Literatur

Retten, was zu retten ist. Über „Erschütterung“ von Percival Everett

everett_erschütterungIn den USA, Frankreich und Italien ist Percival Everett längst Kult, hierzulande gilt er noch als Geheimtipp. Zeit, das endlich zu ändern: In seinem wohl spannendsten und bewegendsten Roman Erschütterung erzählt der Autor von einer Verzweiflungstat. Weil er seine Tochter nicht vor ihrer unheilbaren Krankheit bewahren kann, entschließt sich ein Vater stattdessen zu einer wahnwitzigen Rettungsmission nahe der mexikanischen Grenze.

Zach Wells ist niemand, dem man eine Heldentat zutraut. Schließlich ist der Schwarze Paläontologieprofessor nicht gerade ein netter Mensch. Gegenüber Studierenden und KollegInnen ist er zumeist so schonungslos ehrlich und ironisch distanziert, dass es an Schroffheit grenzt. Auch sich selbst betrachtet er bloß mit selbstgerechter, fast spöttischer Abgeklärtheit. Echtes Engagement für andere, gar Herzlichkeit? Fehlanzeige. Mit den Fossilienfunden aus der abgeschiedenen Höhle, für die er als Experte gilt, scheint er sich wohler zu fühlen als in der Gegenwart lebender Menschen.

Mit einer Ausnahme: Zuhause bei seiner zwölfjährigen Tochter Sarah ist Zach nämlich ein anderer. Die Liebe zu ihr macht einen besseren Menschen aus ihm – und er weiß das. Im Gegensatz zur von Alltag und Entfremdung ermatteten Ehe mit seiner Frau Meg ist die Beziehung zwischen Sarah und ihm von spielerischer Leichtigkeit geprägt. Ob während ihrer regelmäßigen Schachpartien, beim Wandern oder am Esstisch, ständig überbieten die beiden einander mit schlagfertigen Kommentaren oder Insiderwitzen, bei denen Sarahs Mutter außen vor bleibt. Zachs Liebe zu ihr ist so bedingungslos wie aufrichtig, allein sie ist es, die ihm das Leben überhaupt lebenswert erscheinen lässt. Daher ist es auch kein Wunder, dass Zach es als Erster bemerkt: Irgendetwas stimmt mit Sarah nicht. Am Anfang steht ein ungewohnt fahrlässiger Fehler beim Schach, am Ende eine Diagnose, die Zach zutiefst erschüttert. Auf der Suche nach der Ursache für Sarahs rätselhafte Sehstörungen wird bei ihr wird das Batten-Syndrom diagnostiziert – eine unheilbare Krankheit, die für die Zwölfjährige nicht nur baldige Demenz, sondern auch einen frühen Tod bedeutet.

Der erste zweier Wendepunkte im Roman

Es ist Sarahs Diagnose, die den ersten zweier Wendepunkte in Percival Everetts Meisterwerk Erschütterung markiert. Was wie ein sarkastischer Campus-Roman beginnt, kippt so jäh ins Tragische, dass es kaum auszuhalten ist. Auf einmal ist man als LeserIn ganz bei Zach, dem Antihelden, den man eben noch scheitern sehen wollte oder dem man wenigstens eine ordentliche Läuterung an den Hals gewünscht hat. Mit schmerzhafter Klarheit, aber ohne Pathos rückt Everett nun die Hilflosigkeit seines Protagonisten in den Fokus: Egal, was er tut, Zach kann Sarah nicht retten. Ihm und Meg bleibt nichts anderes übrig, als tatenlos zuzusehen, wie ihre Tochter Tag für Tag mehr verschwindet.

Aus Verzweiflung kapselt sich Zach immer weiter von seiner Familie ab. Mit der voranschreitenden Demenz seiner Tochter tritt an die Stelle tiefer Trauer jedoch Entschlossenheit: Als er im Kragen eines im Internet gekauften Hemdes einen eingenähten Hilferuf findet, der ihn auf die Spur entführter mexikanischer Frauen führt, trifft Zack nämlich eine riskante Entscheidung. Wenn er Sarah schon nicht retten kann, dann muss er eben jemand anderen retten, ganz gleich, ob aus Altruismus oder bloß für sich selbst. Anstatt seiner Frau Meg zur Seite zu stehen, bricht Zack ins Gebiet nahe der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze auf, um diese Frauen irgendwie zu retten – und plötzlich nimmt Percival Everetts Roman eine weitere überraschende Wendung.

Wozu sich festlegen?

Bei seinen Büchern weiß man nie, was einen erwartet: Vielleicht ist das neben dem trockenen Humor die größte Konstante im Schaffen von Percival Everett. Sein Literaturagent soll – so jedenfalls die Legende – ihn sogar schon einmal angefleht haben, sich als Autor doch bitte, bitte einmal zu wiederholen. Offenbar vergebens: Keiner der mehr als zwanzig Romane, die der 1956 geborene, preisgekrönte US-Autor und Englischprofessor bislang veröffentlicht hat, gleicht dem anderen. Im Falle von Telephone, so der Titel der für den Pulitzer-Preis nominierten Originalversion von Erschütterung, trifft Everetts Unberechenbarkeit sogar auf ein einzelnes Buch zu. Man munkelt, dass drei leicht abweichende Versionen des Romans existieren sollen …

Typisch für Percival Everett: Wozu sich festlegen? Einer wie er lässt sich halt nur ungern einordnen. Vielleicht ist das auch der Grund, warum der Schwarze Schriftsteller selbst in den USA lange eher als Geheimtipp galt – eine Art Writer’s Writer, der vor allem von anderen AutorInnen geschätzt wird, aber nie den ganz großen Erfolg hatte. Trotzdem wächst seine Fangemeinde stetig, wie auch in Frankreich und Italien, wo Percival Everett längst als Kultautor gilt und bereits seit Jahren übersetzt wird. Anders in Deutschland: Hierzulande ist er fast noch ein Unbekannter; tatsächlich ist Erschütterung erst das vierte Buch, das ins Deutsche übertragen wurde.

Von der Westernparodie zum Neo-Western

Ein bemerkenswertes Beispiel für die literarische Spannbreite Everetts erschien bereits 2014 in der Weltlese-Reihe der Büchergilde: Herausgegeben von Ilija Trojanow, der Everett einmal als „literarischen Quentin Tarantino auf Speed“ bezeichnete, bildet der Roman God’s Country einen starken Kontrast zum bewegenden Erschütterung. God’s Country, ursprünglich im Jahr 1994 veröffentlicht, ist eine derbe Westernparodie, die das Spiel mit Genreklischees mit viel Witz auf die Spitze treibt Es ist alles da, was man aus alten Hollywoodschinken und Groschenromanen kennt: die Saloons und die Pistolenduelle, markige Cowboys und Native Americans, Bankräuber und Sheriffs, die ihnen mit dem Galgen drohen. Everetts Personal ist so überzeichnet wie in einer Kino-Groteske, sein Thema jedoch ein ernstes: Indem er dem moralisch verkommenen Ich-Erzähler Curt Marder den aufrechten und integren Schwarzen Fährtenleser Bubba an die Seite stellt, um gemeinsam Marders entführte Frau zu retten, stellt Everett im Laufe des Romans nicht nur den Rassismus seiner Hauptfigur und der damaligen Zeit bloß – er entlarvt auch den inhärenten Rassismus einer ganzen Gattung: Der klassische Western hat die US-amerikanische Kultur geprägt wie kein anderes Genre. Sein Narrativ ist, wie Everett zeigt, aber durch und durch von rassistischen Klischees geprägt, die bis heute in die Gesellschaft hineinwirken.

Obwohl Everetts trockener Witz auch im ungleich ernsteren Erschütterung durchscheint und beide Romane in eine waghalsige Rettungsmission münden, könnten sie kaum unterschiedlicher sein – dabei kommt Everett dem Western im letzten Drittel Erschütterung tatsächlich so nahe wie seit God Country nicht mehr. Als der trauernde Paläontologe Zach Wells im Grenzgebiet zu Mexiko das Fabrikgebäude entdeckt, in der US-amerikanische Neonazis ein gutes Dutzend entführter mexikanischer Frauen zur Arbeit zwingen, findet man sich als LeserIn plötzlich im Setting eines Neo-Westerns wieder und fühlt sich an die trostlosen Wüstenszenen hinter Albuquerque aus der Serie Breaking Bad oder an den Film No Country for Old Men von den Coen-Brüdern erinnert.

