Shortlist

Ordnung und Zerfall. Über „Winterbienen“ von Norbert Scheuer

winterbienenIn Norbert Scheuers Roman „Winterbienen“ schmuggelt ein Imker Juden in Bienenkörben über die Grenze – und hält in seinem geheimen Tagebuch den Zerfall aller Ordnung angesichts des Krieges fest.

Bei seinen Bienen ist die Welt noch in Ordnung. In den Stöcken geht alles seinen gewohnten Gang, ganz im Rhythmus der Natur und ungeachtet des Zweiten Weltkriegs, der immer näher an das kleine Städtchen Kall in der Eifel heranrückt – und damit auch ans Leben des Imkers Egidius Arimond. Anders als sein Bruder Alfons und die meisten Männer der Stadt ist Egidius aufgrund einer Krankheit vom Krieg bislang verschont worden. Seine Epilepsie ist Fluch und Segen zugleich: Ihretwegen verlor er seine Anstellung als Lateinlehrer und wurde zwangssterilisiert, ihretwegen muss er aber auch nicht an die Front. So kann Egidius selbst im Januar 1944 noch ein weitestgehend ruhiges Leben führen, festgehalten in einem heimlichen Tagebuch, das er in einem seiner Bienenkörbe versteckt. Sein Alltag besteht aus dem Versorgen seiner Völker, dem Versuch, die historischen lateinischen Schriften seines Vorfahren Ambrosius Arimond zu übersetzen, und aus amourösen Abenteuern mit den zurückgelassenen Frauen in Kall. Selbst vor einer Affäre mit Charlotte, der Frau des NSDAP-Kreisleiters, schreckt der Imker nicht zurück.

Allerdings hat Egidius auch ein gefährliches Geheimnis: Um sich die Medizin gegen seine epileptischen Anfälle leisten zu können, versteckt er jüdische Flüchtlinge in einem stillgelegten unterirdischen Bergstollen und schmuggelt sie dann in Bienenkörben über die belgische Grenze. Er geht damit ein Risiko ein, das wächst, je näher die Front heranrückt: Immer öfter kreisen britische und US-amerikanische Bomber über der Eifel, immer mehr Soldaten werden in der Stadt und zuletzt sogar im Haus von Egidius stationiert. Die Versorgung bricht zusammen, aus dem Tanzlokal wird ein Lazarett, Bomben zerstören Häuser und schleudern Leichen aus ihren Gräbern. Ohne seine Medizin kehren auch die epileptischen Anfälle zurück und werfen Egidius immer weiter aus der Bahn, bis er kaum noch einen klaren Gedanken fassen kann. Und dann steht eines Tages die Gestapo vor seiner Tür.

„Meine Erinnerungen gleichen denen der Winterbienen in ihrem dunklen Stock; ich weiß nicht, ob etwas erst gestern gewesen ist oder schon lange Jahre zurückliegt. Sie erscheinen mir wie ein winziger Punkt in einem unendlichen Raum.“

In der Danksagung von Winterbienen schreibt Norbert Scheuer, ihm seien die in einem alten Bienenstock entdeckten Aufzeichnungen des entfernt mit ihm verwandten Imkers Arimond anvertraut worden, mit Insektenflügeln zwischen den Seiten und einem Geruch von Wachs und Honig. Scheuer arbeitet dabei mit einer Mischung aus Wahrheit und Fiktion: Tatsächlich wurden in der Region Flüchtlinge von Bauern über die belgische Grenze geschmuggelt, auch gab es im Ort jemanden, dessen Tagebuch aus den letzten Kriegsjahren erhalten blieb. Das Spiel mit der vermeintlichen Authentizität erlaubt es dem Leser, in Winterbienen unmittelbar am Erleben und Denken Arimonds teilzuhaben und so auch Zeuge seiner inneren Zerrrüttung zu werden.

Drehten sich die Einträge im Tagebuch des Bienenzüchters lange um den Versuch, die Normalität im Alltag aufrechtzuerhalten, zeugen sie mit dem Einzug des Krieges in Kall plötzlich vom Zerfall aller Ordnung – der inneren wie der äußeren. Immer öfter bricht Egidius ab, bleiben die Einträge undatiert. Die Sprache wird knapper, verzweifelter, nach Anfällen bisweilen gar fahrig und wirr. Frieden findet der Imker nur, wenn er über seine Bienen und die komplexen Strukturen ihrer Völker schreibt. Dieses Spannungsfeld aus summenden Bienen und dröhnenden Bombern am Himmel, aus Frieden und Schrecken, aus Ordnung und Zerfall ist der Kontrast, dem der Roman seine große Wirkung verdankt und der ihn zu einem Meisterwerk macht, für das Scheuer zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand und mit dem Wilhelm-Raabe-Literaturpreis ausgezeichnet wurde.


