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Retten, was zu retten ist. Über „Erschütterung“ von Percival Everett

everett_erschütterungIn den USA, Frankreich und Italien ist Percival Everett längst Kult, hierzulande gilt er noch als Geheimtipp. Zeit, das endlich zu ändern: In seinem wohl spannendsten und bewegendsten Roman Erschütterung erzählt der Autor von einer Verzweiflungstat. Weil er seine Tochter nicht vor ihrer unheilbaren Krankheit bewahren kann, entschließt sich ein Vater stattdessen zu einer wahnwitzigen Rettungsmission nahe der mexikanischen Grenze.

Zach Wells ist niemand, dem man eine Heldentat zutraut. Schließlich ist der Schwarze Paläontologieprofessor nicht gerade ein netter Mensch. Gegenüber Studierenden und KollegInnen ist er zumeist so schonungslos ehrlich und ironisch distanziert, dass es an Schroffheit grenzt. Auch sich selbst betrachtet er bloß mit selbstgerechter, fast spöttischer Abgeklärtheit. Echtes Engagement für andere, gar Herzlichkeit? Fehlanzeige. Mit den Fossilienfunden aus der abgeschiedenen Höhle, für die er als Experte gilt, scheint er sich wohler zu fühlen als in der Gegenwart lebender Menschen.

Mit einer Ausnahme: Zuhause bei seiner zwölfjährigen Tochter Sarah ist Zach nämlich ein anderer. Die Liebe zu ihr macht einen besseren Menschen aus ihm – und er weiß das. Im Gegensatz zur von Alltag und Entfremdung ermatteten Ehe mit seiner Frau Meg ist die Beziehung zwischen Sarah und ihm von spielerischer Leichtigkeit geprägt. Ob während ihrer regelmäßigen Schachpartien, beim Wandern oder am Esstisch, ständig überbieten die beiden einander mit schlagfertigen Kommentaren oder Insiderwitzen, bei denen Sarahs Mutter außen vor bleibt. Zachs Liebe zu ihr ist so bedingungslos wie aufrichtig, allein sie ist es, die ihm das Leben überhaupt lebenswert erscheinen lässt. Daher ist es auch kein Wunder, dass Zach es als Erster bemerkt: Irgendetwas stimmt mit Sarah nicht. Am Anfang steht ein ungewohnt fahrlässiger Fehler beim Schach, am Ende eine Diagnose, die Zach zutiefst erschüttert. Auf der Suche nach der Ursache für Sarahs rätselhafte Sehstörungen wird bei ihr wird das Batten-Syndrom diagnostiziert – eine unheilbare Krankheit, die für die Zwölfjährige nicht nur baldige Demenz, sondern auch einen frühen Tod bedeutet.

Der erste zweier Wendepunkte im Roman

Es ist Sarahs Diagnose, die den ersten zweier Wendepunkte in Percival Everetts Meisterwerk Erschütterung markiert. Was wie ein sarkastischer Campus-Roman beginnt, kippt so jäh ins Tragische, dass es kaum auszuhalten ist. Auf einmal ist man als LeserIn ganz bei Zach, dem Antihelden, den man eben noch scheitern sehen wollte oder dem man wenigstens eine ordentliche Läuterung an den Hals gewünscht hat. Mit schmerzhafter Klarheit, aber ohne Pathos rückt Everett nun die Hilflosigkeit seines Protagonisten in den Fokus: Egal, was er tut, Zach kann Sarah nicht retten. Ihm und Meg bleibt nichts anderes übrig, als tatenlos zuzusehen, wie ihre Tochter Tag für Tag mehr verschwindet.

Aus Verzweiflung kapselt sich Zach immer weiter von seiner Familie ab. Mit der voranschreitenden Demenz seiner Tochter tritt an die Stelle tiefer Trauer jedoch Entschlossenheit: Als er im Kragen eines im Internet gekauften Hemdes einen eingenähten Hilferuf findet, der ihn auf die Spur entführter mexikanischer Frauen führt, trifft Zack nämlich eine riskante Entscheidung. Wenn er Sarah schon nicht retten kann, dann muss er eben jemand anderen retten, ganz gleich, ob aus Altruismus oder bloß für sich selbst. Anstatt seiner Frau Meg zur Seite zu stehen, bricht Zack ins Gebiet nahe der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze auf, um diese Frauen irgendwie zu retten – und plötzlich nimmt Percival Everetts Roman eine weitere überraschende Wendung.

Wozu sich festlegen?

Bei seinen Büchern weiß man nie, was einen erwartet: Vielleicht ist das neben dem trockenen Humor die größte Konstante im Schaffen von Percival Everett. Sein Literaturagent soll – so jedenfalls die Legende – ihn sogar schon einmal angefleht haben, sich als Autor doch bitte, bitte einmal zu wiederholen. Offenbar vergebens: Keiner der mehr als zwanzig Romane, die der 1956 geborene, preisgekrönte US-Autor und Englischprofessor bislang veröffentlicht hat, gleicht dem anderen. Im Falle von Telephone, so der Titel der für den Pulitzer-Preis nominierten Originalversion von Erschütterung, trifft Everetts Unberechenbarkeit sogar auf ein einzelnes Buch zu. Man munkelt, dass drei leicht abweichende Versionen des Romans existieren sollen …

Typisch für Percival Everett: Wozu sich festlegen? Einer wie er lässt sich halt nur ungern einordnen. Vielleicht ist das auch der Grund, warum der Schwarze Schriftsteller selbst in den USA lange eher als Geheimtipp galt – eine Art Writer’s Writer, der vor allem von anderen AutorInnen geschätzt wird, aber nie den ganz großen Erfolg hatte. Trotzdem wächst seine Fangemeinde stetig, wie auch in Frankreich und Italien, wo Percival Everett längst als Kultautor gilt und bereits seit Jahren übersetzt wird. Anders in Deutschland: Hierzulande ist er fast noch ein Unbekannter; tatsächlich ist Erschütterung erst das vierte Buch, das ins Deutsche übertragen wurde.

Von der Westernparodie zum Neo-Western

Ein bemerkenswertes Beispiel für die literarische Spannbreite Everetts erschien bereits 2014 in der Weltlese-Reihe der Büchergilde: Herausgegeben von Ilija Trojanow, der Everett einmal als „literarischen Quentin Tarantino auf Speed“ bezeichnete, bildet der Roman God’s Country einen starken Kontrast zum bewegenden Erschütterung. God’s Country, ursprünglich im Jahr 1994 veröffentlicht, ist eine derbe Westernparodie, die das Spiel mit Genreklischees mit viel Witz auf die Spitze treibt Es ist alles da, was man aus alten Hollywoodschinken und Groschenromanen kennt: die Saloons und die Pistolenduelle, markige Cowboys und Native Americans, Bankräuber und Sheriffs, die ihnen mit dem Galgen drohen. Everetts Personal ist so überzeichnet wie in einer Kino-Groteske, sein Thema jedoch ein ernstes: Indem er dem moralisch verkommenen Ich-Erzähler Curt Marder den aufrechten und integren Schwarzen Fährtenleser Bubba an die Seite stellt, um gemeinsam Marders entführte Frau zu retten, stellt Everett im Laufe des Romans nicht nur den Rassismus seiner Hauptfigur und der damaligen Zeit bloß – er entlarvt auch den inhärenten Rassismus einer ganzen Gattung: Der klassische Western hat die US-amerikanische Kultur geprägt wie kein anderes Genre. Sein Narrativ ist, wie Everett zeigt, aber durch und durch von rassistischen Klischees geprägt, die bis heute in die Gesellschaft hineinwirken.