Eine Pointe, auf die nur einer wie Everett kommen kann

Mit diesem Bruch im Plot gelingt Everett ein wahres Kunststück: Ohne an Glaubwürdigkeit zu verlieren, wird der anfangs launige, später tieftraurige Roman auf einmal zu einem fesselnden Pageturner, in dem sich der Protagonist ernsthaft in Gefahr begibt. Zwar ist sich Zach im Klaren darüber, dass sein wahnwitziger Plan den Schmerz darüber, Sarah nicht retten zu können, niemals lindern kann, trotzdem sieht er keine Alternative: Er muss diesen Frauen helfen, um irgendjemanden – vielleicht sogar sich selbst – zu retten. Dass Zachs absurd riskante Mission zur Befreiung der Frauen dann ausgerechnet mithilfe eines Hobby-Dichterkreises gelingen könnte, ist eine Pointe, auf die vermutlich nur ein Autor wie Percival Everett kommen kann.

„Thu es oder thu es nicht, beides wird dich verdrießen“, heißt es in dem Zitat von Kierkegaard, das dem Roman nicht ohne Grund vorangestellt ist. Bei der Frage, ob man Percival Everetts Bücher lesen sollte, gilt allerdings das komplette Gegenteil. Es gibt nämlich zwei Arten von LeserInnen, stellte man in der Jury des US-amerikanischen National Book Critics Circle sehr treffend fest: Diejenigen, die Percival Everett lesen – und diejenigen, die etwas verpassen.

Percival Everett: Erschütterung. 288 Seiten. Erschienen bei Hanser und als Lizenzausgabe bei der Büchergilde. Diese Besprechung erschien auch im Magazin 3/22 der Büchergilde, hier kostenlos als Download erhältlich.

Eine Leerstelle der Geschichte. Über „Dunkelblum“ von Eva Menasse

172879_1-0d4b0975Ein Buch, das zu Recht als Meisterwerk gefeiert wird: In ihrem dritten Roman „Dunkelblum“ entfaltet Eva Menasse das Panorama eines österreichischen Dorfes, das von seinen totgeschwiegenen Kriegsverbrechen eingeholt wird – und schafft es, dabei auch noch blendend zu unterhalten.

Mehr als 40 Jahre blieb das kleine österreichische Städtchen Dunkelblum von der Geschichte weitestgehend unberührt. Das Leben ging eben weiter nach dem großen Krieg, an den inzwischen nur noch die Ruine des abgebrannten Adelsschlosses erinnert. Denn die Kontinuität ist groß, wie sie es nur im Mikrokosmos der Provinz sein kann: Dieselben Familien, die einander teils feindselig gegenüberstanden, prägen noch immer das Dorfgeschehen. So gilt ein ehemaliger Nazi-Karrierist inzwischen längst als angesehener Bürger, und selbst das einst prächtige Hotel Tüffer trägt noch denselben Namen, obwohl deren jüdischen Besitzer damals vertrieben wurden. Man hat sich halt arrangiert – und zwar nicht nur miteinander, sondern auch mit den dunkelsten Kapiteln der Ortsgeschichte, über die niemand mehr zu sprechen wagt.

Doch im Spätsommer 1989 kehrt plötzlich Unruhe ins kleine Städtchen ein. Während an der nahegelegenen ungarischen Grenze hunderte Geflüchtete aus der DDR darauf warten, dass Geschichte geschrieben wird, werden die alteingesessenen Bürger Dunkelblums ungewollt an die klaffende Leerstelle in ihrer eigenen erinnert – und das an gleich mehreren Fronten auf einmal. Ein vermeintlich Fremder zieht im Hotel Tüffer ein und fängt an, unbequeme Frage zu stellen. Studierende kommen aus der Hauptstadt, um den verwahrlosten jüdischen Friedhof zu restaurieren. Ein Außenseiter und die jüngste Tochter einer allseits beneideten Weinbauerfamilie tun sich mit dem Ziel zusammen, eine ungeschönte Dorfchronik für ein Heimatmuseum zu schreiben. Und als wäre all das für die verschwiegenen Dorfbewohner nicht genug, wird auf einem Feld auch noch eine Leiche entdeckt, die die Aufmerksamkeit des ganzen Landes aufs beschauliche Dunkelblum lenkt – und auf die Frage, was wirklich in jener Nacht kurz vor Kriegsende geschah. Damals, als das Schloss der Gräfin nach einem rauschenden Fest in Flammen aufging und hunderte Zwangsarbeiter erschossen wurden, ohne dass ein Großteil der Täter oder je ein Grab gefunden wurden. Spätestens als die ersten anonymen Drohbriefe auftauchen und die Weinbauerstochter spurlos verschwindet, ist es vorbei mit der Ruhe, die die Dunkelblumer jahrzehntelang zusammengeschweißt hat.

Etliche solcher Massaker sind in der Region historisch belegt

Mit ihrem dritten Roman Dunkelblum wagt sich die vielfach preisgekrönte Autorin Eva Menasse an eines der dunkelsten Kapitel Österreichs, das auf einer wahren Begebenheit beruht. Ähnlich wie im fiktiven Ort Dunkelblum wurden während eines Festes im Schloss Rechnitz im Burgenland fast 200 Juden ermordet – und das ist nur ein Massaker von vielen, die in dieser Region allein in der Zeit kurz vor Kriegsende dokumentiert sind. Doch trotz der erdrückenden Schwere ihres Sujets ist Menasse mit Dunkelblum etwas ganz Außergewöhnliches gelungen: Das mit Austriazismen gespickte Panorama aus den wechselnden Perspektiven der Dorfbewohner liest sich dank Menasses mal süffisanten, mal tiefschwarzen Humors und der ambivalenten, lebensnahen Charaktere so unterhaltsam, dass man Dunkelblum als LeserIn am Ende beinahe schweren Herzens verlässt. Die Orte und Figuren sind einem so vertraut geworden, dass man in der Bar des Hotel Tüffers problemlos am Stammtisch Platz nehmen könnte. Man weiß ja inzwischen, welche Themen man dort lieber nicht anspricht und von wem man sich besser fernhalten sollte.

Die gebürtige Österreicherin Eva Menasse selbst lebt inzwischen in Berlin. Nach der Lektüre ihres emphatischen, aber auch unbarmherzigen Blickes auf ihre Heimat in Dunkelblum ahnt man, warum sie sich dort wohler fühlt.

Eva Menasse: Dunkelblum. 528 Seiten, erschienen bei Kiepenheuer & Witsch und als Lizenzausgabe bei der Büchergilde. Diese Besprechung erschien bereits als Beitrag im aktuellen Magazin der Büchergilde.

Weg mit dem Stigma: Fünf Bücher über Depressionen

„Ja, ich leide unter Depressionen.“ Dass es noch immer Mut braucht, einen Satz wie diesen öffentlich auszusprechen, verrät eigentlich alles über das gesellschaftliche Stigma dieser Krankheit. Wenn sich eine Schauspielerin wie Nora Tschirner öffentlich zu ihrer Erkrankung bekennt oder der Komiker Kurt Krömer, den man bislang nur in seiner Rolle kannte, während seiner Sendung plötzlich ganz ernst und offen über seinen Zusammenbruch spricht, geht das noch immer als regelrechtes Medienereignis durch. Und genau darum sind Interviews und Auftritte wie diese so wichtig: Sie tragen dazu bei, eine ernste, für viele alltägliche Krankheit von ihrem gefährlichen Stigma zu befreien und sie endlich zu normalisieren. Niemand schämt sich dafür, über Krebs zu sprechen, über Bandscheibenvorfälle, über Diabetes. Warum dann bei einer Krankheit, von der allein in Deutschland ganze fünf Millionen Menschen betroffen sind? Es sollte keine Ausnahme, kein Tabubruch sein, offen über eine Volkskrankheit zu sprechen. Und man sollte erst Recht keinen Mut dafür brauchen.

Um gegen das Stigma, gegen die vielen falschen Klischees und Vorurteile anzukämpfen, braucht es aber nicht nur Menschen, die sich öffentlich zu ihrer Erkrankung bekennen, sondern auch Aufklärung. Darum stelle ich in diesem Beitrag zunächst vier Bücher zum Thema Depressionen vor, die sehr unterschiedliche Aspekte dieser Krankheit beleuchten. Und komme zuletzt noch auf ein fünftes zu sprechen – aus Gründen. Aber dazu später mehr.