Norbert Scheuer: Winterbienen. 320 Seiten, erschienen bei C.H. Beck und als Lizenz bei der Büchergilde. Diese Besprechung erschien erstmals im Magazin der Büchergilde 2/2020.

Die Buchpreisblogger 2018

BuchpreisbloggerJetzt ist es offiziell: Gemeinsam mit Sandro Abbate gehe ich bei den Buchpreisbloggern in meine zweite – und sicher letzte – Amtszeit. Wir zwei älteren Herren sind nun also die lame ducks, die vom hungrigen Nachwuchs gefordert werden, wenn es ab dem 14. August gilt, die nominierten Romane für den Deutschen Buchpreis 2018 zu besprechen. Aber die Hoffnung ist groß, dass uns die Neuzugänge im Team mit ihrem geradezu jugendlichen Esprit ein bisschen mitziehen werden – eine spannende Zusammenstellung ist es nämlich allemal: Auf Bloggerseite sind diesmal Juliane Noßack und Stefan Diezmann als das dynamische Duo Poesierausch dabei. Als Booktuberin rückt Mona Salzbrunn aka Bücherwunder die Longlist für uns ins Rampenlicht, während der Buchhändler und selbsternannte literarische Nerd Florian Valerius bei Instagram nicht nur Bilder sprechen lässt, sondern dabei sicher wie gewohnt auch mit wenigen Worten den Kern trifft.

Und was ist in diesem Jahr von mir zu erwarten? Nun, als Wiederholungstäter gebe ich mich da mal so pomadig wie Frau Merkel in ihrem erfrischendsten Wahlkampf und sage ganz einfach: Sie kennen mich. Und falls nicht – hier noch einmal meine Beiträge zum #dbp17: Jonas Lüscher – Kraft / Sven Regener – Wiener Straße / Franzobel – Das Floß der Medusa / Julia Wolf – Walter Nowak bleibt liegen / Buchhändlerinnen im Gespräch zum #dbp17 / Jakob Nolte – Schreckliche Gewalten / Robert Menasse – Die Hauptstadt.

Unsere Beiträge zur Longlist und später dann zur Shortlist veröffentlichen wir unter dem dem Hashtag #dbp18 über unsere eigenen Kanäle, sie werden aber auch auf dem offiziellen Blog des Deutschen Buchpreises sowie auf Facebook geteilt. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit dem Team und die Verkündung der nominierten Romane – da wir Blogger einen unserer Besten in die Jury schleusen konnten, bin ich hinsichtlich der Auswahl in jedem Fall schon einmal guter Dinge!

Buchhändlerinnen im Gespräch zum #dbp17

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Es ist ja schön und gut, wenn die von der Jury nominierten Titel im Feuilleton besprochen und von uns Buchpreisbloggern vorgestellt werden. Aber wie kommen Long- und Shortlist des Deutschen Buchpreises eigentlich bei denen an, die die Bücher dann auch verkaufen sollen? Ich habe mit Buchhänderlinnen über die Auswahl der Jury und ihre Favoriten gesprochen. Maria-Christina Piwowarski arbeitet seit 2012 bei Ocelot, not just another bookstore, Jacqueline Masuck seit 2000 in der Belletristik-Abteilung beim KulturKaufhaus Dussmann; darüber hinaus bloggt sie auf masuko13 über Literatur und war in den vergangenen Jahren Teil des Buchpreisbloggerteams.

Wie zufrieden seid ihr mit der Longlist-Auswahl der Jury?

Piwowarski: In den vergangenen Jahren habe ich vor allem festgestellt, dass es mir die wechselnde Jury wohl nie recht machen kann. Auch in diesem Jahr finde ich die Liste bedauerlich unspektakulär. Mir fehlt schlicht EIN Titel darauf, für den ich so richtig die Daumen drücken will, für den ich brennen kann. Aber ich sehe durchaus ein, dass das ein rein subjektives Problem ist. Ich habe mich für Christine Wunnikes Katie und Das Jahr der Frauen von Christoph Höhtker gefreut und fand die Nominierung von Schreckliche Gewalten von Jakob Nolte eine gute und mutige Entscheidung. Den Rest der Liste musste ich hinnehmen – wie das Berliner Wetter in diesem Sommer.