Obwohl Everetts trockener Witz auch im ungleich ernsteren Erschütterung durchscheint und beide Romane in eine waghalsige Rettungsmission münden, könnten sie kaum unterschiedlicher sein – dabei kommt Everett dem Western im letzten Drittel Erschütterung tatsächlich so nahe wie seit God Country nicht mehr. Als der trauernde Paläontologe Zach Wells im Grenzgebiet zu Mexiko das Fabrikgebäude entdeckt, in der US-amerikanische Neonazis ein gutes Dutzend entführter mexikanischer Frauen zur Arbeit zwingen, findet man sich als LeserIn plötzlich im Setting eines Neo-Westerns wieder und fühlt sich an die trostlosen Wüstenszenen hinter Albuquerque aus der Serie Breaking Bad oder an den Film No Country for Old Men von den Coen-Brüdern erinnert.

Eine Pointe, auf die nur einer wie Everett kommen kann

Mit diesem Bruch im Plot gelingt Everett ein wahres Kunststück: Ohne an Glaubwürdigkeit zu verlieren, wird der anfangs launige, später tieftraurige Roman auf einmal zu einem fesselnden Pageturner, in dem sich der Protagonist ernsthaft in Gefahr begibt. Zwar ist sich Zach im Klaren darüber, dass sein wahnwitziger Plan den Schmerz darüber, Sarah nicht retten zu können, niemals lindern kann, trotzdem sieht er keine Alternative: Er muss diesen Frauen helfen, um irgendjemanden – vielleicht sogar sich selbst – zu retten. Dass Zachs absurd riskante Mission zur Befreiung der Frauen dann ausgerechnet mithilfe eines Hobby-Dichterkreises gelingen könnte, ist eine Pointe, auf die vermutlich nur ein Autor wie Percival Everett kommen kann.

„Thu es oder thu es nicht, beides wird dich verdrießen“, heißt es in dem Zitat von Kierkegaard, das dem Roman nicht ohne Grund vorangestellt ist. Bei der Frage, ob man Percival Everetts Bücher lesen sollte, gilt allerdings das komplette Gegenteil. Es gibt nämlich zwei Arten von LeserInnen, stellte man in der Jury des US-amerikanischen National Book Critics Circle sehr treffend fest: Diejenigen, die Percival Everett lesen – und diejenigen, die etwas verpassen.

Percival Everett: Erschütterung. 288 Seiten. Erschienen bei Hanser und als Lizenzausgabe bei der Büchergilde. Diese Besprechung erschien auch im Magazin 3/22 der Büchergilde, hier kostenlos als Download erhältlich.

Weg mit dem Stigma: Fünf Bücher über Depressionen

„Ja, ich leide unter Depressionen.“ Dass es noch immer Mut braucht, einen Satz wie diesen öffentlich auszusprechen, verrät eigentlich alles über das gesellschaftliche Stigma dieser Krankheit. Wenn sich eine Schauspielerin wie Nora Tschirner öffentlich zu ihrer Erkrankung bekennt oder der Komiker Kurt Krömer, den man bislang nur in seiner Rolle kannte, während seiner Sendung plötzlich ganz ernst und offen über seinen Zusammenbruch spricht, geht das noch immer als regelrechtes Medienereignis durch. Und genau darum sind Interviews und Auftritte wie diese so wichtig: Sie tragen dazu bei, eine ernste, für viele alltägliche Krankheit von ihrem gefährlichen Stigma zu befreien und sie endlich zu normalisieren. Niemand schämt sich dafür, über Krebs zu sprechen, über Bandscheibenvorfälle, über Diabetes. Warum dann bei einer Krankheit, von der allein in Deutschland ganze fünf Millionen Menschen betroffen sind? Es sollte keine Ausnahme, kein Tabubruch sein, offen über eine Volkskrankheit zu sprechen. Und man sollte erst Recht keinen Mut dafür brauchen.

Um gegen das Stigma, gegen die vielen falschen Klischees und Vorurteile anzukämpfen, braucht es aber nicht nur Menschen, die sich öffentlich zu ihrer Erkrankung bekennen, sondern auch Aufklärung. Darum stelle ich in diesem Beitrag zunächst vier Bücher zum Thema Depressionen vor, die sehr unterschiedliche Aspekte dieser Krankheit beleuchten. Und komme zuletzt noch auf ein fünftes zu sprechen – aus Gründen. Aber dazu später mehr.

Zoë Beck: Depressionen

Einerseits ist Zoë Becks Depressionen ein Sachbuch, das auf 100 Seiten das wichtigste Basiswissen über die Krankheit zusammenfasst – von den Symptomen über die Diagnose bis hin zu den Therapiemöglichkeiten und einer kleinen Kulturgeschichte. Zugleich gewährt die Autorin, Verlegerin und Übersetzerin in ihrem Buch aber auch einen intimen Einblick in ihre eigene Krankheitsgeschichte. Denn obwohl sie bereits ihr ganzes Leben mit einer Dunkelheit zu kämpfen hatte, die sie, weil sie sich selbst ja gar nicht anders kannte, stets auf ihre Persönlichkeit schob, musste Beck erst 33 und ernsthaft aus der Bahn geworfen werden, ehe sie endlich den Kampf gegen ihre Depressionen aufnahm und lernte, mit ihnen zu leben. Genau diese Mischung aus persönlichem Erfahrungsbericht und Wissensvermittlung macht aus dem schmalen Band ein ideales Einstiegsbuch für Betroffene und Angehörige, die diese Krankheit verstehen wollen und einen Ausweg suchen. [Reclam, 100 Seiten]

Bejamin Maack: Wenn das noch geht kann es nicht so schlimm sein

Spoiler: Doch, ist es. Der Autor und Journalist Benjamin Maack macht seinen Leser*innen allerdings auch gar nichts vor. „Hier wird am Ende übrigens nicht alles gut“, schreibt er an einer Stelle – und hat leider Recht. Denn obwohl die fragmentarische Sammlung aus Beobachtungen, Momentaufnahmen, Szenen und Gedankenfetzen, die Maack während seiner schweren Depressionen und Klinikaufenthalte schrieb, zum Schluss dann doch mit einer recht versöhnlichen Note endet, hat die Realität das Buch aus dem Jahr 2020 längst eingeholt: Erst vor wenigen Tagen schrieb Maack auf Instagram über seinen bevorstehenden nächsten Klinikaufenthalt. Wer sein schonungslos offenes Buch gelesen hat, ahnt, wie schmerzhaft auch diesmal der Abschied von seiner Frau und seinen Kindern wird – und wie unerbittlich und grausam diese Krankheit für Betroffene und ihr Umfeld oft ist. Ein selbsttherapeutisches Tagebuch ist das hier trotzdem nicht: Wie präzise Benjamin Maack seine Erkrankung mit den Mitteln der Literatur seziert und offenlegt, ist ebenso bedrückend wie beeindruckend. [Suhrkamp Nova, 334 Seiten]