Zoë Beck: Depressionen

Einerseits ist Zoë Becks Depressionen ein Sachbuch, das auf 100 Seiten das wichtigste Basiswissen über die Krankheit zusammenfasst – von den Symptomen über die Diagnose bis hin zu den Therapiemöglichkeiten und einer kleinen Kulturgeschichte. Zugleich gewährt die Autorin, Verlegerin und Übersetzerin in ihrem Buch aber auch einen intimen Einblick in ihre eigene Krankheitsgeschichte. Denn obwohl sie bereits ihr ganzes Leben mit einer Dunkelheit zu kämpfen hatte, die sie, weil sie sich selbst ja gar nicht anders kannte, stets auf ihre Persönlichkeit schob, musste Beck erst 33 und ernsthaft aus der Bahn geworfen werden, ehe sie endlich den Kampf gegen ihre Depressionen aufnahm und lernte, mit ihnen zu leben. Genau diese Mischung aus persönlichem Erfahrungsbericht und Wissensvermittlung macht aus dem schmalen Band ein ideales Einstiegsbuch für Betroffene und Angehörige, die diese Krankheit verstehen wollen und einen Ausweg suchen. [Reclam, 100 Seiten]

Bejamin Maack: Wenn das noch geht kann es nicht so schlimm sein

Spoiler: Doch, ist es. Der Autor und Journalist Benjamin Maack macht seinen Leser*innen allerdings auch gar nichts vor. „Hier wird am Ende übrigens nicht alles gut“, schreibt er an einer Stelle – und hat leider Recht. Denn obwohl die fragmentarische Sammlung aus Beobachtungen, Momentaufnahmen, Szenen und Gedankenfetzen, die Maack während seiner schweren Depressionen und Klinikaufenthalte schrieb, zum Schluss dann doch mit einer recht versöhnlichen Note endet, hat die Realität das Buch aus dem Jahr 2020 längst eingeholt: Erst vor wenigen Tagen schrieb Maack auf Instagram über seinen bevorstehenden nächsten Klinikaufenthalt. Wer sein schonungslos offenes Buch gelesen hat, ahnt, wie schmerzhaft auch diesmal der Abschied von seiner Frau und seinen Kindern wird – und wie unerbittlich und grausam diese Krankheit für Betroffene und ihr Umfeld oft ist. Ein selbsttherapeutisches Tagebuch ist das hier trotzdem nicht: Wie präzise Benjamin Maack seine Erkrankung mit den Mitteln der Literatur seziert und offenlegt, ist ebenso bedrückend wie beeindruckend. [Suhrkamp Nova, 334 Seiten]

David Vann – Momentum

Eine (Trigger-)Warnung vorab: Dieser Roman ist nur schwer zu ertragen – und genau das macht ihn so eindringlich und aufrichtig. David Vann lässt uns an den letzten Tagen im Leben des schwerdepressiven Jim teilhaben und erlaubt den Leser*innen dabei keine Distanz, im Gegenteil. Vann bleibt erbarmungslos dicht an Jims hoffnungslos verengter Perspektive dran und zeigt uns dadurch die hässliche Fratze einer Depression im Endstadium. Jim ist so resigniert wie unzurechnungsfähig, er kreist nur noch um sich selbst und seine selbstzerstörerischen, grausamen Gedanken. Jedem, der ihm zu helfen versucht, stößt er brutal vor den Kopf. Das selbstgewählte Ende ist für Jim, obwohl er gerade mal Ende 30 ist, längst unausweichlich. Doch so schwer es streckenweise auch ist, diesen Roman zu lesen, es muss ungleich schwerer gewesen sein, ihn zu schreiben. Denn Momentum ist für David Vann ein äußerst persönliches Buch: Jim war sein Vater. Als sie einander das letzte Mal sahen, war David noch ein Kind – eine Szene, die sich auch in Momentum wiederfindet. Vanns Roman ist einerseits eine intensive literarische Auseinandersetzung mit seinem kaum gekannten Vater, zugleich macht er aber auch deutlich, wie zerstörerisch Depressionen in einem Menschen wirken können – und dass es bei psychischen Erkrankungen eben keinen rationalen, selbstbestimmten Freitod geben kann. Es ist allein die Krankheit, die einen Depressiven in den Selbstmord treibt. Ohne Ausnahme. [Hanser Berlin, 300 Seiten]

Till Raether: Bin ich schon depressiv, oder ist das noch Leben?

Aber was, wenn das alles eigentlich gar nicht so schlimm ist? Wenn man im Alltag einigermaßen funktioniert, seinen Job gut oder vielleicht sogar besser als andere auf die Reihe kriegt und es – überspitzt formuliert – noch nicht einmal schafft, sein Leben so richtig in den Sand zu setzen und die Familie dabei gleich mit in den Abgrund zu reißen? Die permanente Erschöpfung und ständige Überforderung: Vielleicht ist das ja einfach bloß das normale Leben von Erwachsenen in der Rushhour des Lebens. Vielleicht haben die anderen ja Recht – und man muss sich einfach bloß ein bisschen zusammenreißen, bis es wieder besser wird. So geht es vielen Menschen mit Depressionen: Solange sie noch irgendwie funktionieren, nehmen sie selbst und ihr Umfeld ihre Erkrankung oft nicht ernst genug. Genauso ging es auch dem Schriftsteller und Journalisten Till Raether. In seinem Buch schreibt er ganz offen darüber, wie lange er brauchte, um seine Krankheit zu verstehen und sich ihr endlich zu stellen. Das Tückische an einer hochfunktionalen Depression wie Raethers ist nämlich, dass man mit ihr so ziemlich alles machen kann. Bis man eines Tages eben nicht mehr kann. Vieles, was für andere ganz selbstverständlich und einfach ist, kostet einen Menschen mit Depressionen sehr viel mehr Kraft; will man funktionieren wie alle anderen – allein schon, um sich selbst und der Welt zu beweisen, dass man das kann – zahlt man dafür auf Dauer einen hohen Preis: Man höhlt sich innerlich aus. Es ist die große Stärke von Raethers Buch, wie anschaulich und nachempfindbar er anhand persönlicher Situationen über das Wesen dieser Krankheit schreibt. Ein wichtiges Buch nicht nur für Betroffene und Menschen, die sich ihre vermeintliche (!) Schwäche selbst (noch) nicht eingestehen. Aber auch  Angehörigen, Partner:innen und Freund:innen von Menschen mit Depressionen kann man Raethers Buch nur empfehlen: Sicher verstehen sie nach der Lektüre besser, was es für manche heißt, einfach nur den ganz normalen Alltag zu bewältigen. [Rowohlt Polaris, 125 Seiten]

Und das fünfte Buch? Ist mein eigenes.

Ja, auch ich habe, seit ich 16 bin, immer mal wieder mit Depressionen zu tun und finde mich in den hier vorgestellten Büchern mal mehr (Raether), mal weniger (zum Glück: Vann) wieder. Ich komme meistens damit klar, danke der Nachfrage. Aber darum soll es hier nicht gehen. Genauso wenig soll es darum gehen, hier mein eigenes Buch zu bewerben – deshalb ist es auch nicht auf dem Foto. Vielmehr ist es mir wichtig, zum Schluss noch einmal zur Einleitung zurückzukommen: Es sollte keinen Mut brauchen, um offen über diese Krankheit zu sprechen. Und was, bitte, hat das mit meinem Debütroman Dezemberfieber zu tun? Nun ja: alles. Depressionen sind das zentrale Thema dieses Buches. Die Mutter der Hauptfigur Bastian zerbricht in Rückblenden an ihrer Erkrankung und auch Bastian erlebt im zentralen Handlungsstrang eine schwere depressive Episode. Im Klappentext, den ich damals selbst verfasste, ist allerdings keine Rede davon. Es ist zwar hübsch verklausuliert von seelischen Abgründen die Rede, der Begriff Depressionen taucht jedoch an keiner Stelle auf. Und obwohl ich die Krankheit der Mutter klar im Roman benenne, erlaubte ich den Leser*innen im Falle von Bastian – der aufgrund biografischer Parallelen natürlich eher mit mir in Verbindung zu bringen ist – auch ganz andere Lesarten: Der Arme hat eben zu lange seine Schuldgefühle verdrängt und muss jetzt halt endlich mal sein Trauma aufarbeiten. Stimmt zwar irgendwie, ist aber eben nur die halbe Wahrheit. Warum also konnte ich einen ganzen Roman über Depressionen schreiben, traute mich aber nicht, die Sache nach Erscheinen dann auch beim Namen zu nennen? Ganz einfach: aus Angst vor dem Stigma. Damals versuchte ich gerade, beruflich Fuß zu fassen und den anderen Fuß zugleich in die Tür zur Literaturwelt zu bekommen. Verständlich vielleicht. Aber eben auch feige und falsch.