Masuck: Ich fand die Longlist sehr ausgewogen. Es waren einige Titel aus Indie-Verlagen dabei mit sehr literarischen Büchern wie Jakob Noltes Schreckliche Gewalten (Matthes & Seitz). Gleichzeitig waren auch große Verlage vertreten wie Suhrkamp mit drei AutorInnen und Galiani mit dem großartig unterhaltenden Roman Wiener Straße von Sven Regener. Für uns Buchhändler ist es immer schön, wenn die deutsche Buchlandschaft in ihrer gesamten Vielfalt präsentiert wird. Die Kunden nehmen das auch begeistert an, das spürt man dann an den guten Abverkäufen. Im KulturKaufhaus Dussmann präsentieren wir deshalb bereits die Titel der Longlist als großes Medienereignis.

Welchen Titel habt ihr vermisst?

Piwowarski: Einen? Ich kann absolut nicht nachvollziehen, dass weder Svealena Kutschke für Stadt aus Rauch noch Sabrina Janesch für Die goldene Stadt nominiert wurden. Darüber hinaus hätte ich zu gern Jana Hänsel, Zsuzsa Bánk, Lana Lux, Chris Kraus, Mariana Leky, Barbara Zoeke und Isabel Fargo Cole auf der Longlist gesehen. Und Uwe Timm.

Masuck: Ich hätte mich sehr gefreut, wenn Lana Lux mit Kukolka und Kevin Kuhn mit Liv es auf die Longlist geschafft hätten.

Haben es die richtigen Bücher in die Shortlist geschafft?

Piwowarski: Unter den gegebenen Umständen schon. Feridun Zaimoglu mit seinem gefühlten Dauerabonnement auf die Longlist hätte mit Evangelio im Lutherjahr vermutlich zu gewollt gewirkt. Auch Jonas Lüscher und Kerstin Preiwuß haben meiner Meinung nach mit diesen Büchern keinen Shortlist-Platz verdient. Und Sven Regener zu nominieren fand ich (bei aller Sympathie) genauso unsinnig, wie im letzten Jahr Joachim Meyerhoff (ebenfalls bei aller Sympathie) auf die Longlist zu setzen.

Masuck: Ich freue mich wirklich wahnsinnig, dass der Suhrkamp Verlag mit drei Titeln auf der Shortlist vertreten ist. Hier drücke ich ganz besonders die Daumen, dass einer der drei AutorInnen den Deutschen Buchpreis gewinnt. Allerdings hätte ich gerne noch Ingo Schulze mit seinem Roman Peter Holtz aus dem S. Fischer Verlag auf der Shortlist gesehen.

Wer, glaubt ihr, gewinnt den Deutschen Buchpreis?

Masuck: Eine Prognose wage ich momentan nicht, da ich einige der Shortlist-Titel noch lesen möchte. Zum Beispiel auch Falkners Romeo oder Julia aus dem Berlin Verlag.

Piwowarski: Da mein „Glaube“ hier scheinbar keine Rolle spielt (siehe Frage zwei: Auf alle diese AutorInnen hätte ich zu gern ein Monatsgehalt gewettet.), wünsche ich den Buchpreis einfach Marion Poschmann oder Sasha Marianna Salzmann. Auch mit Franzobel wäre ich zufrieden – unter den gegebenen Umständen. Zudem muss ich, auch, wenn das nicht gefragt war, ergänzen, dass ich Margaret Atwood als Gewinnerin des diesjährigen Friedenspreises des Deutschen Buchhandels eine so grandiose Entscheidung finde, dass mich das mit all meinem Gram versöhnt, zumal ich mich auch jetzt schon auf die nächste Longlist freue. Ich habe es versucht, ich kann nicht anders.

