Depressionen

Weg mit dem Stigma: Fünf Bücher über Depressionen

„Ja, ich leide unter Depressionen.“ Dass es noch immer Mut braucht, einen Satz wie diesen öffentlich auszusprechen, verrät eigentlich alles über das gesellschaftliche Stigma dieser Krankheit. Wenn sich eine Schauspielerin wie Nora Tschirner öffentlich zu ihrer Erkrankung bekennt oder der Komiker Kurt Krömer, den man bislang nur in seiner Rolle kannte, während seiner Sendung plötzlich ganz ernst und offen über seinen Zusammenbruch spricht, geht das noch immer als regelrechtes Medienereignis durch. Und genau darum sind Interviews und Auftritte wie diese so wichtig: Sie tragen dazu bei, eine ernste, für viele alltägliche Krankheit von ihrem gefährlichen Stigma zu befreien und sie endlich zu normalisieren. Niemand schämt sich dafür, über Krebs zu sprechen, über Bandscheibenvorfälle, über Diabetes. Warum dann bei einer Krankheit, von der allein in Deutschland ganze fünf Millionen Menschen betroffen sind? Es sollte keine Ausnahme, kein Tabubruch sein, offen über eine Volkskrankheit zu sprechen. Und man sollte erst Recht keinen Mut dafür brauchen.

Um gegen das Stigma, gegen die vielen falschen Klischees und Vorurteile anzukämpfen, braucht es aber nicht nur Menschen, die sich öffentlich zu ihrer Erkrankung bekennen, sondern auch Aufklärung. Darum stelle ich in diesem Beitrag zunächst vier Bücher zum Thema Depressionen vor, die sehr unterschiedliche Aspekte dieser Krankheit beleuchten. Und komme zuletzt noch auf ein fünftes zu sprechen – aus Gründen. Aber dazu später mehr.

Zoë Beck: Depressionen

Einerseits ist Zoë Becks Depressionen ein Sachbuch, das auf 100 Seiten das wichtigste Basiswissen über die Krankheit zusammenfasst – von den Symptomen über die Diagnose bis hin zu den Therapiemöglichkeiten und einer kleinen Kulturgeschichte. Zugleich gewährt die Autorin, Verlegerin und Übersetzerin in ihrem Buch aber auch einen intimen Einblick in ihre eigene Krankheitsgeschichte. Denn obwohl sie bereits ihr ganzes Leben mit einer Dunkelheit zu kämpfen hatte, die sie, weil sie sich selbst ja gar nicht anders kannte, stets auf ihre Persönlichkeit schob, musste Beck erst 33 und ernsthaft aus der Bahn geworfen werden, ehe sie endlich den Kampf gegen ihre Depressionen aufnahm und lernte, mit ihnen zu leben. Genau diese Mischung aus persönlichem Erfahrungsbericht und Wissensvermittlung macht aus dem schmalen Band ein ideales Einstiegsbuch für Betroffene und Angehörige, die diese Krankheit verstehen wollen und einen Ausweg suchen. [Reclam, 100 Seiten]

Bejamin Maack: Wenn das noch geht kann es nicht so schlimm sein

Spoiler: Doch, ist es. Der Autor und Journalist Benjamin Maack macht seinen Leser*innen allerdings auch gar nichts vor. „Hier wird am Ende übrigens nicht alles gut“, schreibt er an einer Stelle – und hat leider Recht. Denn obwohl die fragmentarische Sammlung aus Beobachtungen, Momentaufnahmen, Szenen und Gedankenfetzen, die Maack während seiner schweren Depressionen und Klinikaufenthalte schrieb, zum Schluss dann doch mit einer recht versöhnlichen Note endet, hat die Realität das Buch aus dem Jahr 2020 längst eingeholt: Erst vor wenigen Tagen schrieb Maack auf Instagram über seinen bevorstehenden nächsten Klinikaufenthalt. Wer sein schonungslos offenes Buch gelesen hat, ahnt, wie schmerzhaft auch diesmal der Abschied von seiner Frau und seinen Kindern wird – und wie unerbittlich und grausam diese Krankheit für Betroffene und ihr Umfeld oft ist. Ein selbsttherapeutisches Tagebuch ist das hier trotzdem nicht: Wie präzise Benjamin Maack seine Erkrankung mit den Mitteln der Literatur seziert und offenlegt, ist ebenso bedrückend wie beeindruckend. [Suhrkamp Nova, 334 Seiten]

David Vann – Momentum

Eine (Trigger-)Warnung vorab: Dieser Roman ist nur schwer zu ertragen – und genau das macht ihn so eindringlich und aufrichtig. David Vann lässt uns an den letzten Tagen im Leben des schwerdepressiven Jim teilhaben und erlaubt den Leser*innen dabei keine Distanz, im Gegenteil. Vann bleibt erbarmungslos dicht an Jims hoffnungslos verengter Perspektive dran und zeigt uns dadurch die hässliche Fratze einer Depression im Endstadium. Jim ist so resigniert wie unzurechnungsfähig, er kreist nur noch um sich selbst und seine selbstzerstörerischen, grausamen Gedanken. Jedem, der ihm zu helfen versucht, stößt er brutal vor den Kopf. Das selbstgewählte Ende ist für Jim, obwohl er gerade mal Ende 30 ist, längst unausweichlich. Doch so schwer es streckenweise auch ist, diesen Roman zu lesen, es muss ungleich schwerer gewesen sein, ihn zu schreiben. Denn Momentum ist für David Vann ein äußerst persönliches Buch: Jim war sein Vater. Als sie einander das letzte Mal sahen, war David noch ein Kind – eine Szene, die sich auch in Momentum wiederfindet. Vanns Roman ist einerseits eine intensive literarische Auseinandersetzung mit seinem kaum gekannten Vater, zugleich macht er aber auch deutlich, wie zerstörerisch Depressionen in einem Menschen wirken können – und dass es bei psychischen Erkrankungen eben keinen rationalen, selbstbestimmten Freitod geben kann. Es ist allein die Krankheit, die einen Depressiven in den Selbstmord treibt. Ohne Ausnahme. [Hanser Berlin, 300 Seiten]

Till Raether: Bin ich schon depressiv, oder ist das noch Leben?

Aber was, wenn das alles eigentlich gar nicht so schlimm ist? Wenn man im Alltag einigermaßen funktioniert, seinen Job gut oder vielleicht sogar besser als andere auf die Reihe kriegt und es – überspitzt formuliert – noch nicht einmal schafft, sein Leben so richtig in den Sand zu setzen und die Familie dabei gleich mit in den Abgrund zu reißen? Die permanente Erschöpfung und ständige Überforderung: Vielleicht ist das ja einfach bloß das normale Leben von Erwachsenen in der Rushhour des Lebens. Vielleicht haben die anderen ja Recht – und man muss sich einfach bloß ein bisschen zusammenreißen, bis es wieder besser wird. So geht es vielen Menschen mit Depressionen: Solange sie noch irgendwie funktionieren, nehmen sie selbst und ihr Umfeld ihre Erkrankung oft nicht ernst genug. Genauso ging es auch dem Schriftsteller und Journalisten Till Raether. In seinem Buch schreibt er ganz offen darüber, wie lange er brauchte, um seine Krankheit zu verstehen und sich ihr endlich zu stellen. Das Tückische an einer hochfunktionalen Depression wie Raethers ist nämlich, dass man mit ihr so ziemlich alles machen kann. Bis man eines Tages eben nicht mehr kann. Vieles, was für andere ganz selbstverständlich und einfach ist, kostet einen Menschen mit Depressionen sehr viel mehr Kraft; will man funktionieren wie alle anderen – allein schon, um sich selbst und der Welt zu beweisen, dass man das kann – zahlt man dafür auf Dauer einen hohen Preis: Man höhlt sich innerlich aus. Es ist die große Stärke von Raethers Buch, wie anschaulich und nachempfindbar er anhand persönlicher Situationen über das Wesen dieser Krankheit schreibt. Ein wichtiges Buch nicht nur für Betroffene und Menschen, die sich ihre vermeintliche (!) Schwäche selbst (noch) nicht eingestehen. Aber auch  Angehörigen, Partner:innen und Freund:innen von Menschen mit Depressionen kann man Raethers Buch nur empfehlen: Sicher verstehen sie nach der Lektüre besser, was es für manche heißt, einfach nur den ganz normalen Alltag zu bewältigen. [Rowohlt Polaris, 125 Seiten]

Und das fünfte Buch? Ist mein eigenes.

