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Weg mit dem Stigma: Fünf Bücher über Depressionen

„Ja, ich leide unter Depressionen.“ Dass es noch immer Mut braucht, einen Satz wie diesen öffentlich auszusprechen, verrät eigentlich alles über das gesellschaftliche Stigma dieser Krankheit. Wenn sich eine Schauspielerin wie Nora Tschirner öffentlich zu ihrer Erkrankung bekennt oder der Komiker Kurt Krömer, den man bislang nur in seiner Rolle kannte, während seiner Sendung plötzlich ganz ernst und offen über seinen Zusammenbruch spricht, geht das noch immer als regelrechtes Medienereignis durch. Und genau darum sind Interviews und Auftritte wie diese so wichtig: Sie tragen dazu bei, eine ernste, für viele alltägliche Krankheit von ihrem gefährlichen Stigma zu befreien und sie endlich zu normalisieren. Niemand schämt sich dafür, über Krebs zu sprechen, über Bandscheibenvorfälle, über Diabetes. Warum dann bei einer Krankheit, von der allein in Deutschland ganze fünf Millionen Menschen betroffen sind? Es sollte keine Ausnahme, kein Tabubruch sein, offen über eine Volkskrankheit zu sprechen. Und man sollte erst Recht keinen Mut dafür brauchen.

Um gegen das Stigma, gegen die vielen falschen Klischees und Vorurteile anzukämpfen, braucht es aber nicht nur Menschen, die sich öffentlich zu ihrer Erkrankung bekennen, sondern auch Aufklärung. Darum stelle ich in diesem Beitrag zunächst vier Bücher zum Thema Depressionen vor, die sehr unterschiedliche Aspekte dieser Krankheit beleuchten. Und komme zuletzt noch auf ein fünftes zu sprechen – aus Gründen. Aber dazu später mehr.

Zoë Beck: Depressionen

Einerseits ist Zoë Becks Depressionen ein Sachbuch, das auf 100 Seiten das wichtigste Basiswissen über die Krankheit zusammenfasst – von den Symptomen über die Diagnose bis hin zu den Therapiemöglichkeiten und einer kleinen Kulturgeschichte. Zugleich gewährt die Autorin, Verlegerin und Übersetzerin in ihrem Buch aber auch einen intimen Einblick in ihre eigene Krankheitsgeschichte. Denn obwohl sie bereits ihr ganzes Leben mit einer Dunkelheit zu kämpfen hatte, die sie, weil sie sich selbst ja gar nicht anders kannte, stets auf ihre Persönlichkeit schob, musste Beck erst 33 und ernsthaft aus der Bahn geworfen werden, ehe sie endlich den Kampf gegen ihre Depressionen aufnahm und lernte, mit ihnen zu leben. Genau diese Mischung aus persönlichem Erfahrungsbericht und Wissensvermittlung macht aus dem schmalen Band ein ideales Einstiegsbuch für Betroffene und Angehörige, die diese Krankheit verstehen wollen und einen Ausweg suchen. [Reclam, 100 Seiten]

Bejamin Maack: Wenn das noch geht kann es nicht so schlimm sein

Spoiler: Doch, ist es. Der Autor und Journalist Benjamin Maack macht seinen Leser*innen allerdings auch gar nichts vor. „Hier wird am Ende übrigens nicht alles gut“, schreibt er an einer Stelle – und hat leider Recht. Denn obwohl die fragmentarische Sammlung aus Beobachtungen, Momentaufnahmen, Szenen und Gedankenfetzen, die Maack während seiner schweren Depressionen und Klinikaufenthalte schrieb, zum Schluss dann doch mit einer recht versöhnlichen Note endet, hat die Realität das Buch aus dem Jahr 2020 längst eingeholt: Erst vor wenigen Tagen schrieb Maack auf Instagram über seinen bevorstehenden nächsten Klinikaufenthalt. Wer sein schonungslos offenes Buch gelesen hat, ahnt, wie schmerzhaft auch diesmal der Abschied von seiner Frau und seinen Kindern wird – und wie unerbittlich und grausam diese Krankheit für Betroffene und ihr Umfeld oft ist. Ein selbsttherapeutisches Tagebuch ist das hier trotzdem nicht: Wie präzise Benjamin Maack seine Erkrankung mit den Mitteln der Literatur seziert und offenlegt, ist ebenso bedrückend wie beeindruckend. [Suhrkamp Nova, 334 Seiten]

David Vann – Momentum

Eine (Trigger-)Warnung vorab: Dieser Roman ist nur schwer zu ertragen – und genau das macht ihn so eindringlich und aufrichtig. David Vann lässt uns an den letzten Tagen im Leben des schwerdepressiven Jim teilhaben und erlaubt den Leser*innen dabei keine Distanz, im Gegenteil. Vann bleibt erbarmungslos dicht an Jims hoffnungslos verengter Perspektive dran und zeigt uns dadurch die hässliche Fratze einer Depression im Endstadium. Jim ist so resigniert wie unzurechnungsfähig, er kreist nur noch um sich selbst und seine selbstzerstörerischen, grausamen Gedanken. Jedem, der ihm zu helfen versucht, stößt er brutal vor den Kopf. Das selbstgewählte Ende ist für Jim, obwohl er gerade mal Ende 30 ist, längst unausweichlich. Doch so schwer es streckenweise auch ist, diesen Roman zu lesen, es muss ungleich schwerer gewesen sein, ihn zu schreiben. Denn Momentum ist für David Vann ein äußerst persönliches Buch: Jim war sein Vater. Als sie einander das letzte Mal sahen, war David noch ein Kind – eine Szene, die sich auch in Momentum wiederfindet. Vanns Roman ist einerseits eine intensive literarische Auseinandersetzung mit seinem kaum gekannten Vater, zugleich macht er aber auch deutlich, wie zerstörerisch Depressionen in einem Menschen wirken können – und dass es bei psychischen Erkrankungen eben keinen rationalen, selbstbestimmten Freitod geben kann. Es ist allein die Krankheit, die einen Depressiven in den Selbstmord treibt. Ohne Ausnahme. [Hanser Berlin, 300 Seiten]

Till Raether: Bin ich schon depressiv, oder ist das noch Leben?