***

Nicht nur unter uns Buchpreisbloggern polarisiert die Auswahl der Jury zuweilen – und das ist auch gut so: Man spricht und diskutiert über Literatur, schafft dadurch Aufmerksamkeit für AutorInnen und Bücher, die ohne Nominierung womöglich nur wenig öffentliche Beachtung gefunden hätten. Allerdings gibt es auch deutlich kritischere Stimmen zur Longlist des Deutschen Buchpreises. Angelika Abels, Bloggerin und Inhaberin der Buchhandlung Angelikas Büchergarten, antwortete mir: „Ehrlich gesagt habe ich mir die Longlist erst angeschaut, nachdem Deine Anfrage kam. Warum? Nun, in den letzten beiden Jahren (seit der Eröffnung meiner Buchhandlung) habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Kunden daran nicht interessiert sind. Auf Nachfrage bekomme ich zur Antwort, dass sie die Bücher als zu „schwer“ und zu „elitär“ empfinden. Ich sehe es ähnlich. Die Texte erschlagen den Leser und die Thematik ist oftmals düster. Aus buchhändlerischer Sicht sind diese Bücher kaum bis gar nicht verkäuflich. Das heißt nicht, dass ich den Deutschen Buchpreis unwichtig finde. Nein. Das Kulturgut Buch ist wichtig und sollte auf jeden Fall gefördert werde. Nur bei der Auswahl der Titel für die Longlist sollte man mal weniger „elitär“ denken. Ferner würde ich mir mehr Autorinnen und Indie Verlage wünschen. Ich selbst habe in diesem Jahr wundervolle Texte aus verschiedenen Indie Verlagen gelesen. Nachdem ich mir dann jetzt auch die Shortlist angeschaut habe, denke ich, dass Außer sich eine gute Chance hat … das ist zumindest das Buch, welches ich auch lesen würde.“

Drei BuchhändlerInnen, drei Meinungen – und in der Jury werden die Diskussionen während der nächsten Wochen kaum einfacher sein… Ich danke Maria-Christina Piwowarski, Jacqueline Masuck und Angelika Abels dafür, dass sie sich die Zeit genommen haben, mir meine Fragen zu beantworten!

Autopsiebericht. Über „Walter Nowak bleibt liegen“ von Julia Wolf

walter nowakEigentlich ist Walter Nowak ja fit für sein Alter, nicht nur wegen des täglichen Schwimmens. Für den Rentner ist es deshalb auch gar kein Problem, dass seine jüngere Frau für ein paar Tage zu einer Konferenz verreist ist. Und ohne den Unfall wäre er vielleicht ja auch ganz gut alleine zurechtgekommen. Vielleicht hätte er nicht das Wildschwein in der Küche zerlegt und es dann auf dem blutigen Boden vergammeln lassen. Vielleicht hätte er weniger getrunken und keine halben Tage verschlafen, wäre er nicht ohne Schuhe und mit Badekappe zum geschlossenen Freibad und dann zu seiner ehemaligen Firma gefahren. Walter Nowak macht sich wegen all dieser Dinge keine großen Gedanken. Das tun bloß die anderen: etwa seine Ex-Sekretärin, die ihn besorgt auf einen Kaffee hineinbittet und dann zusehen muss, wie er vor ihr flieht. Oder sein entfremdeter Sohn, der ihn erstmals nach Jahren besucht und ihm anfangs nicht einmal die Sache mit der Fledermaus glaubt.

Ein Roman wie ein Scherbengericht

Am Ende des Romans liegt Walter Nowak nackt auf dem Boden seines Badezimmers, beschämt und mit einer womöglich ernsten Verletzung am Kopf. Ein Spoiler ist das nicht: Ganz genauso fängt Julia Wolfs zweiter Roman auch an. Von der ersten bis zur letzten Seite bleibt Walter Nowak einfach liegen. Nur seine Gedanken stehen nicht still, ganz im Gegenteil. Da sind die verworrenen Erinnerungen an den Unfall im Schwimmbad und die merkwürdigen Tage danach. Und da ist ein ganzes Leben, das an Walter Nowak vorbeizieht, fragmentarisch wie ein Scherbengericht. Immer wieder blitzen sie auf, die Fehler seines Lebens: Momente des Scheiterns und der Scham, die sich in sein Bewusstsein schneiden und nun alles in Frage stellen. Etwas ist in Walter Nowak kaputtgegangen, seit er mit dem Kopf gegen den Beckenrand knallte. Als hätte er dabei eine Sollbruchstelle erwischt, kann er sein Selbstbild und die Illusion eines guten und erfolgreichen Lebens auf einmal nicht mehr aufrechterhalten. Überall sieht er sich plötzlich auf dem Abstellgleis: Seit er seine Firma und damit sein Lebenswerk verkauft hat, wird er dort nicht mehr gerne gesehen. Walters erste Ehe scheiterte an seinen Affären, seine zweite sieht er durch einen anderen Mann bedroht. Sein Sohn will schon lange nichts mehr von ihm wissen, und seine Mutter – der einzige Mensch, der immer für ihn da war – ist schon seit Jahren tot. Nichts, an das Walter sein Leben lang geglaubt hat, scheint noch gut genug zu sein – nicht einmal das Andenken an Elvis Presley, Walter Nowaks Ideal eines Vaters, den er nie hatte.

