoß fällt). Zunächst ist in meinem Schreiben meine eigene Lektüre wahnsinnig wichtig. Ungefähr ein halbes Jahr bevor Flugübungen (damals noch Blendend) entstanden ist, hab ich von Alois Hotschnig Im Sitzen läuft es sich besser davon gelesen. Ich war fasziniert von dieser Klarheit in der Unklarheit, in der dort gesprochen wird. Ich habe manche der Texte immer wieder gelesen und irgendwann – nicht vergessen, aber beiseitegelegt. Diese Texte waren sicher so eine erste Ecke, aber durch eine erste Ecke ist noch lange kein Raum entstanden. Außerdem fasziniert es mich noch immer, dass man beim Aufschreiben von mündlichen Sprechen so viel machen kann – dass da syntaktisch und thematisch alles ein bisschen anders läuft als im Schriftlichen. Und das ist eine zweite Ecke, oder ein weiterer Pfeiler für Texte von mir – denn die Sprache ist das, was mich zum Schreiben bringt.

Dort, wo ich aufgewachsen bin – vielleicht überall auf der Welt? –, erzählen oft die alten Menschen. Sie haben schon viel erlebt und sie sind dem alltäglichen Wahnsinn, den sich jüngere Menschen ausgesetzter fühlen, vielleicht schon ferner. Sie halten Rückblick. Das habe ich in den Erzählungen aufgenommen. Wenn man an etwas schreibt – eigentlich generell, wenn man sich mit etwas beschäftigt –, dann geht man auch mit offeneren Ohren/Augen durch die Welt. Mir sind in den Jahren, in denen ich am Band geschrieben habe (ohne zu wissen, dass daraus einmal ein Buch wird) auch die sprachlichen Eigenheiten bewusster geworden, mir sind alte Menschen, die von sich erzählen, begegnet. Ich bin in der österreichischen Provinz aufgewachsen – Provinz mein ich nicht abwertend! –, und ich höre den Menschen in meiner Umgebung immer gern zu, wenn sie erzählen. Viele der Aussagen meiner Figuren könnten einem so oder so ähnlich begegnen – ich vermute nicht nur in Österreich, sondern überall in Deutschland und Österreich, halt mit einem anderen Lokalkolorit –, aber die Sprache von dort, wo ich aufgewachsen bin, ist mir natürlich näher. Als mich dann meine Lektorin angeschrieben hat, habe ich auch noch ältere Texte dazugenommen, die thematisch zu Mir ist die Zunge so schwer gepasst haben, zum Beispiel Hans Warum.

Du urteilst in deinen Erzählungen nicht über die Figuren, sondern schreibst fast ausschließlich aus ihrer Perspektive, bleibst dabei ganz nah an ihrer Sprache und ihrem persönlichen Horizont. Warum hast du diesen – manchmal fast mündlich klingenden – Tonfall gewählt? Und: Hast du das Gefühl, dass dein Buch angesichts erstarkter rechter Strömungen politischer geworden ist, als du es ursprünglich beabsichtigt hast?

Ich weiß nicht, ob sich jemand anmaßen darf, über jemanden anderen – auf einer persönlichen Ebene – zu urteilen. Das rechtfertigt natürlich keine Taten, man ist schon dafür verantwortlich, was man tut. Aber zu sagen: „Das hätte ich nicht getan“ – das kommt mir nur schwer über die Lippen. Die Kenntnis eines Menschen, also wie ich einen Menschen kenne, ist fragmentarisch. In der Erzählung Vorm jüngsten Gericht thematisiere ich das am Rand. Ich bin deshalb so nah an den Figuren geblieben, weil sie sich am besten selber kennen – mit all ihrer Fragmenthaftigkeit. Das heißt auch, dass sie vor sich selbst Dinge rechtfertigen, die eigentlich nicht zu rechtfertigen sind. Ich habe mich viel mit tragischen und traumatischen Erfahrungen, die Menschen widerfahren, mit dem Dritten Reich, aber auch mit aktuellen Themen, wie politischen Gefangenen beschäftigt. Was mich eigentlich interessiert, ist das, was die Menschen weiterleben, weitermachen lässt, also ihre Resilienz, wenn man so will – und dass das Leben nicht nur schwarz oder weiß ist, sondern dass es Auf und Abs, Gutes und Schlechtes gibt, dass sich manchmal was Gutes als gar nicht so gut herausstellt und umgekehrt und wir trotzdem damit (weiter)leben können. Ich finde es erstaunlich, dass nach dem Krieg die Menschen weitergelebt haben, dass sie auch miteinander gelebt haben, dass sie es geschafft haben, einen Rechtsstaat und eine Demokratie aufzubauen! (mehr …)