Darum wiederhole ich mich an dieser Stelle gern: Niemand schämt sich dafür, über Krebs zu sprechen, über Bandscheibenvorfälle, über Diabetes. Warum dann bei einer Krankheit, von der allein in Deutschland ganze fünf Millionen Menschen betroffen sind? Es sollte keine Ausnahme, kein Tabubruch sein, offen über eine Volkskrankheit zu sprechen. Und man sollte erst Recht keinen Mut dafür brauchen. Denn letzten Endes gilt für Depressionen dasselbe wie für jede andere ernste Erkrankung auch: Aufklärung kann Leben retten.

lesen.hören 13 in Mannheim

Bildschirmfoto 2019-02-19 um 22.00.02Ich habe es an anderer Stelle bereits erwähnt: Dass ich schon seit Monaten nicht mehr zum Bloggen komme, tut mir mehr weh als euch. Befürchte ich zumindest. Dabei würde ich zu gerne etwas über die Bücher schreiben, die ich zuletzt gelesen habe – und werde das auch tun, sobald ich wieder dazu komme. Momentan bin ich beruflich aber einfach zu stark eingespannt, um dem Anspruch, den ich an mich selbst beim Rezensieren stelle, wirklich gerecht zu werden. Zum Glück darf ich meinen Blog ab dem kommenden Wochenende aber zumindest zeitweise aus dem Winterschlaf wecken: Ich habe nämlich die Ehre, das dreizehnte lesen.hören-Literaturfest als Blogger zu begleiten und damit in die großen Fußstapfen von Caterina Kirsten und Isabella Caldart zu treten.

Ab dem 22. Februar steht die Alte Feuerwache in Mannheim wieder für 17 Tage ganz im Zeichen der Literatur und lädt zu abwechslungsreichen Veranstaltungen mit Autoren, Schauspielern, Journalisten, Kritikern und Musikern. Das Programm liest sich jedenfalls schon mal großartig, umso mehr freue ich mich deshalb aufs erste Hören am Freitag – den Auftakt macht der Schauspieler und Autor Joachim Meyerhoff mit Die Zweisamkeit der Einzelgänger, dem vierten und vorerst letzten Band aus seinem autobiografischen Romanzyklus. Meinen ersten Blogbeitrag über lesen.hören 13 gibt es am Samstag aus dem Gästezimmer im Turm der Alten Feuerwache, Live-Eindrücke vor Ort natürlich bereits am Freitag Abend bei Instagram.

Die Möglichkeit einer Flucht. Über „Die kommenden Jahre“ von Norbert Gstrein

Norbert Gstrein - Die kommenden JahreAls Natascha und Richard eine syrische Flüchtlingsfamilie bei sich aufnehmen, steuert ihre Ehe auf eine Katastrophe zu. In Die kommenden Jahre lässt Norbert Gstrein Empathie und Pragmatismus aufeinandertreffen – und widersteht dabei der Versuchung, einfache Antworten zu geben.

Halb im Scherz, halb im Ernst reden sie alle von Flucht. Noch will niemand auf der Tagung daran glauben, dass der Ernstfall tatsächlich eintreten könnte, ein halbes Jahr vor der Präsidentschaftswahl sagen die meisten aber klar, wohin es sie im Falle eines Wahlsiegs Donald Trumps ziehen würde: nach Kanada. Das ist auch Sehnsuchtsort des österreichischen Gletscherforschers Richard, des Protagonisten in Norbert Gstreins Roman Die kommenden Jahre, der auf Einladung seines alten Freundes Tim nach New York geflogen ist – und die Tagung selbst als kleine Flucht begreift. Der Abstand zu seinem Alltag in Hamburg, zu seiner Frau Natascha tut ihm gut. Aber auch in der Ferne kann Richard der Situation, in die sie ihn gebracht hat, nicht entkommen. Längst haben alle Kollegen den Fernsehbeitrag gesehen, der Artikel in der Illustrierten hat vermutlich bereits die Runde gemacht. Für Tim und Richards ehemalige Studentin Idea, die er kurz darauf in Kanada trifft, ist die Sache klar: Mit ihrem zur Schau gestellten Engagement für die Flüchtlingsfamilie Fahri hat die Schriftstellerin Natascha ihren Mann lächerlich gemacht.

Dabei war es nicht einmal Nataschas Idee, im ungenutzten Sommerhaus am See eine syrische Flüchtlingsfamilie einziehen zu lassen, sondern die ihrer verstorbenen Zwillingsschwester Katja. Aber es ist Natascha, die sich die Hilfe für Herrn und Frau Fahri und ihre Kinder plötzlich zur Lebensaufgabe macht und dafür in Kauf nimmt, dass die Distanz zwischen ihr und Richard größer wird. Er nämlich glaubt, sie wolle den Syrern weniger aus Nächstenliebe denn aus Geltungsdrang helfen, sie dagegen wirft ihm emotionale Kälte vor. Und natürlich ist in Norbert Gstreins Die kommenden Jahre nichts so einfach, wie es zunächst scheint. Nach Richards Heimkehr spitzt sich nicht nur die Ehekrise, sondern auch die Situation am See zu. Immer öfter tauchen Jugendliche am Haus auf, die die ungebetenen Gäste einschüchtern wollen, und auch die Motive der Nachbarn werden zunehmend unklarer. Während Natascha nervöser wird, sich schließlich sogar ein Hotelzimmer in der Nähe des Sees nimmt, um gemeinsam mit Herrn Fahri an einem Text über Flucht zu arbeiten, machen Gerüchte über dessen Vergangenheit die Runde. Richards Zweifel werden umso größer, als sich auf ihrer ersten gemeinsamen Lesung herausstellt, dass Katja und Herr Fahri in ihrem Text nicht seine tatsächliche, sondern bloß eine mögliche Flucht beschrieben haben – ein kleiner Eklat.

Die kommenden Jahre ist mehr als ein Roman über eine Ehe- oder die Flüchtlingskrise. So einfach, bloß satirisch mit Nataschas moralisch-hysterischem Gutmenschentum oder Richards rationalem, kühlem Pragmatismus abzurechnen, macht es sich Norbert Gstrein nicht. Vieles bleibt in der Schwebe, sicher geglaubte Gewissheiten schwinden den Figuren wie die schmelzenden Gletscher, an denen Richard forscht. In früheren Texten Norbert Gstreins spielte oft Heimat eine große Rolle, hier ist es die Sehnsucht nach einem anderen, einem besseren Leben, die sich für Richard an Orten genauso festmacht wie an Menschen: die Sehnsucht nach Kanada, ein Land, das ihn an seine Kindheit erinnert, zugleich aber fern genug ist, um Utopie zu bleiben. Die nach Katja, die vielleicht die passendere Wahl zwischen den Zwillingen gewesen wäre. Und nicht zuletzt die nach Idea, die das verkörpert, was Richard am meisten zu brauchen glaubt – die Möglichkeit einer Flucht. „Natascha, du weißt nicht, wie viele Optionen ich habe“, sagt er einmal im Streit zu seiner Frau. Und irrt sich dabei gewaltig: Am Ende – und das gilt für alle Figuren des Romans – sind es weitaus weniger, als er denkt.


Norbert Gstrein: Die kommenden Jahre. Erschienen bei Hanser und als Lizenzausgabe bei der Büchergilde, 288 Seiten. Diese Rezension erschien erstmals im Magazin der Büchergilde 4/2018 – auch erhältlich zum kostenlosen Download.

Drei Bücher von… Hanser

3 Bücher... von HanserSinn und Zweck dieser Rubrik ist ja eigentlich, drei Bücher vorzustellen, die, so unterschiedlich sie vielleicht auch sein mögen, ein bestimmtes Thema miteinander verbindet. Dieser Beitrag ist nun die Ausnahme zur Bestätigung der Regel. Die folgenden Bücher haben nämlich kaum Gemeinsamkeiten – außer dass sie in den Hanser Literaturverlagen erschienen sind. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch: Sie sind aller Wahrscheinlichkeit nach gut. Es gibt sie nämlich noch, die Verlage, denen man als Leser mit einem gewissen Grundvertrauen begegnen kann, Verlage, die trotz der Vielfalt ihres Programms zumeist ein klares Profil haben und die sich nicht nur als Wirtschaftsunternehmen, sondern auch als Kuratoren, als Literaturvermittler verstehen. Eben Verlage wie Suhrkamp, wie die Frankfurter Verlagsanstalt, wie: Hanser.