Operation am offenen Kopf

Durch abgehackte Sätze und jähe Gedankensprünge bleibt Julia Wolf ganz nah dran an ihrer Figur; wie in einer Operation am offenen Kopf spiegelt die Sprache Walter Nowaks Geisteszustand und sein zerbrochenes Selbstbild wider, das er mit aller Kraft zusammenzuhalten versucht. Trotz aller Tragik eines gescheiterten Lebens ist Walter Nowak eine komische, gar lächerliche Figur, der man mit Interesse, allerdings nur wenig Empathie folgt. Mit wenigen, aber präzisen Schnitten dringt Julia Wolf in Walter Nowaks Gehirn zu den entscheidenen Momenten seines Lebens vor. Als Autopsie eines gescheiterten Lebens ist Walter Nowak bleibt liegen kein einfaches Buch. Aber ein gelungenes – schade, dass es nicht für die Shortlist gereicht hat!

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Julia Wolf: Walter Nowak bleibt liegen. 200 Seiten, erschienen bei der Frankfurter Verlagsanstalt. Hier entlang zum Interview mit Julia Wolf auf novellieren.

Menschen sind so. Über „Das Floß der Medusa“ von Franzobel

floß der medusaEin Schiffbruch zwischen Afrika und Europa – inzwischen ist das ja kaum noch eine Meldung wert. Fast täglich sterben Menschen auf dem Mittelmeer, ertrinken Frauen, Kinder, Männer bei der verzweifelten Flucht vor Elend und Krieg. Wir haben uns an die Bilder der Toten vor unseren Küsten längst gewöhnt und gelernt, wegzuschauen. Menschen sind so. Auch damals, im Sommer 1816, wollte zunächst niemand etwas vom Unglück der Medusa wissen. Zu ungeheuerlich und furchtbar waren die Ereignisse, die sich infolge des Schiffbruchs vor Afrika zugetragen hatten. Schließlich kam die Katastrophe der französischen Fregatte aber doch ans Licht – und wurde zum Skandal: aufgrund des unfähigen Kapitäns, der seine Position bloß einer treuen royalen Gesinnung verdankte und der, anstatt auf die Warnungen seiner Offiziere zu hören, lieber einem Hochstapler vertraute. Aufgrund der Rettungsboote, von denen es zu wenige gab und die dann nicht einmal voll besetzt waren. Vor allem aber aufgrund des Floßes, das eilig aus Schiffsteilen zusammengebaut worden war und zur grausamen Todesfalle für hundertsiebenundvierzig, vom Kapitän im Stich gelassene Menschen wurde. Nach fast zwei Wochen auf dem offenen Meer lebten nur noch fünfzehn von ihnen – und die waren in ihrer Not zu Kannibalen geworden.

Ein historischer Zerrspiegel aktueller Katastrophen…

Zweihundert Jahre später wirken die Ereignisse vor der westafrikanischen Küste wie ein Zerrspiegel der aktuellen humanitären Katastrophe auf dem Mittelmeer. Die Toten der Medusa waren keine Flüchtlinge, sondern französische Kolonisten auf dem Weg nach Senegal, darunter der zukünftige Gouverneur sowie Dutzende Soldaten zur Aufrechterhaltung der dortigen Machtverhältnisse. Die Hierarchie blieb auch in der Katastrophe bestehen, auf dem Floß wurden hauptsächlich Soldaten und Seeleute zurückgelassen. Was damals für politischen Zündstoff sorgte – mit der Restauration war gerade erst die alte Ordnung nach der französischen Revolution wiederhergestellt worden – hat als menschliche Tragödie bis heute nichts an Aktualität eingebüßt. Der Vorfall inspirierte deshalb nicht nur zu dem berühmten Gemälde aus dem Jahr 1819, das heute im Louvre hängt, sondern auch zu einer zeitgemäßen Interpretation von Streetart-Künstler Banksy.