Ja, auch ich habe, seit ich 16 bin, immer mal wieder mit Depressionen zu tun und finde mich in den hier vorgestellten Büchern mal mehr (Raether), mal weniger (zum Glück: Vann) wieder. Ich komme meistens damit klar, danke der Nachfrage. Aber darum soll es hier nicht gehen. Genauso wenig soll es darum gehen, hier mein eigenes Buch zu bewerben – deshalb ist es auch nicht auf dem Foto. Vielmehr ist es mir wichtig, zum Schluss noch einmal zur Einleitung zurückzukommen: Es sollte keinen Mut brauchen, um offen über diese Krankheit zu sprechen. Und was, bitte, hat das mit meinem Debütroman Dezemberfieber zu tun? Nun ja: alles. Depressionen sind das zentrale Thema dieses Buches. Die Mutter der Hauptfigur Bastian zerbricht in Rückblenden an ihrer Erkrankung und auch Bastian erlebt im zentralen Handlungsstrang eine schwere depressive Episode. Im Klappentext, den ich damals selbst verfasste, ist allerdings keine Rede davon. Es ist zwar hübsch verklausuliert von seelischen Abgründen die Rede, der Begriff Depressionen taucht jedoch an keiner Stelle auf. Und obwohl ich die Krankheit der Mutter klar im Roman benenne, erlaubte ich den Leser*innen im Falle von Bastian – der aufgrund biografischer Parallelen natürlich eher mit mir in Verbindung zu bringen ist – auch ganz andere Lesarten: Der Arme hat eben zu lange seine Schuldgefühle verdrängt und muss jetzt halt endlich mal sein Trauma aufarbeiten. Stimmt zwar irgendwie, ist aber eben nur die halbe Wahrheit. Warum also konnte ich einen ganzen Roman über Depressionen schreiben, traute mich aber nicht, die Sache nach Erscheinen dann auch beim Namen zu nennen? Ganz einfach: aus Angst vor dem Stigma. Damals versuchte ich gerade, beruflich Fuß zu fassen und den anderen Fuß zugleich in die Tür zur Literaturwelt zu bekommen. Verständlich vielleicht. Aber eben auch feige und falsch.

Darum wiederhole ich mich an dieser Stelle gern: Niemand schämt sich dafür, über Krebs zu sprechen, über Bandscheibenvorfälle, über Diabetes. Warum dann bei einer Krankheit, von der allein in Deutschland ganze fünf Millionen Menschen betroffen sind? Es sollte keine Ausnahme, kein Tabubruch sein, offen über eine Volkskrankheit zu sprechen. Und man sollte erst Recht keinen Mut dafür brauchen. Denn letzten Endes gilt für Depressionen dasselbe wie für jede andere ernste Erkrankung auch: Aufklärung kann Leben retten.

Implosion. Über „Traumrakete“ von Ruth Cerha

Traumrakete - Ruth CerhaJede Nacht wird der depressive Musiklehrer Dave von Albträumen geplagt, auch die Tage sind kaum besser: Seine Ehe steckt in einer Krise und sein ältester Sohn droht von der Schule zu fliegen. Als Dave seinen rätselhaften Albträumen auf den Grund geht, führt ihn die Spurensuche von Wien zu seinem Geburtsort New York – und in die Vergangenheit seiner Familie.

Die Entfremdung eines Ehepaares in den mittleren Jahren, ein Generationenkonflikt und dazwischen die Kinder mit ihren Problemen, allen voran die der Jungs, die sich in virtuellen Parallelwelten verlieren – in seiner Anlage erinnert Ruth Cerhas Traumrakete zunächst ein wenig an Jonathan Safran Foers Scheidungsroman Hier bin ich. Während der Amerikaner aber gleich einen ganzen Nahostkrieg braucht, um die Krise seiner Figuren bis zum Äußersten, bis zur Explosion zu treiben, lässt Cerha das Leben ihres Protagonisten Dave dagegen vielmehr implodieren – und richtet ihren Fokus dabei ganz auf sein Innnerstes.

Oberflächlich betrachtet sind Daves Probleme eigentlich überschaubar. Seit er in Therapie ist, hat er seine Depressionen einigermaßen im Griff. Auch sonst könnten die Dinge durchaus schlechter stehen. Natürlich könnte die Ehe zu Ärztin Janet glücklicher, könnten die Kinder besser in der Schule, könnte Dave zufriedener im Beruf sein. Die gesundheitlichen Probleme seines Vaters sind zwar eine Belastung, so zerstritten, wie beide sind, aber auch nichts, was Dave um den Schlaf bringen würde. Was ihn wirklich um den Schlaf bringt, sind die ständigen Albträume. Jede Nacht plagen ihn wiederkehrende Fantasien von Flucht und Verfolgung, von Begräbnissen oder von einer rätselhaften Frau im Trenchcoat. Gemeinsam mit Morrison, seinem Therapeuten, versucht Dave, seinem Unterbewusstsein auf den Grund zu gehen, in Eigenregie übt er sich später auch in luzidem Träumen, um Kontrolle über seine Fantasien zu erlangen. Je intensiver sich Dave mit sich selbst beschäftigt, desto mehr gleiten ihm die Dinge im realen Leben jedoch aus den Händen. Seine Depressionen werden wieder stärker, auch die Probleme in der Ehe treten immer deutlicher zutage – ausgerechnet jetzt, sollte man meinen. Aber dass Dave zwar einerseits als Identifikationsfigur funktioniert, zugleich aber auch glaubwürdig von Janet infrage gestellt wird, ist eine der großen Stärken des Romans. Denn obwohl man Daves Sorgen und Ängste, seine Midlife Crisis, seine Probleme mit Janet verstehen kann – ein Opfer ist er nicht. Stattdessen kreist er so sehr um sich selbst, dass er zunehmend den Blick für die Nöte anderer, speziell die seiner Frau verliert. Daves Selbstbezogenheit ist einerseits Symptom seiner Krankheit, andererseits aber auch kein ganz unwesentlicher Grund für ihre Beziehungskrise.