David Vann – Momentum

Eine (Trigger-)Warnung vorab: Dieser Roman ist nur schwer zu ertragen – und genau das macht ihn so eindringlich und aufrichtig. David Vann lässt uns an den letzten Tagen im Leben des schwerdepressiven Jim teilhaben und erlaubt den Leser*innen dabei keine Distanz, im Gegenteil. Vann bleibt erbarmungslos dicht an Jims hoffnungslos verengter Perspektive dran und zeigt uns dadurch die hässliche Fratze einer Depression im Endstadium. Jim ist so resigniert wie unzurechnungsfähig, er kreist nur noch um sich selbst und seine selbstzerstörerischen, grausamen Gedanken. Jedem, der ihm zu helfen versucht, stößt er brutal vor den Kopf. Das selbstgewählte Ende ist für Jim, obwohl er gerade mal Ende 30 ist, längst unausweichlich. Doch so schwer es streckenweise auch ist, diesen Roman zu lesen, es muss ungleich schwerer gewesen sein, ihn zu schreiben. Denn Momentum ist für David Vann ein äußerst persönliches Buch: Jim war sein Vater. Als sie einander das letzte Mal sahen, war David noch ein Kind – eine Szene, die sich auch in Momentum wiederfindet. Vanns Roman ist einerseits eine intensive literarische Auseinandersetzung mit seinem kaum gekannten Vater, zugleich macht er aber auch deutlich, wie zerstörerisch Depressionen in einem Menschen wirken können – und dass es bei psychischen Erkrankungen eben keinen rationalen, selbstbestimmten Freitod geben kann. Es ist allein die Krankheit, die einen Depressiven in den Selbstmord treibt. Ohne Ausnahme. [Hanser Berlin, 300 Seiten]

Till Raether: Bin ich schon depressiv, oder ist das noch Leben?

Aber was, wenn das alles eigentlich gar nicht so schlimm ist? Wenn man im Alltag einigermaßen funktioniert, seinen Job gut oder vielleicht sogar besser als andere auf die Reihe kriegt und es – überspitzt formuliert – noch nicht einmal schafft, sein Leben so richtig in den Sand zu setzen und die Familie dabei gleich mit in den Abgrund zu reißen? Die permanente Erschöpfung und ständige Überforderung: Vielleicht ist das ja einfach bloß das normale Leben von Erwachsenen in der Rushhour des Lebens. Vielleicht haben die anderen ja Recht – und man muss sich einfach bloß ein bisschen zusammenreißen, bis es wieder besser wird. So geht es vielen Menschen mit Depressionen: Solange sie noch irgendwie funktionieren, nehmen sie selbst und ihr Umfeld ihre Erkrankung oft nicht ernst genug. Genauso ging es auch dem Schriftsteller und Journalisten Till Raether. In seinem Buch schreibt er ganz offen darüber, wie lange er brauchte, um seine Krankheit zu verstehen und sich ihr endlich zu stellen. Das Tückische an einer hochfunktionalen Depression wie Raethers ist nämlich, dass man mit ihr so ziemlich alles machen kann. Bis man eines Tages eben nicht mehr kann. Vieles, was für andere ganz selbstverständlich und einfach ist, kostet einen Menschen mit Depressionen sehr viel mehr Kraft; will man funktionieren wie alle anderen – allein schon, um sich selbst und der Welt zu beweisen, dass man das kann – zahlt man dafür auf Dauer einen hohen Preis: Man höhlt sich innerlich aus. Es ist die große Stärke von Raethers Buch, wie anschaulich und nachempfindbar er anhand persönlicher Situationen über das Wesen dieser Krankheit schreibt. Ein wichtiges Buch nicht nur für Betroffene und Menschen, die sich ihre vermeintliche (!) Schwäche selbst (noch) nicht eingestehen. Aber auch  Angehörigen, Partner:innen und Freund:innen von Menschen mit Depressionen kann man Raethers Buch nur empfehlen: Sicher verstehen sie nach der Lektüre besser, was es für manche heißt, einfach nur den ganz normalen Alltag zu bewältigen. [Rowohlt Polaris, 125 Seiten]

Und das fünfte Buch? Ist mein eigenes.

Ja, auch ich habe, seit ich 16 bin, immer mal wieder mit Depressionen zu tun und finde mich in den hier vorgestellten Büchern mal mehr (Raether), mal weniger (zum Glück: Vann) wieder. Ich komme meistens damit klar, danke der Nachfrage. Aber darum soll es hier nicht gehen. Genauso wenig soll es darum gehen, hier mein eigenes Buch zu bewerben – deshalb ist es auch nicht auf dem Foto. Vielmehr ist es mir wichtig, zum Schluss noch einmal zur Einleitung zurückzukommen: Es sollte keinen Mut brauchen, um offen über diese Krankheit zu sprechen. Und was, bitte, hat das mit meinem Debütroman Dezemberfieber zu tun? Nun ja: alles. Depressionen sind das zentrale Thema dieses Buches. Die Mutter der Hauptfigur Bastian zerbricht in Rückblenden an ihrer Erkrankung und auch Bastian erlebt im zentralen Handlungsstrang eine schwere depressive Episode. Im Klappentext, den ich damals selbst verfasste, ist allerdings keine Rede davon. Es ist zwar hübsch verklausuliert von seelischen Abgründen die Rede, der Begriff Depressionen taucht jedoch an keiner Stelle auf. Und obwohl ich die Krankheit der Mutter klar im Roman benenne, erlaubte ich den Leser*innen im Falle von Bastian – der aufgrund biografischer Parallelen natürlich eher mit mir in Verbindung zu bringen ist – auch ganz andere Lesarten: Der Arme hat eben zu lange seine Schuldgefühle verdrängt und muss jetzt halt endlich mal sein Trauma aufarbeiten. Stimmt zwar irgendwie, ist aber eben nur die halbe Wahrheit. Warum also konnte ich einen ganzen Roman über Depressionen schreiben, traute mich aber nicht, die Sache nach Erscheinen dann auch beim Namen zu nennen? Ganz einfach: aus Angst vor dem Stigma. Damals versuchte ich gerade, beruflich Fuß zu fassen und den anderen Fuß zugleich in die Tür zur Literaturwelt zu bekommen. Verständlich vielleicht. Aber eben auch feige und falsch.

Darum wiederhole ich mich an dieser Stelle gern: Niemand schämt sich dafür, über Krebs zu sprechen, über Bandscheibenvorfälle, über Diabetes. Warum dann bei einer Krankheit, von der allein in Deutschland ganze fünf Millionen Menschen betroffen sind? Es sollte keine Ausnahme, kein Tabubruch sein, offen über eine Volkskrankheit zu sprechen. Und man sollte erst Recht keinen Mut dafür brauchen. Denn letzten Endes gilt für Depressionen dasselbe wie für jede andere ernste Erkrankung auch: Aufklärung kann Leben retten.

Ein Zerrbild weißer Machtstrukturen? Über „Identitti“ von Mithu Sanayl

Über kaum ein Thema wird derzeit so scharf diskutiert wie über Identitätspolitik. Mit ihrem ebenso bissigen wie lehrreichen Debütroman „Identitti“ über eine indische Star-Professorin, die als Weiße entlarvt wird, führt die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal sämtliche Debatten bravourös ad absurdum.