…und ein Abenteuerroman

Andere Autoren hätten aus diesem Stoff einen schweren, einen düsteren und belehrenden Roman gemacht. Nicht so der Österreicher mit dem ungewöhnlichen Künstlernamen Franzobel: Das Floß der Medusa kommt ohne erhobene Zeigefinger aus – mit Ausnahme vielleicht jener, die von ausgehungerten Figuren abgenagt werden. Denn trotz genauer Recherche überzeugt Franzobel vor allem als Fabulierer, dem es gelingt, eine grausame Geschichte über das, was Menschen bereit sind, für ihr Überleben zu tun, überraschend unterhaltsam zu erzählen. Tatsächlich liest sich Das Floß der Medusa über weite Strecken wie ein Abenteuerroman, der zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises steht. Mit beinahe spöttischem Humor folgt Franzobel dem Schicksal der Schiffbrüchigen und entwirft dabei Figuren, die mal an einen Dickens-Roman, mal an Fluch der Karibik, mal an politische Satire erinnern. Ein cleveres Vorgehen: Ohne Überzeichnung und Komik wären die Ereignisse auf dem Floß vermutlich nur schwer zu ertragen. So ist Franzobel jedoch ein echter Pageturner gelungen, der bestens unterhält, die Frage nach dem Preis von Menschlichkeit im Angesicht des Todes aber dennoch in aller Ernsthaftigkeit stellt. Anders als bei Wassermusik von T.C. Boyle – der Roman, an den ich mich beim Lesen am meisten erinnert fühlte – hat sich Franzobel bei Das Floß der Medusa weitestgehend an den realen historischen Ereignissen orientiert. Die Wikipedia-Recherche gleich nach der Lektüre lässt den Roman deshalb umso stärker nachwirken. An manchen Stellen liest er sich vielleicht wie eine grausame Farce, im Kern ist er jedoch wahr: Menschen sind so – und zwar damals wie heute.

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Franzobel: Das Floß der Medusa. Erschienen bei Zsolnay, 592 Seiten. Der echte Erfahrungsbericht von den Überlebenden Savigny und Corréard erscheint übrigens demnächst in einer Neuauflage bei Matthes & Seitz.

Durch die Tage fetzen, irrlichtern. Über „Die Welt im Rücken“ von Thomas Melle.

dieweltimruckenIch sagen: In der Literaturkritik darf das nur der Blogger. Und beim Deutschen Buchpreis eigentlich niemand. Thomas Melle sagt Ich und steht trotzdem auf der diesjährigen Shortlist – und zwar zurecht. Die Welt im Rücken ist kein Roman, sondern die autobiographische Chronik einer Erkrankung, in der eben jenes Ich auf dem Spiel steht. Seit dem Ausbruch einer bipolaren Störung mit 24 ist Thomas Melles Leben ein Narrativ mit unzuverlässigem Erzähler, der ihn abwechselnd in Wahnvorstellungen und Depressionen stürzt. Aus medizinischer Sicht ist das Ich ein fiktives Konstrukt, eine Illusion, der wir uns bedienen, um unser Leben als fortdauernde Erzählung zu begreifen und uns mit unserem Blick auf die Welt, unseren Gedanken und Wünschen von anderen abzugrenzen. Als Manisch-Depressiver kämpft Thomas Melle dagegen bald sein halbes Leben gegen die Auflösung seiner eigenen Persönlichkeit an. Es ist ein Kampf gegen den Feind in seinem Kopf.

Ein unzuverlässiger Erzähler

Viele Autoren schreiben mal mehr, mal weniger kryptisch über sich selbst. Auseinandergenommen und neu zusammengesetzt dient Autobiographisches nicht selten als Baumaterial für Figuren und Plots. Ich etwa antworte auf die unvermeidliche Frage nach dem Ich in meinen Texten gerne, die Charaktere seien zwar nie Übertragungen, immer aber Ableitungen meiner Selbst: Sie nehmen an einem mir vertrauten Punkt einfach eine andere Abzweigung. So ähnlich schrieb bislang auch Thomas Melle. Die Figuren in seinen fiktionalen Texten hatten oft einen starken Bezug zu ihm und seiner Erkrankung; auch seine Erzählungen, zum Teil im Wahn entstanden, spiegeln das Zerfasern seines Egos. Die Fiktion hat vor dem realen Leben keinen Halt gemacht: Um in diesem Buch also Ich sagen zu können, musste Melle erst die Scherben seiner zersplitterten Persönlichkeit aufkehren und neu zusammensetzen.

