Familie

Wie man Entfremdung spielt. Über „Hier bin ich“ von Jonathan Safran Foer

img_4700Ein Scheidungsroman also. Elf Jahre nach Extrem laut und unglaublich nah meldet sich Foer mit einem Roman zurück, in dem er – zumindest oberflächlich – seine Trennung von Nicole Krauss verarbeitet. Anstelle von E-Mails an Natalie Portman sind es in Hier bin ich heimliche SMS an eine Kollegin, die die Ehe seiner Figuren in die Krise stürzen. Aber Jonathan Safran Foer wäre nicht Jonathan Safran Foer, wenn er die Ausgangssituation nicht nutzen würde, um einen sehr viel größeren Bogen zu spannen – unter der Zerstörung Israels macht er es nicht. Hier bin ich ist kein kleiner, intimer Roman über das Ende einer Beziehung, sondern eine Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Judentum, ein Roman über Entwurzelung und Entfremdung, Verlust und Neubeginn.

Anfangs sind die Sorgen von Jacob und Julia Bloch noch überschaubar: Ihr ältester Sohn Sam versucht mit allen Mitteln, seine bevorstehende Bar Mizwa zu torpedieren und verbringt seine Zeit lieber im Second Life, wo er mit großem Aufwand digitale Synagogen erbaut, nur um sie anschließend wieder zu sprengen. Dabei ist längst ein großes Fest geplant – sogar die Verwandtschaft aus Israel wird anreisen, um seiner rituellen Mannwerdung beizuwohnen. Besonders gläubig sind die Blochs allerdings nicht; sie betrachten die jüdischen Traditionen und die Anbindung an ihre Gemeinde vor allem als Teil ihrer kulturellen und familiären Identität. Zum Judentum in Israel hat Jacob schon lange den Kontakt verloren. Er war seit Jahren nicht dort, reiste mit seinen drei Kindern lieber nach Berlin als die Verwandtschaft um seinen Cousin Tamir zu besuchen. Stattdessen pflegen Jacob und Julia ihre unzähligen, so skurrilen wie liebenswerten Familienrituale wie eine Ersatzreligion; seine Notizen zu den Besonderheiten der Blochs, aus denen er eines Tages eine Fernsehsendung machen möchte, nennt der Schriftsteller nicht umsonst Bibel.

Umso schwerer wiegt für Jacob die Erkenntnis, dass seine Ehe mit Julia nach sechzehn Jahren Beziehung am Ende ist. Die aufgeflogenen SMS an seine Kollegin sind ebenso wie das sich anbahnende Techtelmechtel Julias mit einem anderen Mann nur symptomatisch für eine seit Jahren voranschreitende Entfremdung. Aus den kleinen Alltagslügen wurden immer größere, aus Verschlossenheit wurde Schweigen. Im zermürbenden Alltag ist ihre Beziehung zum bloßen Ritual verkommen, ausgehöhlt wie eine religiöse Tradition, die ohne Glauben nur noch dem Selbstzweck dient. Das einzige, was sie – obwohl sie noch Fürsorge füreinander empfinden – miteinander verbindet, sind ihre Kinder und die gemeinsame Geschichte.

Damit geht es Jacob und Julia ähnlich wie den amerikanischen Juden und dem israelischen Volk. Sie teilen denselben Glauben, sind durch ihre Geschichte und Traditionen miteinander verbunden, und doch führen sie – trotz Sympathien und einem moralischen Verantwortungsgefühl füreinander – so unterschiedliche Leben, dass sie sich voneinander entfremdet haben. Als Jacobs Cousin Tamir mit seinen Kindern zu Sams Bar Mizwa anreist, geschieht in dessen Heimat das Unfassbare: Nachdem ein Erdbeben Israel und seine Anliegerstaaten verwüstet hat, eskaliert die politisch angespannte Situation zum Krieg. Das Entsetzen über die Katastrophe ist so groß, dass sich Jacobs Großvater, der damals vor dem Holocaust in die USA floh und das einzige Bindeglied zwischen der amerikanischen und israelischen Familienseite ist, das Leben nimmt. Als die israelische Regierung an alle amerikanischen Juden appelliert, „heimzukehren“ und für Israel in den Krieg zu ziehen, glaubt Jacob – unter dem Eindruck seiner drohenden Scheidung – endlich Verantwortung übernehmen zu müssen, um seine kulturelle Heimat vor dem Untergang zu bewahren.

In den ersten Kapiteln von Hier bin ich macht es Jonathan Safran Foer seinen Lesern nicht leicht, in den Roman zu finden; nach anfänglichen Orientierungsproblemen habe ich den gewohnten Einfallsreichtum, die eigenwilligen Figuren und den Sprachwitz Foers jedoch sehr genossen. Besonders in der ersten Hälfte ist Hier bin ich ein tieftrauriger Roman, der es aller Schwermut zum Trotz immer wieder schafft, zum Lachen zu bringen. Wie in seinen ersten beiden Romanen sind es vor allem die vielen kleinen, cleveren Einfälle – etwa die Familienrituale der Blochs -, die Foers Geschichten zu etwas Besonderem machen. Zugleich sind manche von ihnen aber auch zu schön, um wahr zu sein. Auch seine Figuren, in erster Linie Jacobs und Julias etwas altklugen Kinder, wirken gelegentlich eher wie die Verkörperungen von Ideen, als dass sie echten Menschen glichen. Stets lässt Foer sie besonders witzige und kluge Dinge sagen, stets lässt er sie genau die richtigen Fragen stellen. Das ist unterhaltsam und oft intelligent, geht zugleich aber auf Kosten ihrer Glaubwürdigkeit. Das Artifizielle an Jonathan Safran Foers Art, zu schreiben, kann man mögen. Muss man aber nicht.