Ausgerechnet Saraswati! Nivedita ist erschüttert. Schließlich ist die charismatische Star-Professorin für Postcolonial Studies an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf weit mehr als nur ihre Mentorin. Sie ist auch das Rollenvorbild, nach dem sich die Studentin so lange gesehnt hat. Saraswati war es, die Nivedita endlich zeigte, wer sie sein kann – als Tochter eines Inders und einer Deutschen mit polnischen Wurzeln, die sich vorher nirgends wirklich zugehörig fühlte. Ihren scharfsichtigen Lehren verdankt Nivedita auch die Inspiration zu ihrem Blog Identitti, auf dem sie als Mixed-Race Wonder Woman mit der indischen Göttin Kali Gespräche über Sex, Rassismus und Identitätsfragen führt. Und nicht zuletzt war es Saraswati, die durch ihre Seminare, in denen sie prinzipiell keine weißen Studierenden duldet, viele People of Colour der Uni zu einer eingeschworenen Campus-Community zusammenschweißte. Ausgerechnet diese Frau steht nun weltweit als Betrügerin da. Denn in Wahrheit ist Saraswati weiß und wurde als die privilegierte Zahnarzttochter Sarah Vera Thielmann geboren. 

Ein Skandal, der auch Nivedita mit in den Shitstorm reißt: Anstatt sie wie ihre KommilitonInnen in sozialen Medien an den Pranger zu stellen, konfrontiert Nivedita ihre Mentorin – und zieht, als diese ihr klare Antworten schuldig bleibt, kurzerhand bei ihr ein. Schon bald findet sich Nivedita in einer absurden Diskurs-WG wieder. Es stoßen nicht nur ihre Cousine Priti und Saraswatis Lebensgefährtin hinzu, sondern auch derjenige, der die Entlarvung überhaupt erst ins Rollen brachte: Saraswatis Bruder. 

Erst nach und nach kommt ans Licht, was Sarah Vera dazu bewogen hat, zur selbsternannten transracial Saraswati zu werden. Während die halbe Netzwelt über kulturelle Aneignung und die Betrügerin als Zerrbild weißer, postkolonialer Machtstrukturen schimpft, wirft Saraswati die utopische Frage auf, ob race nicht ebenso eine gesellschaftlich konstruierte Zuschreibung ist wie das Geschlecht. Wo fängt Ausgrenzung an, wo hört sie auf? Nivedita treibt dagegen eine ganz andere Frage um: Hat all das identitätsstiftende Empowerment, das sie ihrem Idol verdankt, nun überhaupt noch einen Wert?

Was auf den ersten Blick nach einer fast grotesken Versuchsanordnung anmutet, um die scharfen Debatten über Identitätspolitik ad absurdum zu führen, hat tatsächlich reale Vorbilder. Bekannt geworden ist besonders der Skandal um die weiße US-Professorin Jessica Krug, die sich fälschlicherweise als Schwarze ausgab. Aber auch darüber hinaus gelingt der Autorin Mithu Sanyal in ihrem ersten Roman Identitti ein ebenso witziges wie kluges Spiel mit der Realität – angefangen bei den Parallelen zwischen Niveditas und ihrer eigenen Biografie bis hin zu den Einwürfen aus der Netzwelt, die den Fall Saraswati kommentieren. Immer wieder lässt Sanyal reale ExpertInnen aus der Forschung, AktivistInnen, JournalistInnen oder AutorInnen zu Wort kommen, und bleibt trotz echter Wortmeldungen bekannter Persönlichkeiten wie Ijoma Mangold, Fatma Aydemir oder Berit Glanz innerhalb ihrer Fiktion. An einer Stelle bricht die Realität dann doch mit voller Wucht in die Handlung ein: Die erschreckende Nachricht von den rassistischen Morden in Hanau trifft LeserInnen mit derselben Härte wie Nivedita und ihre FreundInnen.

Nach ihren hochgelobten Sachbüchern ist der Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal gleich mit dem ersten Roman ein wahres Kunststück gelungen: Einerseits temporeich und bissig, ist Identitti zugleich ein lehrreiches Buch über die Wichtigkeit, aber auch die Ambivalenz von Identitätspolitik – und das, ohne zu belehren. Wären die Grenzen zwischen Realität und Fiktion tatsächlich so fließend wie in diesem Roman, man würde der Figur Nivedita ein anderes Rollenvorbild wünschen. Mithu Sanyal zum Beispiel.

Mithu Sanyal: Identitti. 432 Seiten, erschienen bei Hanser und als Lizenzausgabe bei der Büchergilde. Diese Besprechung erschien bereits im aktuellen Magazin der Büchergilde.

 

Heimat der Toten. Über „Das Feld“ von Robert Seethaler

Robert Seethaler - Das FeldGleich 29 Verstorbene lässt Robert Seethaler in seinem Roman „Das Feld“ zurück auf ihr Leben blicken und verknüpft ihre Geschichten zu einem bewegenden Kleinstadtporträt. Ein Roman so vielfältig, traurig und schön wie das Leben selbst.

Die letzten Worte eines Menschen: Da denkt man an Pathos und Reue, an finalen Erkenntnisgewinn und überhöhte Einsichten in das, was im Leben wirklich zählt. Man denkt an moralische Belehrungen, an Kitsch. Und an Autoren, die aus diesem Stoff einen esoterischen Roman voller spontan mit Weisheit gesegneter Besserwisser gemacht hätten. Nicht so Robert Seethaler. Die toten Paulstädter, die er in Das Feld zu Wort kommen lässt, wissen es nicht besser. Anstatt von einer höheren Warte aus zu erzählen, bleiben sie auch zwei Meter unter der Erde noch immer, wer sie zu Lebzeiten waren. Die alltäglichen Kämpfe haben sie zwar hinter sich gelassen, auch scheinen alle ihren Frieden mit dem Tod gemacht zu haben, weiser ist allerdings keiner von ihnen geworden. Weder hat der korrupte Bürgermeister aus seinen Fehlern gelernt, noch bereut der Bauer mit dem schlechten Boden die lebenslange Vergeblichkeit seines Tuns. Ein Vater gibt seinem Sohn Ratschläge aus dem Jenseits, die kaum über Renovierungstipps hinausgehen, eine alte Frau blickt auf ihre 67 Liebhaber zurück, während eine andere für ihre Mitbürger bloß noch ein einziges Wort übrig hat: „Idioten“.

Selbstgespräche auf dem Friedhof

29 zumeist einfache Menschen, darunter Alte wie Kinder, Einfältige wie Kluge, Zufriedene wie Ruhelose lässt Robert Seethaler in Das Feld nach ihrem Tod sprechen. Doch die wenigsten wenden sich an die Lebenden. Vielmehr führen sie Selbstgespräche, sie klammern sich zwar nicht an ihr Leben, sehr wohl aber an das, was es einmal ausmachte. Manche erinnern sich ans Sterben, andere ziehen Bilanz, die meisten aber bleiben wenigen Augenblicken verhaftet, die sie in besonders intensiver Erinnerung behielten – und sei es bloß ein unbeschwerter Tag in ihrer Kindheit. Jeder erzählt von dem, was er in seinem Leben als besonders wichtig oder prägend empfand. Von einem Gefühl, einem Moment, einer Person.

„Ein Sonntag ohne dich war nicht vollständig. Dich lieben, dann neben dir liegen, im Bett, im Gras, im Schnee. Das war alles.“

Die kurzen Episoden sind nur lose miteinander verknüpft und auch nicht chronologisch geordnet, und doch vermitteln sie, je mehr Menschen man aus Paulstadt kennenlernt, ein immer präziseres Bild vom Leben in diesem Ort. Irgendwann glaubt man sie zu kennen, die Paulstädter, man nimmt Teil an ihrem Alltag und kennt die Gerüchte und Geschichten, die sie sich erzählen, die kleinen und großen Katastrophen, die Beziehungen untereinander. Man nickt wissend, wenn von Pfarrer Hoberg und seiner brennenden Kirche oder dem eingestürzten Einkaufszentrum die Rede ist, von den Verlierern abends am Tresen im Goldenen Mond oder dem Kind im Sumpf. Indem Robert Seethaler aus den Leben dieser Menschen erzählt, erzählt er zugleich vom Leben in ihrer Stadt. Das Feld ist kein Porträt von 29 Verstorbenen. Es ist das Porträt einer ganzen Gemeinde, ein Heimatroman – umso wehmütiger stimmt dann auch der Abschied aus Paulstadt nach der letzten Seite. Schließlich hatte man sich hier gerade erst eingelebt.


