Tsunami

Zwei Schritte zurück. Über „An den Rändern der Welt“ von Olivier Adam

DSC_0164bPaul hat alles hinter sich gelassen. Als einer der wenigen hat er es aus der prekären Banlieue herausgeschafft und sich ein neues Leben aufgebaut. Von seiner Heimat, seinen Freunden und sogar seiner Familie entfremdet, ist Paul selbst optisch kaum wiederzuerkennen: Aus dem magersüchtigen, unsicheren Teenager von damals ist ein beleibter Familienvater und Schriftsteller geworden. Seinen inneren Dämonen entkommt Paul jedoch nicht. Schon als Zehnjähriger erfasste ihm beim Hinunterschauen von einer Klippe Todessehnsucht. Seine Depressionen drängen ihn seither immer weiter an den Rand, treiben ihn aus Paris und bis an die Küste der Brétagne, wo er zumindest für eine Weile mit seiner Frau Sarah und ihren innig geliebten Kindern Frieden findet, ehe sie die Last seiner Krankheit nicht mehr (er)tragen kann und Paul verlässt.

Ausgerechnet jetzt soll er in seine verhasste Heimat zurückkehren – weil seine Mutter nach einem schweren Sturz im Krankenhaus liegt, braucht sein Vater Pauls Hilfe. In der Banlieue trifft Paul auf alte Freunde, alte Liebschaften und alte Wunden, vor allem aber auf eine Stadt im Niedergang. Alles ist in Auflösung begriffen: Seine Mutter baut täglich stärker ab, und sein mürrischer Vater will das Haus, in dem er mit seinem Bruder aufgewachsen ist, verkaufen, um in ein altersgerechtes Wohnheim zu ziehen. Paul wird vom Getriebenen zum Heimatlosen: In sein altes Leben will und kann er nicht zurück. Aber auch sein Gegenwärtiges, dasjenige, das er sich gemeinsam mit Sarah aufgebaut hat, bleibt ihm versperrt. Ihr Haus in der Brétagne, das sie jahrelang mit viel Liebe zum Detail in ein Zuhause verwandelt haben, darf er nur noch als Gast betreten, während ihn ein Anderer als Familienvater und Ehemann zu ersetzen droht.

Kein Schritt nach vorne und zwei zurück

Als Symbol für seine Hoffnungslosigkeit verfolgt Paul voller Entsetzen in den Nachrichten, wie ein Tsunami eine Schneise der Zerstörung in seinen Sehnsuchtsort Japan reißt – ausgerechnet das Land, in dem er mit Sarah und den Kindern am glücklichsten gewesen ist und in das er hoffte, eines Tages mit ihnen zurückzukehren. Nach der Kernschmelze in Fukushima scheint diese Zukunft, diese Hoffnung auf lange Sicht verbaut. Paul schaut einmal mehr in den Abgrund und muss begreifen, dass ein Schritt nach vorne der eine zu viel wäre. Und dass er vielmehr zwei Schritte zurückgehen muss, um endlich Frieden mit sich zu schließen.

Ich habe den Roman kurz nach Rolf Lapperts Über den Winter gelesen, der eine ganz ähnliche Geschichte erzählt. Trotz vieler Parallelen könnte der Sound beider Romane aber kaum unterschiedlicher sein. Olivier Adams Ich-Erzähler Paul ist weitaus geschwätziger als Lapperts verschlossener Protagonist Salm, der nur wenig von sich preisgibt; die karge, reduzierte Prosa in Über den Winter spiegelt den Geisteszustand seiner Figur allerdings besser wider. Paul erzählt viel von sich, oft zu viel, und nimmt dem Leser damit Raum für eigene Gedanken, Assoziationen, Interpretationen. Etwas mehr Verdichtung hätte dem Roman an vielen Stellen gut getan. An den Rändern der Welt ist dennoch ein gelungener, melancholischer und teils sogar politischer Roman, der seine Figuren ernst nimmt und darüber hinaus ein deprimierendes Bild französischer Vorstädte zeichnet.


Olivier Adam: An den Rändern der Welt. Erschienen bei Klett-Cotta, aus dem Französischen von Michael von Killisch-Horn, ISBN: 978-3-608-98004-2. Auf den Roman gestoßen bin dank dieser sehr schönen Rezension bei Kaffeehaussitzer.

Tsunami-Gedenktag. Auszug aus „Dezemberfieber“

„Noch warten alle auf die Dunkelheit und darauf, dass einer den Anfang macht. Bis vor wenigen Minuten warf der Himmel noch Pastellfarben aufs Meer, übergießt es aber schon bald mit schwarzem, im Mondlicht glänzendem Lack. […] Der Strand ist voller Menschen; eine Menge Touristen, vor allem aber Thais. Einige stehen allein am Wasser, manche in kleinen Gruppen. Aus Respekt halten alle Abstand zueinander. Neben Bastian bereitet ein Paar mit einem Säugling schweigend ihre Laterne vor. Er fragt sich, um wen sie wohl trauern. Vielleicht haben sie beim Tsunami ihre Partner verloren, vielleicht Freunde oder Eltern, vielleicht sogar ihr Erstgeborenes. Als der Mann den Lampion am Gerippe aus dünnem Bambusspan anhebt, knistert das Papier leise im Wind. Das Baby noch im Arm, kniet sich die Frau in den Sand, wartet mit dem Anzünden der Fackel aber, bis über dem Wasser das erste Leuchten zu sehen ist. Kurz darauf steigen hunderte Laternen auf einmal lautlos in die Dunkelheit auf. Auch die Frau zündet ihren Lampion jetzt an, der sich sich von der heißen Luft sofort aufbläht. Gemeinsam mit dem Mann hält sie ihn einen Augenblick lang fest, dann lassen sie gleichzeitig los. […] Schnell füllen die Laternen beinahe den ganzen Nachthimmel aus; sie schweben aufs Meer hinaus und neigen sich im Wind. Ein paar von ihnen drohen nach einer leichten Böe fast zu kippen und fallen zurück, holen die anderen Lampions jedoch bald wieder ein und schießen dann schief an ihnen vorbei. Schon nach wenigen Minuten bilden sie nur noch kleine Leuchtpunkte über der Andamanensee, bis sich ihre Spuren allmählich am Horizont verlieren.“