Heimatroman

Nein heißt ja: Petra Piuk dekonstruiert die heile Welt des Schlagers bei lesen.hören 13

IMG_5337Wer meine bisherigen Beiträge zum inzwischen leider beendeten lesen.hören 13 in Mannheim verfolgt hat, dürfte einen Eindruck von der großen Vielfalt des diesjährigen Festivals bekommen haben. Klassische Wasserglaslesungen gab es zwar auch, etwa beim Auftakt mit Joachim Meyerhoff. Aber eben auch Diskussionen über neue Kritikformen bei Twitter, Auszüge aus den NSU-Protokollen, Live-Jazz zu Texten von Roger Willemsen. Oder aber, an diesem Abend: einen Heimatroman mit Schlagersongs. Beziehungsweise: deren Dekonstruktion. Im Gespräch mit der Komödiantin und Schauspielerin Cordula Stratmann stellte die österreichische Autorin Petra Piuk ihren zweiten Roman Toni und Moni oder: Anleitung zum Heimatroman vor – zusammen mit den von Christoph Pütthoff grandios ironisch intonierten Schlagersongs eine Kombination, die für einen sehr lebendigen und launigen Abend sorgte.

Häusliche Gewalt in Dörfern alltäglich

Abgedroschene Klischees von Heimat und Dorfidyll sind natürlich ein allzu dankbarer Stoff für einfache Lacher. Interessant wird es hingegen, wenn die Brüche, die Abgründe hinter der grotesken Scheinwelt zutage treten. Und eben diese Abgründe sind es auch, mit denen Petra Piuk in ihrem „Heimatroman“ so schonungslos wie komisch abrechnet. Immer wieder bricht häusliche und sexuelle Gewalt brutal in die vermeintlich heile Welt ein, die in Schlagern so gerne besungen, in Filmen so gerne idealisiert wird. Der Bruch ist aber nur ein scheinbarer: „In Österreich ist Gewalt gegenüber Kindern und vor allem Frauen gerade in ländlichen Gegenden noch weit verbreitet und für viele normal“, sagt Piuk. Zur Recherche sammelte sie über einen langen Zeitraum Lokalnachrichten über häusliche Gewalt und führte viele Interviews, teils sogar an überraschend auskunftsfreudigen Stammtischen. „Auch in Großstädten gibt es natürlich viel Elend. In Dörfern gibt es aber eine Form der vererbten Gewalt, die sich von Generation zu Generation überträgt“, so Piuk. Ein Kreislauf, der im hermetisch abgeriegelten Dorf nur schwer zu durchbrechen sei. So geht es auch den Figuren in ihrem Roman. Schon als Kind ahmt der vermeintliche Held Toni seinen gewalttätigen und sexuell übergriffigen Vater nach, als Erwachsener entwickelt er sich später zum emphatielosen Mörder, der nicht nur keine Ironie versteht, sondern Schlagertexte und Binsenweisheiten auch allzu wörtlich nimmt. „Der Roman erzählt die Geschichte, wie ein Täter entsteht“, sagt Piuk. Ganz so einfach sei es allerdings nicht: Alle Figuren seien sowohl Täter als auch Opfer zugleich.

Wut und Spieltrieb

Tatsächlich, stellt Piuk im Gespräch mit Stratmann fest, sei Gewalt der gemeinsame Nenner all ihrer Geschichten. „Wut ist ein ganz großer Motor für mich beim Schreiben. Das gleiche gilt für meinen Spieltrieb.“ Letzterer spiegelt sich in den gelesenen Passagen deutlich wider. Toni und Moni ist kein stringent erzählter Roman. Während Piuks sarkastischer Humor auch noch das letzte Dorfklischee gallig dekonstruiert, brechen Metaebenen und Fußnoten immer wieder den Erzählfluss auf oder bilden echte Zeitungsmeldungen einen harten Kontrast zur geschilderten heilen Welt. Doch so amüsant das Buch und der Abend in der Alten Feuerwache stellenweise ist, das Anliegen von Piuk ist ein Ernstes: „Natürlich will ich mit dem Roman auch Aufrütteln. Zu viele Menschen schauen weg, obwohl diese Probleme alltägliche Realität sind“, sagt die Österreicherin, die 2018 mit dem Preis Wortmeldungen für kritisches Denken in der Literatur ausgezeichnet wurde. „Man darf die Dörfer nicht abschotten, sondern muss stattdessen für Aufklärung, Frauenhäuser und mehr Beratungsstellen auf dem Land sorgen.“

Schlager zur Vergewaltigung

Sowohl die gelesenen Romanauszüge als auch das Gespräch sorgten für einen unterhaltsamen Abend, die heimlichen Stars waren aber tatsächlich andere: Christoph Pütthoff, Ensemblemitglied am Schauspiel Frankfurt, sang zwischen den Gesprächsblöcken in Begleitung vom Pianisten Günter Lehr die abgründigsten deutschen Schlagersongs der jüngeren Vergangenheit – und das mit solch ironisch gebrochener Inbrunst, dass ihm das hochamüsierte Publikum sicher auch einen ganzen Abend lang gelauscht hätte. Vermutlich wäre das allerdings nur schwer zu ertragen gewesen: Über Wenn ich an meine Heimat denke von Hansi Hinterseer kann man sich noch relativ harmlos amüsieren. Bei Uwe Busses Ich bin ein zärtlicher Tyrann bleibt einem dann schon mal das Lachen im Halse stecken. Wirklich abgründig wird es – zumal am Weltfrauentag, an dem die Veranstaltung stattfand – aber spätestens beim Song Nein heißt ja von G.G. Anderson, den Petra Piuk in ihrem Roman in eine Vergewaltigungsszene montiert: 