Allein zu seinem jüngsten Sohn Nobbs hat Dave noch einen guten Draht, zumal sich auch Nobbs intensiv mit seinen Träumen auseinandersetzt. In ihnen will er dem Raumfahrer Ben dabei helfen, seine Rakete zu reparieren. Vergeblich allerdings: Ben hat den Kontakt zu seinem Heimatplaneten verloren und ist ganz auf sich allein gestellt, helfen kann ihm niemand außer er selbst. Als Ben aus Nobbs Träumen verschwindet, ist auch Dave am Tiefpunkt angelangt. Besessen von den unterbewussten Geheimnissen, die er in seinen Albträumen vermutet, fügt er Nacht für Nacht das Puzzle weiter zusammen und stößt dabei auf eine Spur, die ihn direkt nach New York führt – jene Stadt, in der er die ersten Jahre seines Lebens verbracht hatte, ehe seine Eltern mit ihm nach Wien auswanderten. Dave sieht keinen anderen Weg, als dorthin zu fliegen und herauszufinden, was ihn tief im Inneren so belastet. In New York stößt Dave allerdings nicht nur auf ein lange gehütetes Familiengeheimnis, sondern findet auch ein Stück weit zu sich selbst zurück – indem er sich treiben lässt und seine Wahrnehmung, die in Wien noch hauptsächlich von Introspektion geprägt war, endlich wieder nach außen richtet. Nach seiner Heimkehr muss Dave allerdings feststellen, dass er manche Zeichen womöglich zu spät erkannt hat.

Während Thema und Figurenkonstellation wie anfangs erwähnt stellenweise an Jonathan Safran Foers Hier bin ich erinnern, ist Traumrakete trotz des ähnlichen Ausgangs ein viel intimerer, auch bodenständigerer Familienroman. Besonders die Figuren sind Ruth Cerha so glaubwürdig und dreidimensional gelungen, dass man sich nicht selten an Autoren wie Jonathan Franzen erinnert fühlt. Gerade weil man sich mit den Charakteren so identifiziert und das reale Geschehen mit Spannung verfolgt, können die häufigen und langen Traumsequenzen aber auch anstrengen, mitunter sogar nerven. Für einen psychologischen Roman wirken die Versatzstücke aus Daves Unterbewusstsein oft zu konstruiert und gewollt; weniger und dafür pointiertere Traumszenen hätten sicher eine größere Wirkung entfaltet. Am meisten überzeugt der Roman deshalb dort, wo Ruth Cerha ihre Stärken ausspielt: beim präzisen Beobachten ihrer Figuren und Schauplätze – allen voran in New York, das die Österreicherin so lebendig beschreibt, dass man Dave bei seinen Wanderungen durch die Stadt nicht nur auf Schritt und Tritt, sondern gerne auch Seite für Seite folgt, ohne je müde zu werden. Darum fällt es dann auch nicht allzu sehr ins Gewicht, dass man die Traumsequenzen dagegen – wie im echten Leben auch – zumeist eher flüchtig in Erinnerung behält.


Ruth Cerha: Traumrakete. Erschienen bei der Frankfurter Verlagsanstalt, 480 S. Eine sehr gelungene Besprechung zum Roman hat Isabella Caldart auch auf ihrem Blog novellieren.com veröffentlicht.

Drei Bücher über… Künstlerleid

IMG_0248Dass Künstler leiden müssen, um echte Meisterwerke zu schaffen: Natürlich ist das ein Klischee. Die meisten Künstler wachen morgens nicht neben leeren Flaschen, Tablettenblistern und verworfenen Abschiedsbriefen auf, bevor sie mit dem Blut ihrer aufgeschnittenen Pulsadern für uns ihr Meisterwerk zu Papier bringen. Die meisten stellen sich vermutlich einfach einen Wecker, setzen sich nach dem Frühstück mal mehr, mal weniger inspiriert an die Arbeit und trinken dabei höchstens zu viel schalen Filterkaffee. Die Vorstellung vom leidenden Genie ist deshalb nicht nur ein Klischee, sondern auch eine romantische Verklärung ernster seelischer Erkrankungen. Und doch gibt es sie natürlich, die Künstler, deren Werk untrennbar mit dem eigenen Leben verknüpft ist. Autoren und Musiker, die vielleicht nicht zwingend autobiografisch schreiben, es aber stets mit persönlicher Dringlichkeit und emotionaler Aufrichtigkeit tun. Und ganz gleich, ob in der Musik oder in der Literatur: Meist schreiben sie die Songs, schreiben sie die Bücher, die mir wirklich etwas bedeuten. Weil diese eben nicht nur eine Geschichte erzählen, sondern etwas darüber, was es – so nannte es David Foster Wallace einmal in einem Interview – „verdammt noch mal heißt, ein Mensch zu sein.“

Biografien über Künstler, die ihr Leben und ihr Leid in ihren Werken verarbeiteten, laufen natürlich stets Gefahr, bloß unseren Voyeurismus zu bedienen und in Geniekitsch abzudriften. Zugleich können sie ein Werk aber auch aufschlüsseln und dadurch neue Einsichten, ein tieferes Verständnis ermöglichen. Und gerade weil mich das Schaffen von Richard Yates, David Foster Wallace und Eels-Sänger Mark Oliver Everett aus unterschiedlichen Gründen inspirierte und prägte, empfand ich die folgenden Bücher als große Bereicherung.

Rainer Moritz – Der fatale Glaube an das Glück

Man kann jedes Ziel erreichen, wenn man nur hart genug dafür arbeitet: Auch der junge Mann, der schon immer Schriftsteller werden wollte, hat sich seinen Debütroman hart abbringen müssen und mit dem Scheitern seiner Ehe einen hohen Preis für dessen Entstehung gezahlt – aber der Erfolg scheint ihm und dem amerikanischen Traum Recht zu geben. Dreißig Jahre später sieht die Sache jedoch anders aus. Den Erfolg seines Erstlings hat er nie wiederholen können. Stattdessen ist er trotz acht weiterer Buchveröffentlichungen als Autor weitestgehend vergessen und stirbt als zweifach geschiedener, verarmter Alkoholiker und Kettenraucher, der zuletzt weder von seinen Kollegen noch von seinen Schreibstudenten ernst genommen wurde. Die bittere Pointe: Jahre nach seinem Tod wird er von der Literaturwelt in großem Stil wiederentdeckt und gehört heute fest zum Kanon der amerikanischen Nachkriegsliteratur. Klingt wie ein Roman von Richard Yates? Ist aber sein Leben.

Wenn es ein Thema gibt, das sich durch alle Romane und Erzählungen von Richard Yates zieht, dann ist es das Scheitern. Wie kein Zweiter sezierte er die Lebenslügen seiner Figuren, ihr Scheitern am amerikanischen Traum und den eigenen Ansprüchen – und zwar so präzise beobachtet und gnadenlos, dass es zuweilen an Spott grenzte. Man muss kein Experte sein, um zu ahnen, dass Yates dabei stets auch das Scheitern seines eigenen Lebensentwurfs, seine regelmäßigen Abstürze in Sucht und Depression literarisch verarbeitete. Spuren seiner Biografie lassen sich in all seinen Texten nachweisen, am klarsten jedoch im Roman Ruhestörung, zu dem Yates einerseits seine frustrierenden Erfahrungen in Hollywood, in erster Linie aber sein Alkoholismus und der Aufenthalt in einer Nervenheilanstalt inspirierten. Aber nicht nur Wiedergänger von Yates selbst tauchen in seinen Texten auf: Neben einigen anderen Personen aus seinem Leben dient besonders seine Mutter immer wieder als (zumeist unvorteilhaftes) Vorbild vieler Frauenfiguren. Obwohl Rainer Moritz anhand etlicher Textstellen die Parallelen zwischen Leben und Werk aufschlüsselt, würdigt er in seiner Biografie mit dem allzu passenden Titel aber auch die künstlerische Leistung von Yates, indem er dessen Arbeiten durchaus kritisch einordnet und dabei vor allem die Romane Zeiten des Aufruhrs und Easter Parade als Meisterwerke hervorhebt.