Während die Ehekrise zwischen Jacob und Julia in der ersten Hälfte für große Spannung sorgt, franst der Roman nach der Katastrophe in Israel ein wenig aus. Die vielen, langen Dialoge werden irgendwann zu viel und zu lang und die klugen Kinder zu klug, auch Jacob schafft es irgendwann, nicht mehr nur Julia auf den Geist zu gehen. Rundum gelungen wird es erst wieder, wenn Jonathan Safran Foer mit einem Kapitel aus Jacobs Bibel die lineare Erzählstruktur aufbricht und darin episodische Schlaglichter auf die Vergangenheit und die Zukunft der Blochs wirft. Vielleicht wäre es besser gewesen, den Roman in diesem Mosaikstil auch enden zu lassen. Und symbolischer: Die Einheit, die in der Familie, im Judentum, im Erzählen anfangs herrschte, lässt sich nach dem Bruch nicht wieder herstellen. Es braucht Willen und manchmal auch Kraft, um eine Verbindung aufrecht zu erhalten.


Jonathan Safran Foer: Hier bin ich. Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens. Erschienen bei Kiepenheuer & Witsch, 688 Seiten. Sehr gegensätzliche und lesenswerte Rezensionen erschienen jüngst auch bei Schöne SeitenBuchrevier, Buzzaldrins Bücher sowie Wortmax.

Zwei Schritte zurück. Über „An den Rändern der Welt“ von Olivier Adam

DSC_0164bPaul hat alles hinter sich gelassen. Als einer der wenigen hat er es aus der prekären Banlieue herausgeschafft und sich ein neues Leben aufgebaut. Von seiner Heimat, seinen Freunden und sogar seiner Familie entfremdet, ist Paul selbst optisch kaum wiederzuerkennen: Aus dem magersüchtigen, unsicheren Teenager von damals ist ein beleibter Familienvater und Schriftsteller geworden. Seinen inneren Dämonen entkommt Paul jedoch nicht. Schon als Zehnjähriger erfasste ihm beim Hinunterschauen von einer Klippe Todessehnsucht. Seine Depressionen drängen ihn seither immer weiter an den Rand, treiben ihn aus Paris und bis an die Küste der Brétagne, wo er zumindest für eine Weile mit seiner Frau Sarah und ihren innig geliebten Kindern Frieden findet, ehe sie die Last seiner Krankheit nicht mehr (er)tragen kann und Paul verlässt.

Ausgerechnet jetzt soll er in seine verhasste Heimat zurückkehren – weil seine Mutter nach einem schweren Sturz im Krankenhaus liegt, braucht sein Vater Pauls Hilfe. In der Banlieue trifft Paul auf alte Freunde, alte Liebschaften und alte Wunden, vor allem aber auf eine Stadt im Niedergang. Alles ist in Auflösung begriffen: Seine Mutter baut täglich stärker ab, und sein mürrischer Vater will das Haus, in dem er mit seinem Bruder aufgewachsen ist, verkaufen, um in ein altersgerechtes Wohnheim zu ziehen. Paul wird vom Getriebenen zum Heimatlosen: In sein altes Leben will und kann er nicht zurück. Aber auch sein Gegenwärtiges, dasjenige, das er sich gemeinsam mit Sarah aufgebaut hat, bleibt ihm versperrt. Ihr Haus in der Brétagne, das sie jahrelang mit viel Liebe zum Detail in ein Zuhause verwandelt haben, darf er nur noch als Gast betreten, während ihn ein Anderer als Familienvater und Ehemann zu ersetzen droht.

Kein Schritt nach vorne und zwei zurück

Als Symbol für seine Hoffnungslosigkeit verfolgt Paul voller Entsetzen in den Nachrichten, wie ein Tsunami eine Schneise der Zerstörung in seinen Sehnsuchtsort Japan reißt – ausgerechnet das Land, in dem er mit Sarah und den Kindern am glücklichsten gewesen ist und in das er hoffte, eines Tages mit ihnen zurückzukehren. Nach der Kernschmelze in Fukushima scheint diese Zukunft, diese Hoffnung auf lange Sicht verbaut. Paul schaut einmal mehr in den Abgrund und muss begreifen, dass ein Schritt nach vorne der eine zu viel wäre. Und dass er vielmehr zwei Schritte zurückgehen muss, um endlich Frieden mit sich zu schließen.

Ich habe den Roman kurz nach Rolf Lapperts Über den Winter gelesen, der eine ganz ähnliche Geschichte erzählt. Trotz vieler Parallelen könnte der Sound beider Romane aber kaum unterschiedlicher sein. Olivier Adams Ich-Erzähler Paul ist weitaus geschwätziger als Lapperts verschlossener Protagonist Salm, der nur wenig von sich preisgibt; die karge, reduzierte Prosa in Über den Winter spiegelt den Geisteszustand seiner Figur allerdings besser wider. Paul erzählt viel von sich, oft zu viel, und nimmt dem Leser damit Raum für eigene Gedanken, Assoziationen, Interpretationen. Etwas mehr Verdichtung hätte dem Roman an vielen Stellen gut getan. An den Rändern der Welt ist dennoch ein gelungener, melancholischer und teils sogar politischer Roman, der seine Figuren ernst nimmt und darüber hinaus ein deprimierendes Bild französischer Vorstädte zeichnet.


Olivier Adam: An den Rändern der Welt. Erschienen bei Klett-Cotta, aus dem Französischen von Michael von Killisch-Horn, ISBN: 978-3-608-98004-2. Auf den Roman gestoßen bin dank dieser sehr schönen Rezension bei Kaffeehaussitzer.