Robert Seethaler: Das Feld. Erschienen bei Hanser Berlin und als Lizenzausgabe bei der Büchergilde, 240 Seiten. Diese Rezension erschien zuerst im Magazin der Büchergilde 1/2019 – erhältlich auch als kostenloses PDF zum Download.

Die Möglichkeit einer Flucht. Über „Die kommenden Jahre“ von Norbert Gstrein

Norbert Gstrein - Die kommenden JahreAls Natascha und Richard eine syrische Flüchtlingsfamilie bei sich aufnehmen, steuert ihre Ehe auf eine Katastrophe zu. In Die kommenden Jahre lässt Norbert Gstrein Empathie und Pragmatismus aufeinandertreffen – und widersteht dabei der Versuchung, einfache Antworten zu geben.

Halb im Scherz, halb im Ernst reden sie alle von Flucht. Noch will niemand auf der Tagung daran glauben, dass der Ernstfall tatsächlich eintreten könnte, ein halbes Jahr vor der Präsidentschaftswahl sagen die meisten aber klar, wohin es sie im Falle eines Wahlsiegs Donald Trumps ziehen würde: nach Kanada. Das ist auch Sehnsuchtsort des österreichischen Gletscherforschers Richard, des Protagonisten in Norbert Gstreins Roman Die kommenden Jahre, der auf Einladung seines alten Freundes Tim nach New York geflogen ist – und die Tagung selbst als kleine Flucht begreift. Der Abstand zu seinem Alltag in Hamburg, zu seiner Frau Natascha tut ihm gut. Aber auch in der Ferne kann Richard der Situation, in die sie ihn gebracht hat, nicht entkommen. Längst haben alle Kollegen den Fernsehbeitrag gesehen, der Artikel in der Illustrierten hat vermutlich bereits die Runde gemacht. Für Tim und Richards ehemalige Studentin Idea, die er kurz darauf in Kanada trifft, ist die Sache klar: Mit ihrem zur Schau gestellten Engagement für die Flüchtlingsfamilie Fahri hat die Schriftstellerin Natascha ihren Mann lächerlich gemacht.

Dabei war es nicht einmal Nataschas Idee, im ungenutzten Sommerhaus am See eine syrische Flüchtlingsfamilie einziehen zu lassen, sondern die ihrer verstorbenen Zwillingsschwester Katja. Aber es ist Natascha, die sich die Hilfe für Herrn und Frau Fahri und ihre Kinder plötzlich zur Lebensaufgabe macht und dafür in Kauf nimmt, dass die Distanz zwischen ihr und Richard größer wird. Er nämlich glaubt, sie wolle den Syrern weniger aus Nächstenliebe denn aus Geltungsdrang helfen, sie dagegen wirft ihm emotionale Kälte vor. Und natürlich ist in Norbert Gstreins Die kommenden Jahre nichts so einfach, wie es zunächst scheint. Nach Richards Heimkehr spitzt sich nicht nur die Ehekrise, sondern auch die Situation am See zu. Immer öfter tauchen Jugendliche am Haus auf, die die ungebetenen Gäste einschüchtern wollen, und auch die Motive der Nachbarn werden zunehmend unklarer. Während Natascha nervöser wird, sich schließlich sogar ein Hotelzimmer in der Nähe des Sees nimmt, um gemeinsam mit Herrn Fahri an einem Text über Flucht zu arbeiten, machen Gerüchte über dessen Vergangenheit die Runde. Richards Zweifel werden umso größer, als sich auf ihrer ersten gemeinsamen Lesung herausstellt, dass Katja und Herr Fahri in ihrem Text nicht seine tatsächliche, sondern bloß eine mögliche Flucht beschrieben haben – ein kleiner Eklat.

Die kommenden Jahre ist mehr als ein Roman über eine Ehe- oder die Flüchtlingskrise. So einfach, bloß satirisch mit Nataschas moralisch-hysterischem Gutmenschentum oder Richards rationalem, kühlem Pragmatismus abzurechnen, macht es sich Norbert Gstrein nicht. Vieles bleibt in der Schwebe, sicher geglaubte Gewissheiten schwinden den Figuren wie die schmelzenden Gletscher, an denen Richard forscht. In früheren Texten Norbert Gstreins spielte oft Heimat eine große Rolle, hier ist es die Sehnsucht nach einem anderen, einem besseren Leben, die sich für Richard an Orten genauso festmacht wie an Menschen: die Sehnsucht nach Kanada, ein Land, das ihn an seine Kindheit erinnert, zugleich aber fern genug ist, um Utopie zu bleiben. Die nach Katja, die vielleicht die passendere Wahl zwischen den Zwillingen gewesen wäre. Und nicht zuletzt die nach Idea, die das verkörpert, was Richard am meisten zu brauchen glaubt – die Möglichkeit einer Flucht. „Natascha, du weißt nicht, wie viele Optionen ich habe“, sagt er einmal im Streit zu seiner Frau. Und irrt sich dabei gewaltig: Am Ende – und das gilt für alle Figuren des Romans – sind es weitaus weniger, als er denkt.


Norbert Gstrein: Die kommenden Jahre. Erschienen bei Hanser und als Lizenzausgabe bei der Büchergilde, 288 Seiten. Diese Rezension erschien erstmals im Magazin der Büchergilde 4/2018 – auch erhältlich zum kostenlosen Download.

Aus den Fugen. Über „Bungalow“ von Helene Hegemann

IMG_3998Seit dieser Woche ist die Shortlist für den Deutschen Buchpreis bekannt und keiner meiner vier Titel ist noch im Rennen. Damit bin ich nun wohl offiziell die lame duck unter den Buchpreisbloggern – und kann mich bei den verbliebenen Büchern eigentlich nur noch fragen: Woran lag’s?

Bungalow von Helene Hegemann machte mich vor allem deshalb neugierig, weil ich bislang partout keinen ihrer Romane lesen wollte. Die Gründe lagen für mich auf der Hand, damals beim Debüt. Da war der aufgepumpte Hype um Axolotl Roadkill, der in mir die für Hypes üblichen Abwehrreflexe weckte. Da war der allzu prominente Name, der bei mir grundsätzliche Skepsis, als zu diesem Zeitpunkt noch unveröffentlichtem Autor aber sicher auch ein wenig Neid hervorrief. Da war das Buch selbst, das, soweit ich es anhand von Auszügen beurteilen konnte, nichts weiter als krass sein wollte. Und nicht zuletzt war da der Plagiatsskandal, der mich abschreckte – die Art und Weise, wie sich Hegemann bei anderen Künstlern bedient hatte, war schließlich nicht einfach nur naiv gewesen. Sondern dreist. Acht Jahre und zwei Romane später gab es aber nun zwei gute Gründe, Helene Hegemann mit Bungalow eine Chance zu geben: Hanser als Verlagshaus und die Nominierung für den Deutschen Buchpreis.