Literarisch ist Yates für mich in vielen Punkten ein Vorbild, umso bitterer lasen sich natürlich die Abschnitte in seiner Biografie, die sich seinen letzten Jahren als krankem, gescheitertem Autor widmen. Heute ist Richard Yates den meisten Lesern ein Begriff, tatsächlich ist zu seinen Lebzeiten aber nur ein einziger Roman, sein Debüt, ins Deutsche übersetzt worden – und zwar in der DDR. Als Leser ist der posthume Ruhm von Yates für mich insofern ein Glücksfall, als Autor empfinde ich ihn dagegen als zutiefst tragisch. Ein schwacher Trost: Es wäre vermutlich eine Pointe ganz nach seinem Geschmack gewesen.

D.T. Max – Jede Liebesgeschichte ist eine Geistergeschichte

Man muss nichts über Richard Yates wissen, um seine Bücher zu lesen. Sie sind zugänglich und abgeschlossen, stehen weitestgehend für sich selbst. Als ich 2009 mit Unendlicher Spaß erstmals etwas von David Foster Wallace las (und mit 2009 meine ich: über das ganze Jahr verteilt), wusste ich fast nichts über ihn: Klar, er galt als Genie, als schwieriger und kluger, zugleich aber auch unterhaltsamer Autor. Und er hatte sich aufgrund seiner Depressionen erhängt. Kaum mehr als Basiswissen also, trotzdem war die Lektüre seines Mammutromans eine meiner bis heute intensivsten, herausfordendsten und lehrreichsten Leseerfahrungen überhaupt. Nie wieder war ein Roman für mich zugleich so traurig und witzig, so brillant und albern, so anstrengend und belohnend wie Unendlicher Spaß. Und nie wieder war ich so froh, ein Buch endlich, endlich zu Ende gelesen zu haben.

Bis ich die Wallace-Biografie von D.T. Max las. Plötzlich reizt es mich wieder, mir die knapp 1.600 Seiten tatsächlich noch einmal vorzunehmen – und zwar mit dem Wissen um die unzähligen autobiografischen Bezüge und Schlüsselfiguren, die David Foster Wallace in Unendlicher Spaß einbaute, dem Wissen um seine Kranken- und Suchtgeschichte, dem Wissen um den lebenslangen Kampf gegen seine Dämonen, den er 2005 schließlich aufgab. Nach der Lektüre seiner Biografie wird es ein anderer, wahrscheinlich sogar noch besserer Roman für mich sein. Allerdings ist Jede Liebesgeschichte ist eine Geistergeschichte keine trockene literaturwissenschaftliche Textanalyse; D.T. Max gelingt es mit viel Empathie, dem Leser David Foster Wallace auch als Menschen näherzubringen, ohne dabei ins Voyeuristische abzudriften. Seine Biografie ist selbst für jene nachvollziehbar und lesenswert, die noch nie ein Buch von Wallace in der Hand hatten – und ein guter Anreiz, das bald zu ändern.

Mark Oliver Everett – Things the grandchildren should know

Zum Abschluss ein Happy End: Zehn Jahre nach Erscheinen seiner Autobiografie ist Mark Oliver Everett alias „E“ noch am Leben, das zwölfte Eels-Album The Deconstruction ist gerade erst erschienen. Auch heute schreibt er noch Songs über die Höhen und Tiefen seines Lebens – nur sind sie, seit die Tiefen in seinem Leben nicht mehr ganz so tief sind, inzwischen ein bisschen flacher geworden. In den Neunzigern war das noch anders: Alben wie Electro-Shock Blues waren lyrisch ein Schlag in die Magengrube, verhandelten mal resigniert und bitter, mal mit lakonischem Humor die gehäuften Schicksalsschläge in Everetts Leben. Er war es, der mit 19 seinen Vater tot auffand – einen genialen, aber verkannten Physiker, der sich verbittert von seiner Familie entfremdet hatte. Später nahm sich Marks Schwester, die schon früh unter einer psychischen Erkrankung litt, das Leben, kurz darauf verlor er auch seine Mutter an Krebs. Seine Cousine? Saß im Flugzeug, das am 11. September 2001 ins Pentagon flog. Und das waren nur die größten Katastrophen in Mark Oliver Everetts leidgeprüftem Leben. In Things the grandchildren should know schreibt er mit der aus seinen Texten gewohnten Lakonik unterhaltsam, aber auch schmerzhaft offen über die Jahre voller Trauer und Depression – und darüber, wie ihm die Musik das Leben rettete. Diese Dringlichkeit hört man den ersten sechs Alben der Eels – von Beautiful Freak bis hin zu Blinking Lights and other Revelations – jederzeit an. Nach seiner Autobiografie (und dem gleichnamigen Song) scheint E allerdings seinen Frieden mit dem Leben gemacht zu haben, die Intensität seiner früheren Texte hat er seither nie wieder erreicht. Vielleicht stimmt es in manchen Fällen ja doch: dass Künstler leiden müssen, um echte Meisterwerke zu schaffen. Dem Mann namens E sei sein Happy End – mit allen gewöhnlichen Höhen und Tiefen – jedenfalls gegönnt. Es ist nämlich alles andere als selbstverständlich.


Rainer Moritz: Der fatale Glaube an das Glück. Erschienen bei DVA, 208 Seiten. // D.T. Max: Jede Liebesgeschichte ist eine Geistergeschichte. Erschienen bei Kiepenheuer & Witsch, 512 Seiten. Linktipps: Ein Interview mit D.T. Max sowie sein Essay über Wallaces letzten Tage. // Mark Oliver Everett: Things the grandchildren should know. Erschienen bei Little, Brown, 246 Seiten sowie als Glückstage in der Hölle in deutscher Übersetzung von Hannes Meyer bei Kiepenheuer & Witsch, 224 Seiten.

Außer Funktion. Über „Super, und dir?“ von Kathrin Weßling

Kathrin Weßling - Super, und dir?Ein Roman über eine Social Media Managerin mit Burn-out und Drogenproblemen: Wenn sich jemand in eine solche Figur hineinversetzen kann, dann vermutlich Kathrin Weßling, eine Autorin, die mir beinahe täglich in meinen Feeds auf Facebook, Twitter oder Instagram begegnet. Ich mag ihren Ton, ihren Humor, ihre Haltung. Auch beeindruckt mich, wie souverän und offen sie auf ihrem Blog über ihre Depressionen und ADHS-Erkrankung schreibt, Bewusstsein für sie schafft. Einen Roman von ihr hatte ich bislang dennoch nicht gelesen, vielleicht auch ein bisschen aus Furcht davor, enttäuscht zu werden. Ein Roman ist kein Bento-Artikel, zumal mir die Themen, über die Weßling schreibt, zu wichtig, zu ernst sind, um sie bloß in einer unterhaltsamen, zielgruppengerechten Geschichte mit launigem Witz verpackt zu sehen. So ging es mir damals mit Ronja von Rönnes Roman Wir kommen, dem es mir trotz Biss und toller Sprache an Tiefe und emotionaler Aufrichtigkeit fehlte; zu aufgesetzt und oberflächlich wirkten die Panikattacken und Depressionen der permanent ironischen Hauptfigur Nora, als dass sie der Schwere dieser Erkrankungen gerecht werden konnten.