Konservierte Erinnerungen. Über „Mir ist die Zunge so schwer“ von Lucia Leidenfrost

IMG_7940Bei aller Präzision – wer verlorene Zeit messen möchte, kommt mit Uhren und Kalendern, mit Tagen, Monaten und Jahren nicht weiter. Verlorene Zeit misst man nämlich am besten in Einmachgläsern: „Wir haben noch zwanzig Marillenwochen und sechzehn Erdbeer-, zwei Dirndl- und achtzig Honigwochen“, heißt es in Goldene Zeiten. Die letzte Erzählung von Lucia Leidenfrosts Debüt ist so programmatisch für das ganze Buch, dass sie genauso gut an dessen Anfang stehen könnte. Den Hinterbliebenen einer Familie gehen langsam, aber sicher die vermachten Einmachgläser zuneige – und mit ihnen das Wissen der vorigen Generationen: „Liebe Mutter, wir haben vergessen, wie es ist, wenn das Gras zum Trocknen ausgebreitet und auf den Hüfeln aufgehängt wird, wie man überhaupt Hüfeln baut. Wir haben vergessen, wie viele Samen wir aufheben müssten, um im nächsten Sommer genug ernten zu können. Du hast immer gesagt, was man hat, hat man, aber wir haben alles vergessen. Nicht, dass du jetzt denkst, dass es uns schlecht geht, es geht uns gut, nur, dass wir so vieles nicht mehr wissen, jetzt, wo der Großvater und der Vater tot sind.“

Geschichten wie Einmachgläser

Im Mittelpunkt der Erzählungen von Mir ist die Zunge so schwer stehen zumeist Menschen am Ende ihres Lebens und ihrer Kräfte, Menschen, deren Gegenwart längst an Gewicht und Klarheit verloren hat. Umso mehr Raum nimmt die Vergangenheit im Österreich der Dreißiger und Vierziger ein, als die Kriegsjahre ihren Alltag prägten. In Geschichten wie Einmachgläsern fängt Lucia Leidenfrost die Stimmen der Weltkriegsgeneration ein und konserviert Erinnerungen an eine Zeit, über die die Betroffenen ein Leben lang geschwiegen haben. Wenn die letzten Zeitzeugen sterben, verlieren sich ihre Stimmen im Strom der Geschichte: Man muss ihnen zuhören, solange man noch kann. In ihren Erzählungen lässt die Autorin sie ein letztes Mal zu Wort kommen. Ohne Pathos oder erhobenen Zeigefinger schaut sie einfachen Menschen aus der österreichischen Provinz in die Köpfe und auf den Mund; sie bleibt dabei stets ganz nah an den Figuren, erlaubt sich keinerlei erzählerische oder historische Distanz – und das ist es, was den Ton von Mir ist die Zunge so schwer so einzigartig macht.

Im Fokus der Erzählungen stehen keine großen geschichtlichen Ereignisse, sondern das Alltägliche, das Zwischenmenschliche. Die Figuren sind gefangen in den Nöten und Zwängen ihrer Zeit, versuchen nichts weiter, als angesichts familiärer, gesellschaftlicher oder politischer Konflikte und Widerstände irgendwie über die Runden zu kommen. Die Moral kann da schon mal auf der Strecke bleiben – Opportunisten und Opfer trennt manchmal nicht mehr als eine einzige Entscheidung voneinander. Die Strategien der Verweigerung und Anpassung sind so unterschiedlich wie die Menschen, von denen Leidenfrost erzählt: Manche verlieren ihre Sprache, andere ihr Gehör; einer versteckt seine eigenen Kinder, schreckt aber nicht vor dem Verrat von Nachbarn zurück; die einen fliehen, während andere zurückbleiben müssen. Allen gemein ist jedoch das Schweigen über ihre Schuld und ihr Wegschauen, über die Schrecken, deren Zeugen sie wurden – ein Schweigen, das, obwohl es die Nachkriegsgeneration zu brechen versuchte, für immer eine große Leerstelle in der Geschichte bleiben wird. All die Menschen, die damals angeblich nichts gewusst haben: In Mir ist die Zunge so schwer bringt Lucia Leidenfrost sie glaubwürdig und einfühlsam zum Sprechen, und das macht ihr Debüt zu einem wirklich besonderen Buch.


Lucia Leidenfrost: Mir ist die Zunge so schwer. 192 Seiten. Erschienen bei Kremayr & Scheriau. Zu meinem ausführlichen Interview mit der Autorin geht es hier entlang!