Nein heißt ja / Wenn man lächelt so wie Du / Warum willst Du Deinem Herz nicht trau’n / Nein heißt ja / Wenn man flüstert so wie Du / Du kannst mir ruhig in die Augen schau’n / Nimm den Mut in die Hand / Pfeif auf Deinen Verstand / Und vertrau darauf was Du fühlst / Oh – Nein heißt ja / Wenn man lächelt so wie Du

Das Publikum klatschte nach Aufforderung von Christoph Pütthoff beherzt mit. Der kleine, aber feine Unterschied zum Dorfzelt? Im Saal der Alten Feuerwache war es ironisch gemeint.

Heimat der Toten. Über „Das Feld“ von Robert Seethaler

Robert Seethaler - Das FeldGleich 29 Verstorbene lässt Robert Seethaler in seinem Roman „Das Feld“ zurück auf ihr Leben blicken und verknüpft ihre Geschichten zu einem bewegenden Kleinstadtporträt. Ein Roman so vielfältig, traurig und schön wie das Leben selbst.

Die letzten Worte eines Menschen: Da denkt man an Pathos und Reue, an finalen Erkenntnisgewinn und überhöhte Einsichten in das, was im Leben wirklich zählt. Man denkt an moralische Belehrungen, an Kitsch. Und an Autoren, die aus diesem Stoff einen esoterischen Roman voller spontan mit Weisheit gesegneter Besserwisser gemacht hätten. Nicht so Robert Seethaler. Die toten Paulstädter, die er in Das Feld zu Wort kommen lässt, wissen es nicht besser. Anstatt von einer höheren Warte aus zu erzählen, bleiben sie auch zwei Meter unter der Erde noch immer, wer sie zu Lebzeiten waren. Die alltäglichen Kämpfe haben sie zwar hinter sich gelassen, auch scheinen alle ihren Frieden mit dem Tod gemacht zu haben, weiser ist allerdings keiner von ihnen geworden. Weder hat der korrupte Bürgermeister aus seinen Fehlern gelernt, noch bereut der Bauer mit dem schlechten Boden die lebenslange Vergeblichkeit seines Tuns. Ein Vater gibt seinem Sohn Ratschläge aus dem Jenseits, die kaum über Renovierungstipps hinausgehen, eine alte Frau blickt auf ihre 67 Liebhaber zurück, während eine andere für ihre Mitbürger bloß noch ein einziges Wort übrig hat: „Idioten“.

Selbstgespräche auf dem Friedhof

29 zumeist einfache Menschen, darunter Alte wie Kinder, Einfältige wie Kluge, Zufriedene wie Ruhelose lässt Robert Seethaler in Das Feld nach ihrem Tod sprechen. Doch die wenigsten wenden sich an die Lebenden. Vielmehr führen sie Selbstgespräche, sie klammern sich zwar nicht an ihr Leben, sehr wohl aber an das, was es einmal ausmachte. Manche erinnern sich ans Sterben, andere ziehen Bilanz, die meisten aber bleiben wenigen Augenblicken verhaftet, die sie in besonders intensiver Erinnerung behielten – und sei es bloß ein unbeschwerter Tag in ihrer Kindheit. Jeder erzählt von dem, was er in seinem Leben als besonders wichtig oder prägend empfand. Von einem Gefühl, einem Moment, einer Person.

„Ein Sonntag ohne dich war nicht vollständig. Dich lieben, dann neben dir liegen, im Bett, im Gras, im Schnee. Das war alles.“

Die kurzen Episoden sind nur lose miteinander verknüpft und auch nicht chronologisch geordnet, und doch vermitteln sie, je mehr Menschen man aus Paulstadt kennenlernt, ein immer präziseres Bild vom Leben in diesem Ort. Irgendwann glaubt man sie zu kennen, die Paulstädter, man nimmt Teil an ihrem Alltag und kennt die Gerüchte und Geschichten, die sie sich erzählen, die kleinen und großen Katastrophen, die Beziehungen untereinander. Man nickt wissend, wenn von Pfarrer Hoberg und seiner brennenden Kirche oder dem eingestürzten Einkaufszentrum die Rede ist, von den Verlierern abends am Tresen im Goldenen Mond oder dem Kind im Sumpf. Indem Robert Seethaler aus den Leben dieser Menschen erzählt, erzählt er zugleich vom Leben in ihrer Stadt. Das Feld ist kein Porträt von 29 Verstorbenen. Es ist das Porträt einer ganzen Gemeinde, ein Heimatroman – umso wehmütiger stimmt dann auch der Abschied aus Paulstadt nach der letzten Seite. Schließlich hatte man sich hier gerade erst eingelebt.


Robert Seethaler: Das Feld. Erschienen bei Hanser Berlin und als Lizenzausgabe bei der Büchergilde, 240 Seiten. Diese Rezension erschien zuerst im Magazin der Büchergilde 1/2019 – erhältlich auch als kostenloses PDF zum Download.