Die Wahrheit hinter dem Feed

Entsprechend gespannt war ich auf Marlene Beckmann, Kathrin Weßlings Ich-Erzählerin in Super, und dir?. Eigentlich könnte sie zufrieden sein: Dank Traumjob in einer angesagten Firma und glücklicher Beziehung läuft in ihrem Leben schließlich alles bestens, zumindest ist es das, was ihre vielen Facebook-Freunde und Follower tagtäglich zu sehen bekommen. Die Wahrheit hinter dem Feed ist jedoch eine andere: Schon nach wenigen Monaten als Social Media Managerin ist Marlene ausgebrannt und kann ihren Alltag nur noch mit Kokain und anderen Aufputschdrogen bewältigen. Sie schläft und isst zu wenig, vernachlässigt ihre Gesundheit und ihre Beziehung, während sich die Arbeit immer tiefer in ihr Leben frisst und darin Metastasen bildet wie ein besonders aggressiver Krebs. Marlene aber funktioniert einfach weiter. Das hat sie immer getan. Sie funktionierte, als ihr Vater die Familie für eine andere Frau verließ, funktionierte, als ihre Mutter deswegen zur Alkoholikerin wurde und plötzlich auf sie angewiesen war. Marlene hat nie gelernt, Schwäche zu zeigen und um Hilfe zu bitten, sie konnte sich das auch gar nicht erlauben. Und das kann sie auch jetzt nicht: In ihrem Job muss sie sich einbringen, bis nichts mehr von ihr übrig ist.

Denn in Wahrheit ist gar nicht sie das Problem, sondern eine Mentalität, die vor allem in aufstrebenden Start-ups herrscht, in Unternehmen, die eher mit ihrem Image als mit angemessener Bezahlung locken und die mit Engagement und Firmenidentifikation eigentlich Selbstausbeutung meinen. Wer braucht schon ein Privatleben, wenn es einen Kickertisch im Büro gibt? Und die ach so flexiblen Arbeitszeiten: bedeuten vor allem, rund um die Uhr verfügbar zu sein. Aber Marlene ist ehrgeizig, sie will nach ihrem Volontariat unbedingt übernommen werden und identifiziert sich bald so sehr mit ihrer eigentlich belanglosen Arbeit, dass ihr Verhältnis zur Firma beinahe ans Stockholm-Syndrom grenzt. Ohne Rausch kann sie nicht mehr abschalten. Oder wieder auf die Beine kommen. Ihr Freund Jakob hat keine Ahnung von ihren Suchtproblemen, schließlich bekommt er Marlene kaum noch zu Gesicht – und wenn, dann vermutlich mit dem Handy vor der Nase. Dennoch ist er der einzige, der zumindest noch gelegentlich zu ihr durchdringt und hinter die scheinbar glücklichen Fassade sieht, die sie auf ihren Online-Profilen zur Schau stellt. Für einen Rettungsanker sind Marlenes Segel jedoch längst zu überspannt: Als Jakob aufgrund ihrer falschen Prioritäten alleine in den Urlaub fahren muss, verliert Marlene ihren letzten Halt – und hört von einem Tag auf den anderen einfach auf, zu funktionieren.

Verstörend und mutig

Nach den ersten Seiten von Super, und dir? war ich zunächst ernüchtert, fand die Sprache zwar gut und pointiert, die Ich-Erzählerin aber noch zu nahe am Ton einer schnoddrigen und um Authentizität bemühten Neon-Reportage: Darf ruhig ein bisschen edgy sein, aber bitte nicht zu sehr – man denke an die Zielgruppe, vor allem beim erwartbaren Happy End. Durchaus amüsante Lektüre, dachte ich also, aber ganz sicher kein Panikherz. Aber je tiefer Kathrin Weßling die Abgründe ihrer Figur auslotet, desto mehr kaufte ich ihr die Protagonistin ab, kaufte ihr ab, dass es ihr ernst ist mit diesem Roman und seinen Themen. Tatsächlich ist es verstörend und mutig, mit welcher Konsequenz Weßling Marlene Beckmann ihr Leben an die Wand fahren lässt und dabei nicht nur mit einer zunehmend ausbeuterischen Mentalität in der Arbeitswelt abrechnet, sondern auch mit der Verharmlosung eines Selbstoptimierungswahns, der nicht selten zu Suchtproblemen unterhalb der gesellschaftlichen Wahrnehmungsgrenze führt. Als sich Marlene in einer der bittersten Szenen des Romans dazu überwindet, sich ihrem Hausarzt anzuvertrauen, spielt ausgerechnet dieser ihre Kokainsucht herunter und verschreibt ihr lediglich ein Antidepressivum: Sie sei schließlich nicht ernsthaft süchtig, sondern bloß ein bisschen überlastet.

Und natürlich hat er Recht. Schaut uns doch an: Wir sind glücklich! Seht sie euch an, die Bilder unserer Katzen, Kinder und Traumreisen auf Instagram, lest unsere permanenten Erfolgsmeldungen auf Facebook und amüsanten Alltagstweets. Oder aber ihr lest dieses Buch. Es könnte allerdings Spuren von echtem Leben enthalten, Vorsicht.

„Das Mädchen liegt nicht halbtot mit einer Nadel im Arm auf der Toilette eines Bahnhofs. Man sieht nicht, wie das Mädchen ertrinkt, ganz im Gegenteil. Es reitet die Wellen, während der Sturm aufzieht, und es lächelt, es winkt den anderen zu, schon viel zu weit vom Strand entfernt, Wasser in den Lungen, Wasser im Kopf, und ruft: Alles in Ordnung, es geht mir sehr, sehr gut!“


Kathrin Weßling: Super, und dir? Erschienen bei Ullstein fünf, 256 Seiten. Die bislang beste Rezension zum Roman habe ich bei Literaturen gelesen, diese lest ihr hier.

Durch die Tage fetzen, irrlichtern. Über „Die Welt im Rücken“ von Thomas Melle.

dieweltimruckenIch sagen: In der Literaturkritik darf das nur der Blogger. Und beim Deutschen Buchpreis eigentlich niemand. Thomas Melle sagt Ich und steht trotzdem auf der diesjährigen Shortlist – und zwar zurecht. Die Welt im Rücken ist kein Roman, sondern die autobiographische Chronik einer Erkrankung, in der eben jenes Ich auf dem Spiel steht. Seit dem Ausbruch einer bipolaren Störung mit 24 ist Thomas Melles Leben ein Narrativ mit unzuverlässigem Erzähler, der ihn abwechselnd in Wahnvorstellungen und Depressionen stürzt. Aus medizinischer Sicht ist das Ich ein fiktives Konstrukt, eine Illusion, der wir uns bedienen, um unser Leben als fortdauernde Erzählung zu begreifen und uns mit unserem Blick auf die Welt, unseren Gedanken und Wünschen von anderen abzugrenzen. Als Manisch-Depressiver kämpft Thomas Melle dagegen bald sein halbes Leben gegen die Auflösung seiner eigenen Persönlichkeit an. Es ist ein Kampf gegen den Feind in seinem Kopf.

Ein unzuverlässiger Erzähler

Viele Autoren schreiben mal mehr, mal weniger kryptisch über sich selbst. Auseinandergenommen und neu zusammengesetzt dient Autobiographisches nicht selten als Baumaterial für Figuren und Plots. Ich etwa antworte auf die unvermeidliche Frage nach dem Ich in meinen Texten gerne, die Charaktere seien zwar nie Übertragungen, immer aber Ableitungen meiner Selbst: Sie nehmen an einem mir vertrauten Punkt einfach eine andere Abzweigung. So ähnlich schrieb bislang auch Thomas Melle. Die Figuren in seinen fiktionalen Texten hatten oft einen starken Bezug zu ihm und seiner Erkrankung; auch seine Erzählungen, zum Teil im Wahn entstanden, spiegeln das Zerfasern seines Egos. Die Fiktion hat vor dem realen Leben keinen Halt gemacht: Um in diesem Buch also Ich sagen zu können, musste Melle erst die Scherben seiner zersplitterten Persönlichkeit aufkehren und neu zusammensetzen.