Nach dem Klappentext erwartete ich eine prekäre Coming of Age-Geschichte vor dem Hintergrund einer drohenden Apokalypse, nach den ersten paar Dutzend Seiten jedoch eher einen bemüht krassen Roman, der zwar bedeutungsschwanger daherkam, am Ende aber wenig Substanz hatte. Kurzum: Ich erwartete meinen ersten Verriss als Buchpreisblogger. Gleich auf der ersten Seite begegnen wir der Teenagerin und Ich-Erzählerin Charlie beim Sex mit dem erwachsenen Georg, dessen Frau Maria gerade gelangweilt fernsieht, die Szene eskaliert kurz in Gewalt und löst sich dann harmlos wieder auf. Die Welt ist längst im Arsch, womöglich hat es eine Umweltkatastrophe gegeben, einen Krieg vor unserer Haustür, nichts Genaues weiß man nicht, das bleibt den Lesern des Buches anfangs aber genauso egal wie seinen nihilistischen Figuren. Vieles ist einfallsreich an den ersten Kapiteln von Bungalow, immer wieder streut Hegemann clevere oder irritierende Details ein, die zunächst überraschen und amüsieren, dann aber bloß reiner Selbstzweck ohne Kontext, ohne Bedeutung bleiben. Oft denkt man an futuristische Mode, die sich als Alufolie entpuppt: Es knistert und glänzt an allen Ecken, ist letzten Endes aber dann doch ziemlich dünn. Auch die Struktur von Bungalow macht den Einstieg nicht leichter. Charlie berichtet nicht nur von ihrem toxischen Verhältnis zu den reichen Nachbarn Georg und Marie, sondern taucht auch mit unglaubwürdiger Detailkenntnis in deren Vergangenheit ein. Die Erzählhaltung wird erst schlüssiger, als sich die Perspektive auf Charlies eigenes Leben verengt – und der Roman zu meiner Überraschung plötzlich richtig gut wird.

Zeichen des Niedergangs

Im weiteren Verlauf erzählt Charlie aus ihrer frühen Jugend, schon damals war die Welt nicht mehr in Ordnung, aber noch nicht vollends aus den Fugen geraten. Gemeinsam mit ihrer Mutter, einer schweren Alkoholikerin, deren psychische Aussetzer immer häufiger und länger werden, lebt sie in einem Hochhaus mit Blick auf die Bungalows der Reichen, die Charlie um ihr Leben beneidet. Lässt sich ihre Armut anfangs noch kaschieren, wird die Verwahrlosung der Familie mit jedem Schuljahr offensichtlicher. Das Geld fürs Essen reicht gerade mal bis zur Mitte des Monats, die Kraft zur Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Normen irgendwann nicht einmal mehr für eine Dusche. Die Eskalationen werden immer häufiger, irgendwann stehen sich Charlie und ihre Mutter sogar mit dem Messer gegenüber. Angesichts des Niedergangs allerorten schlagen sie sich aber noch beachtlich gut: Die Stadt ist voller Tierkadaver und Selbstmörder, andauernd wird von blutigen Geiselnahmen und Anschlägen berichtet, sogar von Krieg ist immer öfter die Rede. Und so ist es kein Wunder, dass Iskender, Charlies altkluger, von Kung Fu träumender bester Freund, eine immer kleinere Rolle in ihrem Leben spielt, als das schillernde Paar Georg und Maria in einen der Bungalows zieht. Schnell kippt Charlies Faszination für die beiden in eine Besessenheit, die an Stalking grenzt.

Was anfangs noch nervte, funktioniert im Verlauf des Romans immer besser. Die verschrobenen Details wirken nicht mehr aufgesetzt, sondern erfüllen einen Zeck, fügen sich ins Gesamtbild ein. Helene Hegemann beschreibt in Bungalow nicht nur das Auseinanderdriften der Kluft zwischen Arm und Reich, sondern auch eine Gesellschaft, die den Kipppunkt in Richtung Niedergang bereits überschritten hat – alles ist längst in Auflösung begriffen. Während die einen noch fürchten, dass die Welt, wie wir sie kennen, vor die Hunde geht, können es die anderen kaum erwarten:

„Ich erinnere mich, wie ich irgendwann eine Politikergattin im »Frühstücksfernsehen« darüber reden sah, dass sie ein langes, freies Leben wolle, für sich und alle anderen Menschen, und wie wichtig es sei, Geld zu spenden an Umweltorganisationen und so, und ich dachte nur, dass das klar ist, dass Leute, die Interviews im Fernsehen geben […], die genug zu tun haben, um irgendwas an dieser Welt paradiesisch finden zu können, dass die Organisationen unterstützen, die sich für den Fortbestand ebendieser Welt starkmachen. Wie bei einer tollen Villa, in der jemand lebt, der will nicht, dass die abfackelt oder einstürzt, aber Leute in termitenbefallenen Bretterverschlägen oder ich im Wohnzimmer, das nach Vinylchlorid und modernder Zersetzung stinkt und von dem aus ich in Fenster sehen kann, hinter denen Duftkerzen für achtzig Euro aufflackern, Sandelholz, Leder, Honig, Kräuter, wir konnten nur Zerstörung wollen, oder uns zumindest heimlich danach sehnen. Du musst nicht hungern, um dir eine gewaltvolle Umwälzung der Verhältnisse herbeizuwünschen, du musst dich langweilen. Klanglos vor dich hin versanden und ahnen, dass diese Welt dich nicht nötig hat.“

Diese Zeilen sind nicht nur treffend für die dystopische Zukunftsvision, die Helene Hegemann in Bungalow entwirft. Sie fangen ebenso gut den aktuellen Zeitgeist ein, in dem die Wut der Abgehängten – oder jenen, die sich als solche empfinden – sowohl hierzulande als auch weltweit eine immer größere Wucht entwickelt. Trotz vieler starker Momente gerade in der zweiten Hälfte fehlt Bungalow etwa die kompositorische Klasse und inhaltliche Tiefe von Franziska Hausers Die Gewitterschwimmererin, das definitiv einen Platz auf der Shortlist verdient gehabt hätte. Nichtsdestotrotz hinterlässt Helene Hegemanns dritter Roman einen bleibenden Eindruck – und die Erkenntnis, dass es sich lohnt, seine Scheuklappen hin und wieder abzulegen.Buchpreisblogger_Banner1500x500


Helene Hegemann: Bungalow. Erschienen bei Hanser Berlin, 288 Seiten.

Drei Bücher von… Hanser

3 Bücher... von HanserSinn und Zweck dieser Rubrik ist ja eigentlich, drei Bücher vorzustellen, die, so unterschiedlich sie vielleicht auch sein mögen, ein bestimmtes Thema miteinander verbindet. Dieser Beitrag ist nun die Ausnahme zur Bestätigung der Regel. Die folgenden Bücher haben nämlich kaum Gemeinsamkeiten – außer dass sie in den Hanser Literaturverlagen erschienen sind. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch: Sie sind aller Wahrscheinlichkeit nach gut. Es gibt sie nämlich noch, die Verlage, denen man als Leser mit einem gewissen Grundvertrauen begegnen kann, Verlage, die trotz der Vielfalt ihres Programms zumeist ein klares Profil haben und die sich nicht nur als Wirtschaftsunternehmen, sondern auch als Kuratoren, als Literaturvermittler verstehen. Eben Verlage wie Suhrkamp, wie die Frankfurter Verlagsanstalt, wie: Hanser.