Natürlich spielt da als Leser neben dem Literaturgeschmack ein Stück weit auch Sympathie eine Rolle, vor allem für diejenigen, die dem Verlag ein Gesicht geben. Im Fall von Hanser muss man dazu zwar nicht unbedingt die kuriosen und manchmal wahnsinnig komischen Alltagsskizzen des Verlegers Jo Lendle auf Facebook verfolgen. Aber es hilft. Und wer – Fun Fact – schon mal ein Pixi geschrieben hat, kann ohnehin kein schlechter Mensch sein. Auch Lektor Florian Kessler ist jemand, dem man die Leidenschaft für Literatur, aber auch seine Haltung jederzeit abkauft, egal, ob er als Helfer vor Ort über die Zustände in einem griechischen Flüchtlingslager schreibt oder ganz unprätentiös Thekendienst beim Prosanova-Festival schiebt. Es sind eben nicht nur die Bücher, die einen Verlag ausmachen, sondern genauso die Menschen, die sich für sie stark machen – angefangen bei der Presse-Betreuung durch liebgewonnene Menschen wie Frauke Vollmer, die uns Bloggern stets mit Respekt und Freundschaft begegnet. Aber am Ende ist ein Verlag natürlich trotzdem nur so gut wie seine Bücher – und um die soll es nun auch gehen.

Anja Kampmann – Wie hoch die Wasser steigen

Auf der Suche nach einem süffigen Buch für den Strand, einer leichten, lebensfrohen Urlaubslektüre? Dann gehen Sie bitte weiter, hier gibt es nichts zu sehen. Anja Kampmanns Prosadebüt ist womöglich der schwermütigste Roman, den ich seit Rolf Lapperts großartigem Über den Winter (ebenfalls Hanser) gelesen habe. Ein Buch, das sich Zeit lässt, das träge und schwer dahinfließt wie das Öl, das Protagonist Waclaw auf Bohrinseln fördert, bis sein bester Freund im Meer ertrinkt. Und das genauso wertvoll ist. Nach dem Tod von Mátyás reist Waclaw zunächst mit dessen letzten Habseligkeiten, später dann mit einer Brieftaube durch halb Europa und nimmt dabei nicht nur Abschied von seinem Freund, sondern auch von einem Leben, das ihn über viele Jahre hart und illusionslos werden ließ. Nach Stationen ihrer früheren Landgänge sucht Waclaw schließlich Anknüpfungspunkte an seine Vergangenheit im Ruhrpott und die Menschen, die er dort einst zurückließ – allen voran Milena, die Liebe seines Lebens.

Vor ihrem ersten Roman hat sich Anja Kampmann in erster Linie als Lyrikerin einen Namen gemacht, dementsprechend lebt Wie hoch die Wasser steigen vor allem von seiner Sprache und der dichten, schwermütigen Atmosphäre. Ein Pageturner, ein Buch zum-einfach-Weglesen ist Kampmanns Roman nicht: Ich habe länger als sonst für die Lektüre gebraucht, musste immer wieder innehalten, um Stellen laut zu lesen, gelegentlich sogar Pausen einlegen. Die Tristesse und das langsame Erzähltempo sind nichts für zwischendurch, der Roman braucht Konzentration und manchmal auch den Willen, sich auf seine Melancholie einzulassen – umso größer wird dann aber der Sog, wenn man sich von der Stimmung erst anstecken lässt. Keine leichte Lektüre also, literarisch aber in jedem Fall ein Schwergewicht.

Leander Steinkopf – Stadt der Feen und Wünsche

Während Kampmanns Waclaw haltlos durch halb Europa reist, treibt es den Ich-Erzähler aus Leander Steinkopfs langer Erzählung Stadt der Feen und Wünsche bloß kreuz und quer durch Berlin. Weil er es mit sich alleine in der Wohnung nicht aushalten kann, seine eigene Gegenwart nicht erträgt, spaziert er drei Tage lang als Flaneur die Kieze ab und beobachtet weitestgehend teilnahmslos das Treiben der Menschen. Anders als Waclaw hat er keinen Verlust zu verarbeiten. Denn: Da war nie was. Da ist nur Leere. Er lebt ohne Sinn in den Tag hinein, ohne Aufgabe oder Verbindlichkeit. Natürlich gibt es Menschen in seinem Leben, da sind Freunde und zwei Frauen, Judith und Hanna, da ist sein alter Schulfreund Moritz, der ihn aus der Provinz besuchen kommt, da ist die Kellnerin, in die er sich verguckt hat. Aber nichts und niemand füllt – oder fühlt – die Leere in ihm. Das klingt jedoch tragischer als Steinkopfs Erzählung eigentlich ist: Stadt der Feen und Wünsche ist eine amüsante Lektüre, ein Gesellschafts-, Stadt- und Zeitgeistportrait voll kluger Beobachtungen und satirischer Spitzen. Ohne sich in Klischees zu verzetteln, lässt der Autor seine Figur die zuweilen zur Pose verkommenen Eigenheiten Berlins und seiner Bewohner einordnen und kommentieren. Ein Anti-Berlin-Buch ist es deshalb noch lange nicht geworden, im Gegenteil: Vielmehr wollte Steinkopf, wie er im Interview auf novellieren.com erzählte, ein Gefühl einfangen, das er mit Berlin verbindet – irgendwo zwischen süßer Sehnsucht und beschwingter Vergänglichkeit. Und das klingt dann schon fast wieder wie eine Liebeserklärung.

Colson Whitehead – Underground Railroad

Über diesen Roman ist bereits eine Menge geschrieben worden. Und zwar zu Recht. Underground Railroad ist eines dieser seltenen Bücher, denen der Spagat zwischen E und U, der Spagat zwischen gesellschaftspolitischem Gewicht und Spannungsliteratur für ein breites Publikum gelingt. Denn natürlich ist es zunächst einmal eine hollywoodreife Geschichte, wie den Sklaven Cora und Caesar die Flucht von der Baumwollfarm im amerikanischen Georgia gelingt, während ihnen ein Kopfgeldjäger quer durch die USA auf den Fersen bleibt. Und dann ist da natürlich das Alleinstellungsmerkmal, nämlich Colson Whiteheads geniale Idee, das historische Netzwerk Underground Railroad einfach wörtlich zu nehmen und die Figuren mit einem Hauch von erzählerischer Phantastik tatsächlich in unterirdischen Zügen fliehen zu lassen. Aber das Entscheidende ist etwas anderes: Angesichts eines Rassisten im Oval Office und Ereignissen wie jüngst in Charlottesville wird immer wieder deutlich, wie wenig sich in den Köpfen der Menschen seit dem Ende der Sklaverei getan hat. Noch immer wird in den USA die eigene unrühmliche Geschichte zu wenig thematisiert, noch immer ist Rassismus für viele Menschen Teil des Alltags. Allein das macht Underground Railroad trotz manch erzählerischer Schwäche zu einem wichtigen, weil leider noch immer erschreckend aktuellen Buch.


Anja Kampmann: Wie hoch die Wasser steigen, 352 Seiten. // Leander Steinkopf: Stadt der Feen und Wünsche, 112 Seiten. // Colson Whitehead: Underground Railroad, 352 Seiten. // Ebenfalls in den Hanser Literaturverlagen erschienen und von mir besprochen: Über den Winter von Rolf Lappert, Das Floß der Medusa von Franzobel & Die Terranauten von T.C. Boyle. In Zukunft dürften noch einige Romane dazukommen – gerade erst habe ich mir vorgenommen, anlässlich des Todes von Philip Roth eine klaffende Bildungslücke zu schließen…

Florian Wacker im Gespräch über seinen Roman „Stromland“

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Vor Kurzem habe ich in einer sehr begeisterten Rezension Florian Wackers Roman „Stromland“ besprochen. Umso mehr freue ich mich nun darüber, dass sich der Autor die Zeit genommen hat, mit mir über das Buch, die umfangreiche Recherche und sein Schreiben zu sprechen.