Die wiederkehrende Auflösung seines Ichs zeigt sich gleich zu Beginn des Buches in einem starken Bild: Thomas Melle betrauert den Verlust seiner Bibliothek, deren Bücher er genau wie seine Musiksammlung verscherbelt hat. Es ist der Verlust von allem, was ihn früher einmal ausmachte – und symptomatisch für die manischen Phasen, in denen Melle Raubbau an seinem Leben und seiner Zukunft betrieb. Es ist immer wieder dasselbe: Nach Jahren scheinbarer Stabilität kippt seine Wahrnehmung unvermittelt und binnen kurzer Zeit ins Extreme – ein plötzlicher Bruch in seinem persönlichen Narrativ, der wie ein Strömungsabriss beim Fliegen automatisch zum Absturz führt.

Die Weltgeschichte: ein Narrativ mit Hauptfigur

„In manischen Phasen rast die Zeit. Jeder Tag fetzt an einem vorbei, nein, man fetzt vielmehr durch die Tage hindurch. Die Eindrücke sind zahllos, die Reize grell, die Schlafeinheiten kurz. Man lebt in der Überzeugung, jeglichen und alles in seinen Bahn ziehen zu können, ist bis in die letzte Nervenfaser von Kraft, Können, Allmacht, Glück und dann wieder von Panik, Wut und Schuld durchdrungen.“

Thomas Melle hat Wahnvorstellungen. Er ist davon überzeugt, auserwählt zu sein, ein Messias, auf den sich alle Zeichen der Welt beziehen. Ganz gleich, ob Song, Film oder Leuchtreklame: Alles zielt auf ihn ab. Es gibt niemanden, der nicht von ihm weiß, schon Goethe nahm Melles Rolle in der Weltgeschichte vorweg. Das Internet? Dreht sich nur um ihn. Seine Texte, auch die unveröffentlichten? Hat jeder gelesen, sogar der Bundeskanzler. Der elfte September? Allein seine Schuld. Melle spürt Druck: Man erwartet Großes von ihm. Kein Wunder, dass ihn alle beobachten! In seiner Vorstellung verwandelt sich die gesamte Menschheitsgeschichte in ein Narrativ mit ihm als Protagonisten. Seine Wahrnehmung speist sich aus immer abstruseren Verschwörungstheorien, die Welt verwandelt sich in ein Zeichensystem, das ausschließlich auf ihn verweist.

Während seiner psychotischen Schübe „fetzt“ Melle irrlichternd durch Tage, Wochen, Monate und reißt dabei eine Schneise der Zerstörung in sein Leben. Er verursacht mehrfach Eklats, verliert Freunde, Wohnungen und Geld, landet immer wieder in der geschlossenen psychiatrischen Abteilung. Irgendwann weicht die Manie dann wieder der Depression, und das Begreifen des vorangegangenen Wahns führt zu einer tiefen Scham, die genauso schwer auf seinen Schultern lastet wie die Vorstellung, der Erlöser der Welt zu sein. In seinen dunkelsten Stunden glaubt Thomas Melle schließlich, dass ihm selbst Erlösung nur durch Suizid möglich ist.

Ein Backup des Ichs

Schon wieder so ein Bekenntnisroman, mag nun mancher denken. Auch Benjamin von Stuckrad-Barre hat dieses Jahr schon von seinem jahrelangen Absturz in Kokainsucht und Bulimie erzählt und mit „Panikherz“ ein so erschütterndes wie schonungsloses Buch veröffentlicht. Aber ich gebe Tobias Nazemi auf Buchrevier Recht: Thomas Melle hat einfach das bessere Buch geschrieben. Panikherz hat grandiose Passagen, aber es strotzt bei aller Selbstzerfleischung zugleich vor Eitelkeit und Narzissmus. Thomas Melle dagegen ist dankbar, dass er sein Ego trotz seiner Krankheit irgendwie zusammenhalten konnte. Im Gegensatz zu Panikherz – und auch angesichts des Themas – ist Die Welt im Rücken überraschend fokussiert. Melle hat nicht eine Seite zu viel geschrieben. Nie weckt er die Ungeduld seiner Leser, indem er selbstverliebten Handlungssträngen Raum lässt oder der Versuchung unnötigen Namedroppings nachgibt. Seine temporeiche, immer treffsichere Prosa „fetzt“ stattdessen nur so durch die Seiten und erzeugt einen Sog, der bis zur letzten Seite anhält.

Dass Thomas Melle über seine bipolare Störung schreibt, ist sicher ein Stück weit Aufklärungsarbeit. Aber er tut es auch, um das, was von ihm geblieben ist, zu bewahren. Denn trotz seiner Medikamente, trotz aller Hoffnung auf einen Neuanfang ist Melle nicht geheilt: Eine manische Episode könnte sein Ich jederzeit erneut in Fetzen reißen und alles in Frage stellen. Am Schluss bittet er deshalb darum, ihm in diesem Fall sein eigenes Buch in die Hand zu drücken. Die Welt im Rücken ist ein Backup seiner Persönlichkeit, eine Sicherheitskopie des eigenen Narrativs. Ein Buch wie eine externe Festplatte, die – anders als seine Psyche – vor Erschütterungen geschützt ist. Zugleich will Thomas Melle diesen Teil seines Lebens endlich hinter sich lassen und sich selbst und seine Krankheit ein für allemal auserzählen – um dann neu anfangen zu können. Ein leeres Blatt, ganz ohne die Last seiner Kranken-, geschweige denn der Menschheitsgeschichte. Es ist ihm zu wünschen. Genau wie der Deutsche Buchpreis.


Thomas Melle: Die Welt im Rücken. 352 Seiten, erschienen bei Rowohlt. ISBN: 978-3871341700. Äußerst gelungene und sehr begeisterte Rezensionen zum Buch finden sich auch bei Buchrevier und auf Literaturen.

Zwei Schritte zurück. Über „An den Rändern der Welt“ von Olivier Adam

DSC_0164bPaul hat alles hinter sich gelassen. Als einer der wenigen hat er es aus der prekären Banlieue herausgeschafft und sich ein neues Leben aufgebaut. Von seiner Heimat, seinen Freunden und sogar seiner Familie entfremdet, ist Paul selbst optisch kaum wiederzuerkennen: Aus dem magersüchtigen, unsicheren Teenager von damals ist ein beleibter Familienvater und Schriftsteller geworden. Seinen inneren Dämonen entkommt Paul jedoch nicht. Schon als Zehnjähriger erfasste ihm beim Hinunterschauen von einer Klippe Todessehnsucht. Seine Depressionen drängen ihn seither immer weiter an den Rand, treiben ihn aus Paris und bis an die Küste der Brétagne, wo er zumindest für eine Weile mit seiner Frau Sarah und ihren innig geliebten Kindern Frieden findet, ehe sie die Last seiner Krankheit nicht mehr (er)tragen kann und Paul verlässt.