Die wiederkehrende Auflösung seines Ichs zeigt sich gleich zu Beginn des Buches in einem starken Bild: Thomas Melle betrauert den Verlust seiner Bibliothek, deren Bücher er genau wie seine Musiksammlung verscherbelt hat. Es ist der Verlust von allem, was ihn früher einmal ausmachte – und symptomatisch für die manischen Phasen, in denen Melle Raubbau an seinem Leben und seiner Zukunft betrieb. Es ist immer wieder dasselbe: Nach Jahren scheinbarer Stabilität kippt seine Wahrnehmung unvermittelt und binnen kurzer Zeit ins Extreme – ein plötzlicher Bruch in seinem persönlichen Narrativ, der wie ein Strömungsabriss beim Fliegen automatisch zum Absturz führt.

Die Weltgeschichte: ein Narrativ mit Hauptfigur

„In manischen Phasen rast die Zeit. Jeder Tag fetzt an einem vorbei, nein, man fetzt vielmehr durch die Tage hindurch. Die Eindrücke sind zahllos, die Reize grell, die Schlafeinheiten kurz. Man lebt in der Überzeugung, jeglichen und alles in seinen Bahn ziehen zu können, ist bis in die letzte Nervenfaser von Kraft, Können, Allmacht, Glück und dann wieder von Panik, Wut und Schuld durchdrungen.“

Thomas Melle hat Wahnvorstellungen. Er ist davon überzeugt, auserwählt zu sein, ein Messias, auf den sich alle Zeichen der Welt beziehen. Ganz gleich, ob Song, Film oder Leuchtreklame: Alles zielt auf ihn ab. Es gibt niemanden, der nicht von ihm weiß, schon Goethe nahm Melles Rolle in der Weltgeschichte vorweg. Das Internet? Dreht sich nur um ihn. Seine Texte, auch die unveröffentlichten? Hat jeder gelesen, sogar der Bundeskanzler. Der elfte September? Allein seine Schuld. Melle spürt Druck: Man erwartet Großes von ihm. Kein Wunder, dass ihn alle beobachten! In seiner Vorstellung verwandelt sich die gesamte Menschheitsgeschichte in ein Narrativ mit ihm als Protagonisten. Seine Wahrnehmung speist sich aus immer abstruseren Verschwörungstheorien, die Welt verwandelt sich in ein Zeichensystem, das ausschließlich auf ihn verweist.

Während seiner psychotischen Schübe „fetzt“ Melle irrlichternd durch Tage, Wochen, Monate und reißt dabei eine Schneise der Zerstörung in sein Leben. Er verursacht mehrfach Eklats, verliert Freunde, Wohnungen und Geld, landet immer wieder in der geschlossenen psychiatrischen Abteilung. Irgendwann weicht die Manie dann wieder der Depression, und das Begreifen des vorangegangenen Wahns führt zu einer tiefen Scham, die genauso schwer auf seinen Schultern lastet wie die Vorstellung, der Erlöser der Welt zu sein. In seinen dunkelsten Stunden glaubt Thomas Melle schließlich, dass ihm selbst Erlösung nur durch Suizid möglich ist.

Ein Backup des Ichs

Schon wieder so ein Bekenntnisroman, mag nun mancher denken. Auch Benjamin von Stuckrad-Barre hat dieses Jahr schon von seinem jahrelangen Absturz in Kokainsucht und Bulimie erzählt und mit „Panikherz“ ein so erschütterndes wie schonungsloses Buch veröffentlicht. Aber ich gebe Tobias Nazemi auf Buchrevier Recht: Thomas Melle hat einfach das bessere Buch geschrieben. Panikherz hat grandiose Passagen, aber es strotzt bei aller Selbstzerfleischung zugleich vor Eitelkeit und Narzissmus. Thomas Melle dagegen ist dankbar, dass er sein Ego trotz seiner Krankheit irgendwie zusammenhalten konnte. Im Gegensatz zu Panikherz – und auch angesichts des Themas – ist Die Welt im Rücken überraschend fokussiert. Melle hat nicht eine Seite zu viel geschrieben. Nie weckt er die Ungeduld seiner Leser, indem er selbstverliebten Handlungssträngen Raum lässt oder der Versuchung unnötigen Namedroppings nachgibt. Seine temporeiche, immer treffsichere Prosa „fetzt“ stattdessen nur so durch die Seiten und erzeugt einen Sog, der bis zur letzten Seite anhält.