Du hast dreieinhalb Jahre an „Stromland“ gearbeitet und drei Fassungen mit insgesamt über 700 Seiten geschrieben. Deine Erzählung „Gold“, die wir 2016 in ]trash[pool veröffentlichen durften, ist zumindest thematisch mit dem Roman verwandt. War „Stromland“ ursprünglich noch breiter angelegt oder ist die Verbindung zwischen beiden Texten bloß Zufall? Inwieweit hat sich der Roman über die unterschiedlichen Fassungen verändert?

Die Erzählung „Gold“ ist ein Nebenfluss der Romans, für sich stehend, aber aus dem Kosmos des Romans hervorgegangen. Die Verbindung ist also kein Zufall, wenn auch die Erzählung von den Figuren und der Erzählweise keine Berührungspunkte mit dem Roman hat, es ist keine gestrichene Episode o.Ä. Natürlich hat sich „Stromland“ über die verschiedenen Fassungen hinweg massiv verändert; zu Beginn hatte ich eine ganz andere Grundsituation, die starken Plotelemente der „Suche“ und der „Zwillings-Geschwister“ kamen erst im Laufe der Zeit dazu. Es hat sich zusammengefügt wie ein Puzzle, nach und nach wurde immer mehr von der Geschichte und ihrem Personal deutlich, das eine hat sich dann fast zwangsläufig aus dem anderen heraus ergeben.

In deinem Journal sprichst du auch von „radikalen Abbrüchen“ – gab es Momente, in denen kurz davor warst, die Arbeit am Roman aufzugeben?

Ich glaube, diese Situation kennt jeder Autor: Man sitzt monatelang, jahrelang an einem Text und verliert über die Zeit den klaren Blick, die Übersicht, steigt immer tiefer hinunter ins Bergwerk der Geschichte, macht neue Entdeckungen, findet verschüttetete Gänge, immer mit der Gefahr, nie wieder nach oben zu kommen. Will sagen: Ich habe immer wieder diese Punkte erreicht, an denen ich ratlos und mutlos vor dem Text stand und nicht weiter wusste. Da ist dann ein guter Agent / Lektor Gold wert. Mein Agent Sebastian Richter hat mir in langen Gesprächen immer wieder durch diese Phasen geholfen, er hatte den klaren Blick von Außen und ich bin sehr glücklich über unsere sehr enge Zusammenarbeit.

Obwohl „Stromland“ an keiner Stelle überfrachtet wirkt, merkt man beim Lesen, wie akribisch du für den Roman recherchiert hast. Aus welchen Quellen hast du am meisten für deine Arbeit schöpfen können?

Ich habe die Recherche auf zweierlei Arten betrieben: faktisch und fiktiv. Ich habe mich natürlich sehr ausführlich mit den Fakten beschäftigt, also mit der Geschichte des südamerikanischen Kontinents, den Eroberungen und den Folgen davon, mit Ethnographie, Geografie, habe Tagebücher von Reisenden gelesen, Bücher über Flora und Fauna; viel geht ja auch mittlerweile über die einschlägigen Kanäle im Netz, also über YouTube, über Google Maps, Wikipedia, es gibt Portale über den Amazonaswald, Portale zur Geschichte der Auswandung nach Brasilien usw. Und auf der anderen Seite habe ich mich dem Thema fiktiv genähert, d.h. durch Romane von Vargas Llosa, von Döblin und zeitgenössischen Autoren wie z.B. Hernán Ronsino. Alfred Döblin hat einen großen, aber etwas vergessenen Roman über den Amazonas geschrieben, heillos überfrachtet, aber auch ungemein inspirierend. Ich recherchiere mittlerweile immer auf diese beiden Arten.

Besonders begeistert haben mich ja die vielen detailreichen und lebhaften Beschreibungen der Schauplätze, allen voran des peruanischen Regenwalds. Bist du selbst bereits durch Südamerika gereist?

Nein, ich war noch nie dort. Ich verhalte mich da ein bisschen wie Karl May (nur ohne die Hochstapelei) und schöpfe alle Details, alle atmosphärischen Beschreibungen aus dem, was ich lese, höre und sehe (Bücher, Filme). Und sicher gehört dann auch etwas schriftstellerisches Geschick dazu, das alles möglichst authentisch zu erzählen. Ich habe mir natürlich während des Schreibens immer wieder die Frage der Authentizität gestellt, aber für mich schnell herausgefunden, dass es mir nicht darum geht, im Sinne einer Reportage eine Wahrheit zu zeigen, sondern im Sinne des Romans, d.h. eine fiktive, spekulative Wahrheit; eine Wahrheit, die sich aus der Geschichte und nicht aus dem Nachweis von Authentizität speist.

Du spannst in „Stromland“ einen großen Bogen über mehrere Jahrhunderte, in denen Menschen in den Regenwald kamen, um dort ihr Glück zu suchen – und dabei oft bloß ihr Verderben fanden. Die ungebändigte Natur scheint eine große Faszination, fast eine Sehnsucht auszulösen, weckt zugleich aber immer auch die Gier der Menschen. Die Suche nach dem Paradies führt sie geradewegs in die Hölle. Was hat dich an diesem Thema so fasziniert?

Es sind sicher die Themen, die Du oben ansprichst, also die Sehnsucht nach dem Fremden, nach dem Unentdeckten und gleichzeitig der Angst davor. Im Roman spielt der Fluss eine große Rolle, auf dem Irina und Hilmar immer tiefer in den Wald hineingeraten und immer tiefer in eine verstörende, lebendig übersteigerte Welt. Diese Suchbewegungen faszinieren mich, die verschlungenen Wege, die ein Lebenslauf nehmen kann und die oftmals weit über das hinausgehen, was wir uns vorstellen, was wir erwarten oder uns wünschen. Und mich interessieren auch immer wieder die Bewegungen aus der Vergangenheit heraus in die Gegenwart, also die Zusammenhänge von dem, was war und was gerade ist, denn wir alle werden ja geprägt davon, wir sind keine „leeren Blätter“.

Vor „Stromland“ hast du bereits einen Erzählband und einen Jugendroman veröffentlicht und mit Wolfserwartungsland jüngst auch ein Theaterstück geschrieben. So unterschiedlich all diese Texte auch sind – gibt es etwas, das sie miteinander verbindet? Oder grundsätzliche Themen, mit denen du dich als Autor auseinandersetzt?

Es sind die oben bereits genannten Suchbewegungen, die sich im Erzählband und auch im Jugendbuch wiederfinden, in anderen Zusammenhängen. Aber oft sind meine Charaktere auf der Suche, machen sich auf den Weg, brechen aus, verlassen vorgegebene Pfade. Manchmal verirren sie sich dann, manchmal finden sie wieder zurück. Als Autor muss mir ein Thema im Sinne einer Geschichte zufallen. Ich schaue nicht: Was ist gerade aktuell, welches Thema kannst du bearbeiten. Die Aktualität der Texte ergibt sich meist von selbst, während des Schreibens. Aber natürlich beschäftigen mich über das Schreiben hinaus die Themen unserer Zeit: Das gehetzte, künstliche Leben im Spätkapitalismus, die großen Migrationsbewegungen, die Umweltzerstörungen.

Worum geht es in dem Stück „Wolfserwartungsland“?

„Wolfserwartungsland“ spielt in einer verlassenen Gegend in einem Hotel. Die Menschen dort haben die Hoffnung auf ein besseres Leben schon aufgeben, haben sich eingerichtet, träumen von einer hellen Dachgeschosswohnung, verharren aber im Hier und Jetzt. Dann kommen zwei Personen von Außen: Ein Jäger und die Figur „Wolf“, ein Banker, und bringen das Gefüge ins Wanken, reißen alte Wunden auf, wecken Sehnsüchte. Der Begriff „Wolfserwartungsland“ ist ein Begriff aus der Fortwirtschaft und bezeichnet ein Gebiet, das für die Wiederansiedlung des Wolfes optimale Bedingungen bietet.

Welche Autoren und Bücher haben dich als Autor am meisten geprägt und inspiriert?

Oh, da gibt es sehr viele, und es ist auch immer abhängig von der jeweiligen Lebensphase gewesen, welche Autoren mich inspiriert haben. Zu Beginn meiner Lesekarriere waren das sicher Karl May oder James F. Cooper („Lederstrumpf“-Romane), später dann Samuel Beckett, Alfred Döblin, auch einige Romane von Christian Kracht. Dauergäste bei mir sind auf jeden Fall William Faulkner, John Cheever, D.F. Wallace. Ich lese breit, zeitgenössische Autoren (zuletzt toll: Colson Whitehead, Sabrina Janesch), Klassiker (Dostojewskji), im Moment zur Vorbereitung auf den nächsten Roman viel über Fahrten in die Arktis (Stan Nadolny, Roald Amundsen, Mirko Bonné).