Ausgerechnet jetzt soll er in seine verhasste Heimat zurückkehren – weil seine Mutter nach einem schweren Sturz im Krankenhaus liegt, braucht sein Vater Pauls Hilfe. In der Banlieue trifft Paul auf alte Freunde, alte Liebschaften und alte Wunden, vor allem aber auf eine Stadt im Niedergang. Alles ist in Auflösung begriffen: Seine Mutter baut täglich stärker ab, und sein mürrischer Vater will das Haus, in dem er mit seinem Bruder aufgewachsen ist, verkaufen, um in ein altersgerechtes Wohnheim zu ziehen. Paul wird vom Getriebenen zum Heimatlosen: In sein altes Leben will und kann er nicht zurück. Aber auch sein Gegenwärtiges, dasjenige, das er sich gemeinsam mit Sarah aufgebaut hat, bleibt ihm versperrt. Ihr Haus in der Brétagne, das sie jahrelang mit viel Liebe zum Detail in ein Zuhause verwandelt haben, darf er nur noch als Gast betreten, während ihn ein Anderer als Familienvater und Ehemann zu ersetzen droht.

Kein Schritt nach vorne und zwei zurück

Als Symbol für seine Hoffnungslosigkeit verfolgt Paul voller Entsetzen in den Nachrichten, wie ein Tsunami eine Schneise der Zerstörung in seinen Sehnsuchtsort Japan reißt – ausgerechnet das Land, in dem er mit Sarah und den Kindern am glücklichsten gewesen ist und in das er hoffte, eines Tages mit ihnen zurückzukehren. Nach der Kernschmelze in Fukushima scheint diese Zukunft, diese Hoffnung auf lange Sicht verbaut. Paul schaut einmal mehr in den Abgrund und muss begreifen, dass ein Schritt nach vorne der eine zu viel wäre. Und dass er vielmehr zwei Schritte zurückgehen muss, um endlich Frieden mit sich zu schließen.

Ich habe den Roman kurz nach Rolf Lapperts Über den Winter gelesen, der eine ganz ähnliche Geschichte erzählt. Trotz vieler Parallelen könnte der Sound beider Romane aber kaum unterschiedlicher sein. Olivier Adams Ich-Erzähler Paul ist weitaus geschwätziger als Lapperts verschlossener Protagonist Salm, der nur wenig von sich preisgibt; die karge, reduzierte Prosa in Über den Winter spiegelt den Geisteszustand seiner Figur allerdings besser wider. Paul erzählt viel von sich, oft zu viel, und nimmt dem Leser damit Raum für eigene Gedanken, Assoziationen, Interpretationen. Etwas mehr Verdichtung hätte dem Roman an vielen Stellen gut getan. An den Rändern der Welt ist dennoch ein gelungener, melancholischer und teils sogar politischer Roman, der seine Figuren ernst nimmt und darüber hinaus ein deprimierendes Bild französischer Vorstädte zeichnet.


Olivier Adam: An den Rändern der Welt. Erschienen bei Klett-Cotta, aus dem Französischen von Michael von Killisch-Horn, ISBN: 978-3-608-98004-2. Auf den Roman gestoßen bin dank dieser sehr schönen Rezension bei Kaffeehaussitzer.

Egal. Über Ronja von Rönnes „Wir kommen“

wirkommenWir sollen uns Sorgen um Nora machen: Nora, die zunehmend unglücklich in einer Viererbeziehung lebt. Nora, die plötzlich Panikattacken hat und deshalb einen Therapeuten aufsucht. Nora, die nicht wahrhaben will, dass ihre Kindheitsfreundin Maja tatsächlich gestorben ist. Wenn wir uns in Ronja von Rönnes Debütroman Wir kommen um jemanden Sorgen machen sollen, dann klingt das so: „Seit zwei Wochen kippt alles, was gut war, ins nicht so Gute.“ Ein Satz mit der emotionalen Wucht ironischer Postkarten aus dem Werbeständer – und davon gibt es viele in diesem Roman.

Am Anfang von Wir kommen steht der Unglaube an Majas Tod, und das ist insofern passend, als dass Maja, die wir in eingestreuten Rückblenden kennen lernen dürfen, mit Abstand die lebendigste Figur des Romans ist. Laut Ich-Erzählerin Nora war alles an Maja unbedingt, und das unterscheidet sie stark von Nora und ihren Partnern Jonas, Leonie und Karl: Das Vierergespann mit der Erotik einer gelangweilten Soziologen-WG ist nämlich eher larifari als unbedingt und bleibt dem Leser deshalb leider auch ziemlich egal. Die permanente selbstreflexierende Ironisierung des Geschehens macht Wir kommen zwar stellenweise zu einer amüsanten Lektüre, schafft zugleich aber auch eine Distanz, die kaum Empathie mit den Figuren zulässt.

Harte Schale, toter Kern

Natürlich ist das Absicht: Die Gleichgültigkeit und Taubheit sind symptomatisch für Noras emotional unaufrichtiges Leben, in dem alles bloß Behauptung, bloß Fassade ist. Die Beziehung, in der alle zu viert einsamer sind als zu zweit, wird nur noch von der Idee zusammengehalten und steht kurz vor dem Aus. Auch der Job fürs Trashfernsehen und ihr oberflächliches Umfeld aus Kreativen und Halbprominenten füllen Noras Leben schon lange nicht mehr aus. Nora geht es wie der Schildkröte ihrer Freundin, die sie, ohne dass sie es bemerkt, tagelang als Leiche spazieren trägt: Unter der harten Schale zum Schein ist sie innerlich längst tot. Noras Panikattacken sind nicht nur ein Ventil für unterdrückten Schmerz – sie zeugen auch von einer seelischen Notwendigkeit, endlich wieder etwas zu fühlen, etwas Echtes, Unbedingtes. Zum Beispiel die echte Nähe und unbedingte Verbundenheit, nach der sie sich insgeheim mit Jonas sehnt.

Leider gelingt es Ronja von Rönne nicht, diese emotionale Dringlichkeit glaubhaft zu vermitteln. Noras Ängste lassen sich als Leser nicht nachempfinden, sondern werden bloß behauptet; sie sind erkennbar Teil einer literarischen Versuchsanordnung vom Reißbrett, deren Figuren stets Schablonen bleiben – und damit egal. Das ist tatsächlich schade: Wir kommen ist ein amüsantes Debüt mit Sprachwitz und Tempo, das, obwohl es sich oft eher wie eine Kolumne mit Überlänge als wie ein Roman liest, an manchen Stellen durchaus brilliert. Die Idee, mit einem Flüchtling als angesagtes Must-have-Accessoire auf einer Party zu prahlen („Ich habe jetzt auch einen!“) ist zum Beispiel großartige Satire. Doch auch Noras seelische Erkrankung wird wie ein erzählerisches me-too abgehakt: hat man heute eben so in Romanen junger AutorInnen, gehört halt dazu. Der Roman nimmt die Krankheit nicht ernst, und das ist wahrscheinlich das Ärgerlichste und Enttäuschendste an ihm – dicht gefolgt von der Vermutung, dass Ronja von Rönne mit mehr Zeit und weniger Hype vielleicht ein sehr viel besserer Roman gelungen wäre.


Ronja von Rönne: Wir kommen. Erschienen im Aufbau Verlag, ISBN: 978-3-351-03632-4. Andere Besprechungen u.a. bei Buchrevier oder auf Literaturen.

Notizen 6/16

Dezemberfieber-CoverLeider habe ich noch immer keine Zeit und Muße für eine neue Rezension gefunden – andere bloggen zum Glück deutlich regelmäßiger als ich. So zum Beispiel Constanze Matthes auf Zeichen und Zeiten, der ich eine wunderbare neue Rezension zu Dezemberfieber verdanke: Ein Erstling, der es vermag, den Leser sowohl eng an die Handlung und den Helden zu binden, den man manchmal ob seines abgedrehten Verhaltens einfach mal durchschütteln möchte. Eindrucksvoll gelingt es Frank O. Rudkoffsky zudem, sowohl die Gegensätze, die Stimmung und Reize des asiatischen Landes zu beschreiben, als auch detail- und bilderreich Szenen auszugestalten. Großer Verdienst des Buches ist es allerdings auch, die Aufmerksamkeit auf die Krankheit Depression zu richten. Ein Thema, das in der Öffentlichkeit noch längst nicht angekommen ist und noch immer nicht offen debattiert werden kann. (Hier entlang zu weiteren Stimmen zum Roman.)