Natürlich spielt da als Leser neben dem Literaturgeschmack ein Stück weit auch Sympathie eine Rolle, vor allem für diejenigen, die dem Verlag ein Gesicht geben. Im Fall von Hanser muss man dazu zwar nicht unbedingt die kuriosen und manchmal wahnsinnig komischen Alltagsskizzen des Verlegers Jo Lendle auf Facebook verfolgen. Aber es hilft. Und wer – Fun Fact – schon mal ein Pixi geschrieben hat, kann ohnehin kein schlechter Mensch sein. Auch Lektor Florian Kessler ist jemand, dem man die Leidenschaft für Literatur, aber auch seine Haltung jederzeit abkauft, egal, ob er als Helfer vor Ort über die Zustände in einem griechischen Flüchtlingslager schreibt oder ganz unprätentiös Thekendienst beim Prosanova-Festival schiebt. Es sind eben nicht nur die Bücher, die einen Verlag ausmachen, sondern genauso die Menschen, die sich für sie stark machen – angefangen bei der Presse-Betreuung durch liebgewonnene Menschen wie Frauke Vollmer, die uns Bloggern stets mit Respekt und Freundschaft begegnet. Aber am Ende ist ein Verlag natürlich trotzdem nur so gut wie seine Bücher – und um die soll es nun auch gehen.

Anja Kampmann – Wie hoch die Wasser steigen

Auf der Suche nach einem süffigen Buch für den Strand, einer leichten, lebensfrohen Urlaubslektüre? Dann gehen Sie bitte weiter, hier gibt es nichts zu sehen. Anja Kampmanns Prosadebüt ist womöglich der schwermütigste Roman, den ich seit Rolf Lapperts großartigem Über den Winter (ebenfalls Hanser) gelesen habe. Ein Buch, das sich Zeit lässt, das träge und schwer dahinfließt wie das Öl, das Protagonist Waclaw auf Bohrinseln fördert, bis sein bester Freund im Meer ertrinkt. Und das genauso wertvoll ist. Nach dem Tod von Mátyás reist Waclaw zunächst mit dessen letzten Habseligkeiten, später dann mit einer Brieftaube durch halb Europa und nimmt dabei nicht nur Abschied von seinem Freund, sondern auch von einem Leben, das ihn über viele Jahre hart und illusionslos werden ließ. Nach Stationen ihrer früheren Landgänge sucht Waclaw schließlich Anknüpfungspunkte an seine Vergangenheit im Ruhrpott und die Menschen, die er dort einst zurückließ – allen voran Milena, die Liebe seines Lebens.

Vor ihrem ersten Roman hat sich Anja Kampmann in erster Linie als Lyrikerin einen Namen gemacht, dementsprechend lebt Wie hoch die Wasser steigen vor allem von seiner Sprache und der dichten, schwermütigen Atmosphäre. Ein Pageturner, ein Buch zum-einfach-Weglesen ist Kampmanns Roman nicht: Ich habe länger als sonst für die Lektüre gebraucht, musste immer wieder innehalten, um Stellen laut zu lesen, gelegentlich sogar Pausen einlegen. Die Tristesse und das langsame Erzähltempo sind nichts für zwischendurch, der Roman braucht Konzentration und manchmal auch den Willen, sich auf seine Melancholie einzulassen – umso größer wird dann aber der Sog, wenn man sich von der Stimmung erst anstecken lässt. Keine leichte Lektüre also, literarisch aber in jedem Fall ein Schwergewicht.

Leander Steinkopf – Stadt der Feen und Wünsche

Während Kampmanns Waclaw haltlos durch halb Europa reist, treibt es den Ich-Erzähler aus Leander Steinkopfs langer Erzählung Stadt der Feen und Wünsche bloß kreuz und quer durch Berlin. Weil er es mit sich alleine in der Wohnung nicht aushalten kann, seine eigene Gegenwart nicht erträgt, spaziert er drei Tage lang als Flaneur die Kieze ab und beobachtet weitestgehend teilnahmslos das Treiben der Menschen. Anders als Waclaw hat er keinen Verlust zu verarbeiten. Denn: Da war nie was. Da ist nur Leere. Er lebt ohne Sinn in den Tag hinein, ohne Aufgabe oder Verbindlichkeit. Natürlich gibt es Menschen in seinem Leben, da sind Freunde und zwei Frauen, Judith und Hanna, da ist sein alter Schulfreund Moritz, der ihn aus der Provinz besuchen kommt, da ist die Kellnerin, in die er sich verguckt hat. Aber nichts und niemand füllt – oder fühlt – die Leere in ihm. Das klingt jedoch tragischer als Steinkopfs Erzählung eigentlich ist: Stadt der Feen und Wünsche ist eine amüsante Lektüre, ein Gesellschafts-, Stadt- und Zeitgeistportrait voll kluger Beobachtungen und satirischer Spitzen. Ohne sich in Klischees zu verzetteln, lässt der Autor seine Figur die zuweilen zur Pose verkommenen Eigenheiten Berlins und seiner Bewohner einordnen und kommentieren. Ein Anti-Berlin-Buch ist es deshalb noch lange nicht geworden, im Gegenteil: Vielmehr wollte Steinkopf, wie er im Interview auf novellieren.com erzählte, ein Gefühl einfangen, das er mit Berlin verbindet – irgendwo zwischen süßer Sehnsucht und beschwingter Vergänglichkeit. Und das klingt dann schon fast wieder wie eine Liebeserklärung.

Colson Whitehead – Underground Railroad

Über diesen Roman ist bereits eine Menge geschrieben worden. Und zwar zu Recht. Underground Railroad ist eines dieser seltenen Bücher, denen der Spagat zwischen E und U, der Spagat zwischen gesellschaftspolitischem Gewicht und Spannungsliteratur für ein breites Publikum gelingt. Denn natürlich ist es zunächst einmal eine hollywoodreife Geschichte, wie den Sklaven Cora und Caesar die Flucht von der Baumwollfarm im amerikanischen Georgia gelingt, während ihnen ein Kopfgeldjäger quer durch die USA auf den Fersen bleibt. Und dann ist da natürlich das Alleinstellungsmerkmal, nämlich Colson Whiteheads geniale Idee, das historische Netzwerk Underground Railroad einfach wörtlich zu nehmen und die Figuren mit einem Hauch von erzählerischer Phantastik tatsächlich in unterirdischen Zügen fliehen zu lassen. Aber das Entscheidende ist etwas anderes: Angesichts eines Rassisten im Oval Office und Ereignissen wie jüngst in Charlottesville wird immer wieder deutlich, wie wenig sich in den Köpfen der Menschen seit dem Ende der Sklaverei getan hat. Noch immer wird in den USA die eigene unrühmliche Geschichte zu wenig thematisiert, noch immer ist Rassismus für viele Menschen Teil des Alltags. Allein das macht Underground Railroad trotz manch erzählerischer Schwäche zu einem wichtigen, weil leider noch immer erschreckend aktuellen Buch.