Dass Thomas Melle über seine bipolare Störung schreibt, ist sicher ein Stück weit Aufklärungsarbeit. Aber er tut es auch, um das, was von ihm geblieben ist, zu bewahren. Denn trotz seiner Medikamente, trotz aller Hoffnung auf einen Neuanfang ist Melle nicht geheilt: Eine manische Episode könnte sein Ich jederzeit erneut in Fetzen reißen und alles in Frage stellen. Am Schluss bittet er deshalb darum, ihm in diesem Fall sein eigenes Buch in die Hand zu drücken. Die Welt im Rücken ist ein Backup seiner Persönlichkeit, eine Sicherheitskopie des eigenen Narrativs. Ein Buch wie eine externe Festplatte, die – anders als seine Psyche – vor Erschütterungen geschützt ist. Zugleich will Thomas Melle diesen Teil seines Lebens endlich hinter sich lassen und sich selbst und seine Krankheit ein für allemal auserzählen – um dann neu anfangen zu können. Ein leeres Blatt, ganz ohne die Last seiner Kranken-, geschweige denn der Menschheitsgeschichte. Es ist ihm zu wünschen. Genau wie der Deutsche Buchpreis.


Thomas Melle: Die Welt im Rücken. 352 Seiten, erschienen bei Rowohlt. ISBN: 978-3871341700. Äußerst gelungene und sehr begeisterte Rezensionen zum Buch finden sich auch bei Buchrevier und auf Literaturen.

Sehnsucht nach Auflösung: „Über den Winter“ von Rolf Lappert

DSC_0186Fast hätte ich ihn dann doch nicht gelesen. Dabei hatten mich nicht nur die begeisterten Besprechungen bei Buchrevier und Kaffeehaussitzer neugierig auf Rolf Lapperts Roman gemacht – auch das Thema von „Über den Winter“ sprang mich sofort an: Ein Mann in der Midlife Crisis reist zum ersten Mal seit Jahren in die Heimat, um seine Schwester zu beerdigen. Dort lernt er nicht nur seine Familie neu kennen, sondern lässt auch sein altes, ihm fad gewordenes Künstlerleben zurück. Ein Coming of Age-Roman unter umgekehrten Vorzeichen sozusagen, und das auch noch vor der tristen Kulisse Hamburgs im Winter – das klang ganz nach einem Roman für mich!

Entsprechend groß war meine Vorfreude, Rolf Lappert auf der Frankfurter Buchmesse lesen zu hören. Ich muss ehrlich sein: Ich habe mich in meinem Leben schon mehr gelangweilt. Ein oder zweimal jedenfalls. Vielleicht lag es an der ritalinbedürftigen Schulklasse, die rings um mich die Stühle besetzte, vielleicht auch an der Messeluft, die samstags irgendwo zwischen Seminarraum nach sechsstündiger Klausur und Turnhalle schwankt. Doch selbst Tobias Nazemi von Buchrevier, erklärter Fan des Buches, schien sich zu langweilen; seinen Vorschlag, stattdessen ein Bier trinken zu gehen, nahm ich jedenfalls dankbar an.

Die Last der Freiheit

Gelesen habe ich „Über den Winter“ dann trotzdem – und dabei genau das, was mich auf der Lesung noch langweilte, bei der Lektüre am meisten genossen: die Langsamkeit des Buches. Denn Rolf Lappert nimmt sich wirklich Zeit. Dem Plot fehlt jede Dringlichkeit: Lennard Salm hat es nämlich nicht eilig. Nichts in seinem Leben treibt ihn noch an; nichts motiviert ihn genug, um aus dem Trott, aus seiner Lethargie auszubrechen. Erst der Tod seiner älteren Schwester setzt in Salm wieder etwas in Gang. Er kehrt zum ersten Mal seit Jahren zu seiner Familie nach Hamburg zurück und ändert sein Leben – indem er es aufgibt. Salm ist keiner, der sich plötzlich aufrafft und die Dinge anpackt. Im Gegenteil: Er wirft radikal Ballast ab, lässt in seiner Sehnsucht nach Auflösung alles los und davontreiben, was ihm zeitlebens am meisten bedeutet hat. Dass sein Koffer auf der Hinreise verloren ging, macht ihm nichts aus: Salm vermisst ihn genauso wenig wie das Künstlerleben, das er hinter sich lassen will, ein Leben, auf das er melancholisch und mit mildem Sarkasmus zurückblickt, ohne es je sentimental zu verklären. (mehr …)