Lieber Florian, ich danke dir für das Gespräch!


Florian Wacker: Stromland. Erschienen im Berlin Verlag, 352 Seiten. Zu meiner ausführlichen Besprechung des Romans geht es hier entlang.

Abgesang. Über „So enden wir“ von Daniel Galera

So enden wir - Daniel GaleraDuke ist tot. Erschossen bei einem Raubüberfall, wie sie im brasilanischen Porto Alegre fast täglich passieren. Vor allem in den sozialen Netzwerken ist die Trauer groß, der Hashtag #RipDuke wird sogar zum trending topic bei Twitter. Aber nicht nur die Fans des enigmatischen Kultautors erfahren von seinem Tod aus dem Netz, auch bei Dukes ehemaligen Mitstreitern ist das Entsetzen groß, als sie auf ihr Handy sehen. Fünfzehn Jahre ist es her, seit Aurora, Emiliano und Antero mit Duke befreundet waren. Damals, als das Internet tatsächlich noch Neuland war, eine Spielwiese für Idealisten und Pioniere, gaben sie gemeinsam ein avantgardistisches Online-Magazin heraus. In Daniel Galeras Roman So enden wir sind sie Stellvertreter einer Generation, für die sich durch das junge Medium plötzlich eine neue Welt auftat, in der noch alles möglich schien, man sich ausprobieren und neu erfinden konnte. Eine Welt vor Google und Facebook, vor Big Data und geifernden Populisten, für die das Internet bloß Werkzeug für Manipulationen und Propaganda ist.

Als Duke stirbt, ist diese Welt längst dem Untergang geweiht. Duke wusste das: Schon lange vor seinem Tod meldete er sich aus allen sozialen Netzwerken ab und verwischte seine Spuren, geisterte nur noch als Phantom durchs Web. Auch in seinem Testament hatte er die vollständige Löschung seines digitalen Nachlasses angeordnet. Den damaligen Freunden bleibt, als sie auf Dukes Beerdigung erstmals seit Jahren wieder aufeinandertreffen, deshalb nur die Erinnerung an die gemeinsame Zeit. Was ist von ihrer Freundschaft geblieben, was von ihrem einstigen Idealismus? Fünfzehn Jahre, nachdem sie mit ihrem per Mail verschickten Fanzine Orangotango ein bedeutender Teil der digitalen Gegenkultur Brasiliens waren, sind die Träume von Aurora, Emiliano und Antero – und zwar in dieser Reihenfolge – Ernüchterung, Pragmatismus und Zynismus gewichen.

Was wurde aus dem Idealismus?

Aurora ist ernüchtert und pessimistisch. Den Journalismus hat sie aufgegeben, stattdessen forscht sie als Biologin für eine Zukunft, an die sie längst nicht mehr glaubt. Der Sexismus im Wissenschaftsbetrieb setzt ihr genauso zu wie die globale politische Entwicklung oder der kürzliche Herzinfarkt ihres Vaters. Dass Duke bloß für ein bisschen Kleingeld und ein Handy sterben musste, ist für Aurora ein weiterer Beweis für den drohenden, ja geradezu unausweichlichen Untergang der Menschheit. Nach ihrem Wiedersehen mit dem zynischen Antero auf Dukes Beerdigung droht ihr Leben endgültig aus den Fugen zu geraten.

Als erfolgreicher Werber und scheinbar glücklicher Familienvater ist Antero neben Duke der einzige aus der ehemaligen Clique, der es wirklich zu etwas gebracht hat. Für seinen beruflichen Erfolg hat Antero jedoch alles verraten, woran sie damals glaubten. Das Internet ist für ihn nur Werkzeug für virale Kampagnen oder Stoff für seine Pornosucht. Nichts scheint ihm noch etwas zu bedeuten, Antero nimmt sich einfach, was er braucht. Für ihn ist inzwischen alles bloß ein Spiel, das Leben ein Schauplatz virtueller Realitäten. Als er zufällig in die Ausschreitungen auf einer Demonstration gerät, schließt er sich dem wütenden Mob aus einer Laune heraus als Statist, als non-player-character an und sieht gleichgültig dabei zu, wie das Ladengeschäft seines Vaters geplündert wird. Erst infolge von Dukes Beerdigung muss Antero begreifen, dass manche Fehler im wahren Leben unweigerlich zu Konsequenzen führen.

Während Duke bei Orangotango die ersten Schritte als literarisches Wunderkind wagte, war das Fanzine für Emiliano der Beginn seiner journalistischen Laufbahn. Die gemeinsame Zeit in Porto Alegre war prägend für ihn: Nach Jahren, in denen er sich bloß mit Raufereien behalf, fand Emiliano erst damals den Mut, offen als Schwuler zu leben. Es war Duke, der ihm die Augen öffnete, auch wenn er die eine Nacht, die sie beim Kennenlernen miteinander verbrachten, als Heterosexueller scheinbar nur zur Recherche für eine Geschichte brauchte. Als freier Journalist schlägt sich Emiliano eher schlecht als recht durch, umso verlockender ist nach Dukes Tod das Angebot eines Verlegers, dessen Biografie zu schreiben. Schnell weichen die anfänglichen Skrupel Pragmatismus: Der Vorschuss ist höher als das, was Emiliano sonst in einem Jahr verdient. Seine Recherche bringt allerdings nur wenig zutage. Niemand schien Duke wirklich zu kennen. Ohne digitalen Nachlass, ohne Spuren in sozialen Netzwerken bleiben Emiliano nur widersprüchliche Erinnerungen und die Hoffnung, dass Dukes letzte Partnerin trotz ihrer testamentarisch auferlegten Schweigepflicht etwas über ihn preisgibt. Und ob absichtlich oder nicht: Eine Spur hat Duke tatsächlich hinterlassen. Eine Spur allerdings, die alles infrage stellt, was Emiliano über Duke und ihre Freundschaft zu wissen glaubte.

Ein Roman mit verzögerter Wirkung

So enden wir ist ein melancholischer Abgesang auf die digitale Gegenkultur des frühen Internets, das, gekapert von Konzernen und politischen Interessen, längst seine Unschuld verloren hat. Zugleich ist Daniel Galeras Roman aber auch eine Auseinandersetzung mit dem Erwachsenwerden und der unvermeidlichen Ernüchterung, die sich einstellt, sobald der Ernst des Lebens aus Idealisten irgendwann Pragmatiker, Pessimisten, Zyniker macht. Wie schon im Vorgänger Flut gelingt es Galera, mit einer dichten, aber nie sperrigen Sprache eine besondere Atmosphäre zu erzeugen und Figuren zu zeichnen, die nah am Leben, aber dennoch mit literarischer Tiefenschärfe versehen sind.

Trotzdem fühlte ich mich nach der Lektüre des Romans zunächst wie seine Figuren: ernüchtert, vielleicht auch ein wenig enttäuscht. Die Faszination, die ich für Flut empfand – immerhin einer meiner Lieblingsromane der letzten Jahre – wollte sich trotz vielem, das mir gefiel, einfach nicht ganz einstellen. Wochen später entfaltete So enden wir dann aber überraschend seine Wirkung, wurden mir plötzlich Zusammenhänge klar, die ich beim Lesen selbst noch nicht richtig einordnen konnte. Und das war fast noch befriedigender als die spontane Begeisterung, mit der ich damals Flut zu Ende las.


Daniel Galera: So enden wir. Erschienen bei Suhrkamp, 231 Seiten.

Die Buchpreisblogger 2017

19225838_10158890121235578_729124526951754862_nBald ist es wieder so weit: Am 15. August wird die Longlist des Deutschen Buchpreises bekanntgegeben. Schon heute aber fällt der Startschuss für die Buchpreisblogger. Sechs Blogger lesen und besprechen die nominierten Titel und stellen sie auf ihren Kanälen zur Diskussion. In den vergangenen Jahren habe ich die Rezensionen und Debatten gerne als Leser verfolgt, umso mehr freue ich mich darüber, nun selbst Teil der illustren Bloggerbande sein zu dürfen. Wir treten dabei natürlich in große Fußstapfen – etwa in die der fabelhaften Sophie Weigand, die von Mr. Blogbuster Tobias Nazemi oder die tatsächlich sehr großen von Jochen Kienbaum (der so nett war, uns abermals das Logo zu gestalten).

