Sehnsucht nach Auflösung: „Über den Winter“ von Rolf Lappert

DSC_0186Fast hätte ich ihn dann doch nicht gelesen. Dabei hatten mich nicht nur die begeisterten Besprechungen bei Buchrevier und Kaffeehaussitzer neugierig auf Rolf Lapperts Roman gemacht – auch das Thema von „Über den Winter“ sprang mich sofort an: Ein Mann in der Midlife Crisis reist zum ersten Mal seit Jahren in die Heimat, um seine Schwester zu beerdigen. Dort lernt er nicht nur seine Familie neu kennen, sondern lässt auch sein altes, ihm fad gewordenes Künstlerleben zurück. Ein Coming of Age-Roman unter umgekehrten Vorzeichen sozusagen, und das auch noch vor der tristen Kulisse Hamburgs im Winter – das klang ganz nach einem Roman für mich!

Entsprechend groß war meine Vorfreude, Rolf Lappert auf der Frankfurter Buchmesse lesen zu hören. Ich muss ehrlich sein: Ich habe mich in meinem Leben schon mehr gelangweilt. Ein oder zweimal jedenfalls. Vielleicht lag es an der ritalinbedürftigen Schulklasse, die rings um mich die Stühle besetzte, vielleicht auch an der Messeluft, die samstags irgendwo zwischen Seminarraum nach sechsstündiger Klausur und Turnhalle schwankt. Doch selbst Tobias Nazemi von Buchrevier, erklärter Fan des Buches, schien sich zu langweilen; seinen Vorschlag, stattdessen ein Bier trinken zu gehen, nahm ich jedenfalls dankbar an.

Die Last der Freiheit

Gelesen habe ich „Über den Winter“ dann trotzdem – und dabei genau das, was mich auf der Lesung noch langweilte, bei der Lektüre am meisten genossen: die Langsamkeit des Buches. Denn Rolf Lappert nimmt sich wirklich Zeit. Dem Plot fehlt jede Dringlichkeit: Lennard Salm hat es nämlich nicht eilig. Nichts in seinem Leben treibt ihn noch an; nichts motiviert ihn genug, um aus dem Trott, aus seiner Lethargie auszubrechen. Erst der Tod seiner älteren Schwester setzt in Salm wieder etwas in Gang. Er kehrt zum ersten Mal seit Jahren zu seiner Familie nach Hamburg zurück und ändert sein Leben – indem er es aufgibt. Salm ist keiner, der sich plötzlich aufrafft und die Dinge anpackt. Im Gegenteil: Er wirft radikal Ballast ab, lässt in seiner Sehnsucht nach Auflösung alles los und davontreiben, was ihm zeitlebens am meisten bedeutet hat. Dass sein Koffer auf der Hinreise verloren ging, macht ihm nichts aus: Salm vermisst ihn genauso wenig wie das Künstlerleben, das er hinter sich lassen will, ein Leben, auf das er melancholisch und mit mildem Sarkasmus zurückblickt, ohne es je sentimental zu verklären.

Denn im Prinzip war es bedeutungslos: Salm hat nach seinem Wegzug aus Hamburg nirgends Wurzeln geschlagen und war nie fähig, eine feste Bindung einzugehen. Er hat sich stets bloß dem Sog hingegeben und lebte an unterschiedlichsten Orten von Projekt zu Projekt, von Partnerin zu Partnerin; nun spürt Salm jedoch, dass er längst nicht mehr selbst die treibende Kraft in seinem Leben ist – und will den Erwartungen an seine Person einfach nicht mehr gerecht werden müssen. Indem er zu seinem immer pflegebedürftigeren Vater zieht, gibt Lennard Salm jedoch nicht nur seine Profession auf, sondern auch seine Freiheit.

Vom Wert, gebraucht zu werden

Eine Freiheit, die Salms Vater niemals hatte: Weil er erst für seinen kranken Vater, später für die ungeplanten Kinder sorgen musste, war er gezwungen, seine Leidenschaft für die Vulkanforschung aufzugeben. Wie in allen Biografien waren es Zufälle, falsche Entscheidungen und seltenes Glück, die sein Leben prägten – ein Leben, dessen Träume von Verantwortung und Pragmatismus erstickt wurden. Und dennoch scheint er im Alter zufriedener zu sein als der ungebundene, freie Künstler Lennard Salm.

Im Grunde ist „Über den Winter“ ein Heimat-, ein Familienroman. Während Salm verloren durch die winterlichen Straßen Hamburgs streift und den Niedergang seines alten Viertels beschreibt, findet er langsam, aber stetig zu einer Verbundenheit zurück, die ihn mehr erfüllt als die Freiheit seines alten Lebens: Salm entdeckt den Wert darin, gebraucht zu werden. Es passiert viel in diesem Roman und eigentlich überhaupt nichts. Und genau das macht seinen Reiz, seinen Sog aus: Als Leser ist man ganz bei Salm und lässt sich melancholisch mit ihm durch die Kälte treiben, wenn er seine so eigensinnige wie sympathische Schwester Bille trifft, alte Nachbarn besucht oder zarte Bande zu einer Nachbarin mit ihrem pubertierenden Sohn knüpft. Rolf Lappert erzählt mit viel Atmosphäre und noch mehr Stille davon, wie sich Lennard Salm nach und nach auf seinen Kern, seine Herkunft, reduziert und sich dabei verletzlich macht. In der letzten Szene ist er wieder ganz Kind, und alles steht auf Anfang: Lennard Salm hat mit 49 Jahren nicht die geringste Ahnung, was er mit dem Rest seines Lebens anfangen soll – und weiß plötzlich endlich wieder, was Freiheit ist.


Rolf Lappert, Über den Winter
Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-24905-9

3 Kommentare

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s