Aber was, wenn das alles eigentlich gar nicht so schlimm ist? Wenn man im Alltag einigermaßen funktioniert, seinen Job gut oder vielleicht sogar besser als andere auf die Reihe kriegt und es – überspitzt formuliert – noch nicht einmal schafft, sein Leben so richtig in den Sand zu setzen und die Familie dabei gleich mit in den Abgrund zu reißen? Die permanente Erschöpfung und ständige Überforderung: Vielleicht ist das ja einfach bloß das normale Leben von Erwachsenen in der Rushhour des Lebens. Vielleicht haben die anderen ja Recht – und man muss sich einfach bloß ein bisschen zusammenreißen, bis es wieder besser wird. So geht es vielen Menschen mit Depressionen: Solange sie noch irgendwie funktionieren, nehmen sie selbst und ihr Umfeld ihre Erkrankung oft nicht ernst genug. Genauso ging es auch dem Schriftsteller und Journalisten Till Raether. In seinem Buch schreibt er ganz offen darüber, wie lange er brauchte, um seine Krankheit zu verstehen und sich ihr endlich zu stellen. Das Tückische an einer hochfunktionalen Depression wie Raethers ist nämlich, dass man mit ihr so ziemlich alles machen kann. Bis man eines Tages eben nicht mehr kann. Vieles, was für andere ganz selbstverständlich und einfach ist, kostet einen Menschen mit Depressionen sehr viel mehr Kraft; will man funktionieren wie alle anderen – allein schon, um sich selbst und der Welt zu beweisen, dass man das kann – zahlt man dafür auf Dauer einen hohen Preis: Man höhlt sich innerlich aus. Es ist die große Stärke von Raethers Buch, wie anschaulich und nachempfindbar er anhand persönlicher Situationen über das Wesen dieser Krankheit schreibt. Ein wichtiges Buch nicht nur für Betroffene und Menschen, die sich ihre vermeintliche (!) Schwäche selbst (noch) nicht eingestehen. Aber auch  Angehörigen, Partner:innen und Freund:innen von Menschen mit Depressionen kann man Raethers Buch nur empfehlen: Sicher verstehen sie nach der Lektüre besser, was es für manche heißt, einfach nur den ganz normalen Alltag zu bewältigen. [Rowohlt Polaris, 125 Seiten]

Und das fünfte Buch? Ist mein eigenes.

Ja, auch ich habe, seit ich 16 bin, immer mal wieder mit Depressionen zu tun und finde mich in den hier vorgestellten Büchern mal mehr (Raether), mal weniger (zum Glück: Vann) wieder. Ich komme meistens damit klar, danke der Nachfrage. Aber darum soll es hier nicht gehen. Genauso wenig soll es darum gehen, hier mein eigenes Buch zu bewerben – deshalb ist es auch nicht auf dem Foto. Vielmehr ist es mir wichtig, zum Schluss noch einmal zur Einleitung zurückzukommen: Es sollte keinen Mut brauchen, um offen über diese Krankheit zu sprechen. Und was, bitte, hat das mit meinem Debütroman Dezemberfieber zu tun? Nun ja: alles. Depressionen sind das zentrale Thema dieses Buches. Die Mutter der Hauptfigur Bastian zerbricht in Rückblenden an ihrer Erkrankung und auch Bastian erlebt im zentralen Handlungsstrang eine schwere depressive Episode. Im Klappentext, den ich damals selbst verfasste, ist allerdings keine Rede davon. Es ist zwar hübsch verklausuliert von seelischen Abgründen die Rede, der Begriff Depressionen taucht jedoch an keiner Stelle auf. Und obwohl ich die Krankheit der Mutter klar im Roman benenne, erlaubte ich den Leser*innen im Falle von Bastian – der aufgrund biografischer Parallelen natürlich eher mit mir in Verbindung zu bringen ist – auch ganz andere Lesarten: Der Arme hat eben zu lange seine Schuldgefühle verdrängt und muss jetzt halt endlich mal sein Trauma aufarbeiten. Stimmt zwar irgendwie, ist aber eben nur die halbe Wahrheit. Warum also konnte ich einen ganzen Roman über Depressionen schreiben, traute mich aber nicht, die Sache nach Erscheinen dann auch beim Namen zu nennen? Ganz einfach: aus Angst vor dem Stigma. Damals versuchte ich gerade, beruflich Fuß zu fassen und den anderen Fuß zugleich in die Tür zur Literaturwelt zu bekommen. Verständlich vielleicht. Aber eben auch feige und falsch.

Darum wiederhole ich mich an dieser Stelle gern: Niemand schämt sich dafür, über Krebs zu sprechen, über Bandscheibenvorfälle, über Diabetes. Warum dann bei einer Krankheit, von der allein in Deutschland ganze fünf Millionen Menschen betroffen sind? Es sollte keine Ausnahme, kein Tabubruch sein, offen über eine Volkskrankheit zu sprechen. Und man sollte erst Recht keinen Mut dafür brauchen. Denn letzten Endes gilt für Depressionen dasselbe wie für jede andere ernste Erkrankung auch: Aufklärung kann Leben retten.