Dem Thema Depressionen hat sich unlängst auch Karla Paul auf Buchkolumne gewidmet. In ihrer Literaturliste durch die Dunkelheit, in der sie Romane und Sachbücher über die Krankheit zusammengestellt hat, fand dankenswerterweise auch Dezemberfieber Platz. Eine wichtige und gute Liste, die in Zukunft noch erweitert werden soll. Einen der dort genannten Romane – Olivier Adams An den Rändern der Welt – werde ich in Kürze auch auf meinem Blog vorstellen. Auf das Buch gestoßen bin ich übrigens dank einer sehr schönen Rezension bei Kaffeehaussitzer! Auch in der Liste: Der Planet Trillaphon in seinem Verhältnis zur üblen Sache von David Foster Wallace, das ich im vergangenen Frühjahr besprochen habe.

trashpool7Neues gibt es auch zu ]trash[pool: Auf Logbuch Suhrkamp, dem Blog des Suhrkamp Verlags, werden seit kurzem regelmäßig Literaturzeitschriften vorgestellt – da durften wir natürlich nicht fehlen! In unserem Porträt erzählen wir ein bisschen aus dem Nähkästchen und umreißen nicht nur unser Profil, sondern schildern auch, wie unsere Textauswahl zustande kommt. Vielen Dank an die Redaktion, dass wir uns im Rahmen dieser schönen Reihe vorstellen durften!

Zu guter Letzt noch ein Veranstaltungshinweis: Am Donnerstag, dem 23. Juni, lese ich gemeinsam mit den Autoren Daniel Breuer (duotincta) und Matthias Hirth (Voland & Quist) in Berlin. Mehr Infos zur Lesung im Klub der Republik findet Ihr hier – über ein ein paar bekannte Gesichter im Publikum würde ich mich sehr freuen!

118 Gramm Schwermut.

trillophonKeine Frage, David Foster Wallace ist kein literarisches Leichtgewicht. Auch buchstäblich nicht: Sein Mammutroman „Unendlicher Spaß“ bringt in der Hardcover-Version ganze 1,48 kg auf die Waage und ist damit nicht nur inhaltlich alles andere als leichte Lektüre. „Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache“, Wallaces erste publizierte Kurzgeschichte aus dem Jahr 1984, bringt es dagegen gerade einmal auf magere 118 Gramm und wirft damit die Frage auf, ob der geringe Textumfang eine Veröffentlichung als eigenständiges Buch rechtfertigt.

Anstatt seine bislang in Deutschland unveröffentlichten Texte zu einem letzten Band zusammenzufassen, der die Vielfalt seines Wirkens und Könnens unter Beweis stellt, hat Kiepenheuer & Witsch ähnlich wie bei „Am Beispiel des Hummers“ oder „Das hier ist Wasser“ einen relativ kurzen Text mit kinderbuchgerechtem Schriftbild und einer nur für wenige Leser interessanten Englischfassung unverhältnismäßig aufgeblasen, um auch noch die letzten Krümel von Wallace als Kuchen zu verkaufen. Brauchte man für die unzähligen Fußnoten seines wichtigsten Romans beinahe eine Lupe, ließe sich dieses Büchlein auch mit ausgestrecktem Arm noch gut lesen. Von meiner Oma. Einzelgeschichten oder Essays wie eine Single zu veröffentlichen, ist nur dann eine gute Idee, wenn Inhalt und Preis in einem fairen Verhältnis zueinander stehen. Sechs Euro für eine bestenfalls zwanzigminütige Lektüre stehen jedoch weder in Relation zu den 17,99 € für 1552 Seiten unendlichen Spaßes noch zur Preisentwicklung auf dem E-Book-Markt; die digitale Variante der Kurzgeschichte ist großzügigerweise um einen ganzen Eurocent günstiger und damit fast ein Schnäppchen – zumindest für diejenigen, die ihre Kugelschreiber gerne im Ein-Euro-Shop kaufen. Einzeln, versteht sich.

Diese Veröffentlichung ist leider symptomatisch für vieles, das derzeit bei den etablierten Verlagshäusern falsch läuft. Dass ich mich trotzdem für dumm verkaufen ließ, hat drei Gründe. Zum einen hat mich David Foster Wallace in „Unendlicher Spaß“ so stark beeindruckt wie kein Autor zuvor; er hat die Messlatte für mich nicht einfach bloß höher gehängt, sondern geradezu die Skala gesprengt. Zum anderen freue ich mich, wenn die herausragende Arbeit seines sympathischen Übersetzers Ulrich Blumenbach gewürdigt wird. Zu guter Letzt hat mich auch das Thema von „Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache“ gereizt: Depressionen spielen auch in Dezemberfieber eine zentrale Rolle. Während in meinem Roman die Krankheit einem Menschen die Sprache raubt und mit ihr seine Persönlichkeit, sucht Wallace genau dort sein Heil: Im Ringen um Worte für das Unaussprechliche will er seine Depressionen mit offenem Visier bekämpfen. Schon in seinem opus magnum hat David Foster Wallace das Wesen seelischer Krankheiten so schmerzhaft präzise auf den Punkt gebracht wie kaum ein anderer. Nirgends schrieb Wallace so offen über seine persönlichen Abgründe wie in „Unendlicher Spaß“ – außer eben in jener ersten Kurzgeschichte, die er mit 22 im „The Amherst Review“ veröffentlichte und die kaum chiffriert seine eigene Krankengeschichte beschreibt. In „Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache“ begegnen wir Wallace als jungem Autor, der seinen einzigartigen Stil noch lange nicht gefunden hat. Dennoch ist in dieser frühen Kurzgeschichte bereits viel von dem zu finden, was Wallace knapp zehn Jahre später zu einem der brillantesten Schriftsteller seine Generation machte: Man bekommt eine erste Ahnung von der Präzision und dem tieftraurigen Humor, mit denen er seinen Schmerz zu sezieren versucht, wenn auch noch nicht mit derselben Meisterschaft wie in „Unendlicher Spaß“.

Gerade jetzt, wo Depressionen nach dem Absturz der Gemanwings-Maschine dank aufgepeitschter Medienberichterstattung wieder zum gesellschaftlichen Stigma zu werden drohen, ist diese Kurzgeschichte eigentlich eine lohnenswerte Lektüre; eine treffendere Beschreibung dieser Krankheit habe ich bislang nicht gelesen. Wenn ich jedoch anfinge, hier aus dem Text zu zitieren, stünde vermutlich bald das halbe Büchlein in diesem Eintrag. Einen guten Eindruck findet man dagegen in der aktuellen Ausgabe vom Spiegel, in dem das Filetstück des Textes abgedruckt wurde. Für schlappe 4,60 € bekommt man obendrein 136 weitere Seiten mit mehr oder weniger lesenswerten Artikeln und vielen bunten Bildern, darunter auch eines mit sechs niedlichen Hasen; die verbleibenden 1,40 € lassen sich bei diesem schönen Frühlingswetter in anderthalb Kugeln Eis investieren – da stimmt dann auch das Preis-/Leistungsverhältnis. Schade eigentlich.