Allerdings gibt es mindestens fünf Gründe, sich auch aufs neue Team zu freuen. Mit der Lektorin Isabella Caldart (Blog/Facebook) etwa kann man Pferde stehlen. Oder Zeitschriften machen. In jedem Fall aber: ganz großartig über Literatur sprechen. Sarah Reul aka Pinkfisch (Blog/Facebook) bringt als Buchhändlerin nicht nur Fachkenntnis, sondern auch Farbe und gute Laune ins Team, Mareike Fallwickl (Blog/Facebook) dagegen den nötigen Schmäh. Wenn die österreichische Bloggerin und Autorin über Bücher motzt, kann es schon mal unschön werden. Und lustig. Außerdem gehen wir frechen jungen Leute natürlich mit der Zeit und haben uns mit Ilke Sayan die beste Booktuberin ins Boot geholt, die sich der Börsenverein leisten konnte – da lassen wir uns nicht lumpen. Und Sandro Abbate (Blog/Facebook) et moi? Machen als Quotenkerle hoffentlich eine gute Figur!

Aber nicht nur das Team der Buchpreisblogger ist neu. Erstmals gibt es auch einen eigenen Blog, auf dem sämtliche Artikel gebündelt und Hintergrund-Artikel zum Deutschen Buchpreis veröffentlicht werden. Unsere Original-Posts teilen wir Blogger unter dem Hashtag #dbp17 über unsere eigenen Kanäle, die Beiträge werden zudem auch auf der Facebook-Seite des Deutschen Buchpreises zusammengeführt.

Bevor wir ab Mitte August mit dem Lesen beginnen, werden wir uns auf dem offiziellen Blog nacheinander vorstellen und sicher bereits über mögliche Longlist-Kandidaten sprechen. Ich freue mich schon auf die Lektüre der nominierten Titel und den Austausch mit allen, die mitlesen!

Ausgangspunkt ist immer die Sprache. Lucia Leidenfrost im Gespräch

Lucia LeidenfrostVor einigen Monaten habe ich Mir ist die Zunge so schwer, das Erzähldebüt der österreichischen Autorin Lucia Leidenfrost besprochen. In Geschichten wie Einmachgläsern fängt sie darin die Stimmen der Weltkriegsgeneration ein und konserviert Erinnerungen an eine Zeit, über die die Betroffenen ein Leben lang geschwiegen haben. Sie schaut einfachen Menschen aus der Provinz in die Köpfe und auf den Mund – und das ist es, was den Ton ihres ersten Erzählbandes so besonders macht.

Du hast lange an deinem Erzählband „Mir ist die Zunge so schwer“ gearbeitet, die Geschichte „Flugübungen“ haben wir zum Beispiel schon 2011 in ]trash[pool veröffentlicht. Im Fokus vieler der Erzählungen stehen alte Menschen, zumeist Dorfbewohner der österreichischen Weltkriegsgeneration. Wie bist du auf die Idee zu diesem Zyklus gekommen, und wie ist er entstanden?

Es ist eine spannende Frage, wie ein Stoff, ein Thema zu einem kommt. Ich glaube nicht, dass ich das bei Mir ist die Zunge so schwer bis in alle Ecken ausleuchten kann. Im Hinterher fällt es einem natürlich leichter, zu sagen, das war schon alles von Anfang an klar. Es gibt nicht den einen Augenblick, wie ich auf eine Idee komme. Bei Mir ist die Zunge so schwer waren es ein paar lose Enden, die mich dazu gebracht haben. Im Prozess des Schreibens entsteht ja auch manches, was man so nicht erwartet. (Damit will ich aber natürlich nicht sagen, dass es mir „eingegeben“ wird oder mir in den Schoß fällt). Zunächst ist in meinem Schreiben meine eigene Lektüre wahnsinnig wichtig. Ungefähr ein halbes Jahr bevor Flugübungen (damals noch Blendend) entstanden ist, hab ich von Alois Hotschnig Im Sitzen läuft es sich besser davon gelesen. Ich war fasziniert von dieser Klarheit in der Unklarheit, in der dort gesprochen wird. Ich habe manche der Texte immer wieder gelesen und irgendwann – nicht vergessen, aber beiseitegelegt. Diese Texte waren sicher so eine erste Ecke, aber durch eine erste Ecke ist noch lange kein Raum entstanden. Außerdem fasziniert es mich noch immer, dass man beim Aufschreiben von mündlichen Sprechen so viel machen kann – dass da syntaktisch und thematisch alles ein bisschen anders läuft als im Schriftlichen. Und das ist eine zweite Ecke, oder ein weiterer Pfeiler für Texte von mir – denn die Sprache ist das, was mich zum Schreiben bringt.

Dort, wo ich aufgewachsen bin – vielleicht überall auf der Welt? –, erzählen oft die alten Menschen. Sie haben schon viel erlebt und sie sind dem alltäglichen Wahnsinn, den sich jüngere Menschen ausgesetzter fühlen, vielleicht schon ferner. Sie halten Rückblick. Das habe ich in den Erzählungen aufgenommen. Wenn man an etwas schreibt – eigentlich generell, wenn man sich mit etwas beschäftigt –, dann geht man auch mit offeneren Ohren/Augen durch die Welt. Mir sind in den Jahren, in denen ich am Band geschrieben habe (ohne zu wissen, dass daraus einmal ein Buch wird) auch die sprachlichen Eigenheiten bewusster geworden, mir sind alte Menschen, die von sich erzählen, begegnet. Ich bin in der österreichischen Provinz aufgewachsen – Provinz mein ich nicht abwertend! –, und ich höre den Menschen in meiner Umgebung immer gern zu, wenn sie erzählen. Viele der Aussagen meiner Figuren könnten einem so oder so ähnlich begegnen – ich vermute nicht nur in Österreich, sondern überall in Deutschland und Österreich, halt mit einem anderen Lokalkolorit –, aber die Sprache von dort, wo ich aufgewachsen bin, ist mir natürlich näher. Als mich dann meine Lektorin angeschrieben hat, habe ich auch noch ältere Texte dazugenommen, die thematisch zu Mir ist die Zunge so schwer gepasst haben, zum Beispiel Hans Warum.

Du urteilst in deinen Erzählungen nicht über die Figuren, sondern schreibst fast ausschließlich aus ihrer Perspektive, bleibst dabei ganz nah an ihrer Sprache und ihrem persönlichen Horizont. Warum hast du diesen – manchmal fast mündlich klingenden – Tonfall gewählt? Und: Hast du das Gefühl, dass dein Buch angesichts erstarkter rechter Strömungen politischer geworden ist, als du es ursprünglich beabsichtigt hast?

Ich weiß nicht, ob sich jemand anmaßen darf, über jemanden anderen – auf einer persönlichen Ebene – zu urteilen. Das rechtfertigt natürlich keine Taten, man ist schon dafür verantwortlich, was man tut. Aber zu sagen: „Das hätte ich nicht getan“ – das kommt mir nur schwer über die Lippen. Die Kenntnis eines Menschen, also wie ich einen Menschen kenne, ist fragmentarisch. In der Erzählung Vorm jüngsten Gericht thematisiere ich das am Rand. Ich bin deshalb so nah an den Figuren geblieben, weil sie sich am besten selber kennen – mit all ihrer Fragmenthaftigkeit. Das heißt auch, dass sie vor sich selbst Dinge rechtfertigen, die eigentlich nicht zu rechtfertigen sind. Ich habe mich viel mit tragischen und traumatischen Erfahrungen, die Menschen widerfahren, mit dem Dritten Reich, aber auch mit aktuellen Themen, wie politischen Gefangenen beschäftigt. Was mich eigentlich interessiert, ist das, was die Menschen weiterleben, weitermachen lässt, also ihre Resilienz, wenn man so will – und dass das Leben nicht nur schwarz oder weiß ist, sondern dass es Auf und Abs, Gutes und Schlechtes gibt, dass sich manchmal was Gutes als gar nicht so gut herausstellt und umgekehrt und wir trotzdem damit (weiter)leben können. Ich finde es erstaunlich, dass nach dem Krieg die Menschen weitergelebt haben, dass sie auch miteinander gelebt haben, dass sie es geschafft haben, einen Rechtsstaat und eine Demokratie aufzubauen! (mehr …)