Anja Kampmann: Wie hoch die Wasser steigen, 352 Seiten. // Leander Steinkopf: Stadt der Feen und Wünsche, 112 Seiten. // Colson Whitehead: Underground Railroad, 352 Seiten. // Ebenfalls in den Hanser Literaturverlagen erschienen und von mir besprochen: Über den Winter von Rolf Lappert, Das Floß der Medusa von Franzobel & Die Terranauten von T.C. Boyle. In Zukunft dürften noch einige Romane dazukommen – gerade erst habe ich mir vorgenommen, anlässlich des Todes von Philip Roth eine klaffende Bildungslücke zu schließen…

Drei Bücher über… Liebe

Drei Bücher über... LiebeSchon länger habe ich mit dem Gedanken gespielt, eine neue Rubrik auf meinem Blog einzuführen, in der ich Bücher, anstatt wie sonst in die Tiefe zu gehen, in aller Kürze bespreche. In unregelmäßigen Abständen stelle ich deshalb bei Drei Bücher über… fortan jeweils drei Titel zu einem bestimmten Oberthema vor, ganz gleich ob Roman oder Sachbuch, Backlist oder Bestseller, kanonisch oder obskur – eine schöne Gelegenheit, mal über Bücher zu schreiben, die nicht gerade zwingend in aller Munde sind. Und was lag da näher, als am Valentinstag mit der Liebe zu beginnen?


Stephan Porombka – Es ist Liebe

Früher war alles besser, sogar der Valentinstag. Man schrieb sich noch echte Liebesbriefe anstelle von Chatnachrichten. Und man schickte einander Blumen, keine Selfies. Natürlich ist das Quatsch: In der Generation Smartphone lieben wir nicht schlechter, sondern nur anders. Mit Verve fordert uns Social Media-Künstler und Professor Stephan Porompka in Es ist Liebe deshalb zu einer neuen romantischen Revolution auf. Ein Essay ist der schmale Band nicht – eher eine Flugschrift, wie Hanser es nennt. Porompka wägt nicht das Für und Wider digitaler Kommunikation ab, sondern will uns vielmehr dazu aufmuntern, neugierig und aufgeschlossen zu bleiben, uns auszuprobieren und neu zu erfinden – ein Zurück gibt es schließlich genauso wenig wie damals nach Gutenberg. Was die neuen Kommunikationsformen aus und zwischen uns machen, bleibt – der Textform geschuldet – manchmal etwas verkürzt und absichtlich plakativ, ist in seinem Optimismus aber durchaus ansteckend.

Sarah Berger – Match Deleted

Die Tinder Shorts von Sarah Berger zeigen dagegen die Kehrseite der digitalen Revolution. In den 137 semi-fiktiven Miniaturen und Chatprotokollen von Match Deleted entlarvt sie die moderne Datingkultur als permanente Selbstspiegelung, dank der Nähe und Verbindlichkeit zum Sonderfall werden. An die Stelle von echter Kommunikation, von wahrhaftigem oder wenigstens scheinbarem zwischenmenschlichen Austausch tritt ein fortdauerndes Selbstgespräch auf beiden Seiten. Man redet aneinander vorbei und dabei eigentlich eh nur über sich selbst. Am besten funktionieren die Tinder Shorts da, wo Berger ihre erfundenen Chatpartner, die eigentlich nur auf ein unverbindliches Sextreffen aus sind, mit echten Emotionen und Geständnissen irritiert – und damit die ungeschriebenen Regeln oberflächlicher Dating-Kommunikation bricht. Das ist mal lustig, mal deprimierend – und stellenweise auch anstrengend. Also wie das echte Leben, das wir aus unseren gestylten Online-Profilen sonst so gerne ausklammern.

Isabelle Autissier – Herz auf Eis

Aber was passiert eigentlich mit der Liebe, wenn zwei Menschen ganz auf sich zurückgeworfen sind, abgeschnitten von der Außenwelt und jeder Kommunikationsmöglichkeit? In ihrem kompromisslosen und eindringlichen Roman Herz auf Eis setzt Isabelle Autissier das junge Pariser Paar Louise und Ludovic einer absoluten Extremsituation aus – und seziert dabei den Zerfall ihrer Liebe im Kampf ums nackte Überleben. Ein Jahr lang wollten sie zu zweit die Welt umsegeln und gemeinsam die Freiheit des Lebens genießen. Nach einem Schiffbruch vor einer Insel bei Kap Hoorn sehen sie nun stattdessen mit jedem Tag, den sie dort gestrandet sind, mehr dem Tod ins Auge. Keine Spur von Robinson-Romantik und billiger Blaue Lagune-Erotik: Anstelle von Kokosnüssen und Palmen erwarten sie auf der Insel nichts weiter als eine seit Jahrzehnten verlassene Walfangstation und eine strengere Kälte, als sie ertragen können. Um zu überleben, müssen sie regelmäßig Pinguine zu Dutzenden erschlagen oder Dosen öffnen, die seit 50 Jahren abgelaufen ist. Von dem, was sie im behüteten Paris einst darstellten, bleibt nur noch die Erinnerung: Was bringt es etwa, daheim ein erfolgreicher Werber zu sein, wenn man ohne all die Erleichterungen der Zivilisation plötzlich nicht mehr überlebensfähig ist? Nicht nur die alltäglichen Strapazen und der Hunger werden für Louise und Ludovic zu einer Belastung. Auch die gegenseitigen Schuldzuweisungen und unterschiedlichen Vorstellungen dessen, was zu tun ist, treiben das Paar immer weiter auseinander. Als Ludovic erkrankt und täglich schwächer wird, wird Louise auf eine harte Probe gestellt. Was ist stärker – ihre Liebe oder der pure Überlebensinstinkt? Beziehungsstatus: Es ist kompliziert.


Stephan Porombka: Es ist Liebe. Erschienen bei Hanser, 176 Seiten. // Sarah Berger: Match Deleted. Erschienen bei Frohmann, 160 Seiten. // Isabelle Autissier: Herz auf Eis. Aus dem Französischen von Kirsten Gleinig. Erschienen bei Mare, 224 Seiten. // Die Texte zu „Es ist Liebe“ und „Match Deleted“ sind in kürzerer Form bereits in der Februarausgabe des Stuttgarter Stadtmagazins LIFT erschienen.

Störfall Mensch. Über „Die Terranauten“ von T.C. Boyle

TC Bolye - Die TerranautenEine Forschergruppe lässt sich für zwei Jahre in ein riesiges Terrarium einschließen, um zukünftige Raummissionen zu simulieren – und die ganze Welt schaut zu. In seinem Roman Die Terranauten seziert T.C. Boyle genüsslich menschliche Schwächen und eine Gesellschaft, in der ein Leben außerhalb des Rampenlichts zwar möglich, aber sinnlos ist.

Nichts rein, nichts raus: Im zweiten Versuch soll es endlich klappen. Schon einmal ließen sich acht Terranauten in die Ecosphäre 2 einschließen, um unter den Augen der Weltöffentlichkeit autark zu überleben. Unter der gigantischen Glaskuppel sollten sie zwei Jahre lang ihr eigenes Essen anbauen, Nutztiere umsorgen und die Ökosysteme gleich mehrerer Klimazonen aufrechterhalten. Eine Verletzung, die sie zwang, die Schleusen zu öffnen, war nur der erste von vielen Zwischenfällen, die dem Projekt die Glaubwürdigkeit raubten. Dabei hat der Visionär Jeremiah Reed, den alle nur GV („Gottvater“) nennen, noch Großes mit E2 vor: Gleich hundert Jahre sollen die wechselnden Teams die zweite Erde behausen und damit den Weg für die Besiedelung des Weltraums ebnen. Entsprechend groß ist der Ehrgeiz der neuen Anwärter, ihre Konkurrenten um den Einzug auszustechen – schließlich würden sie dadurch nicht nur zu Pionieren, sondern auch zu Stars. Im Kampf um die begehrten Plätze versucht jeder, auf seinem Feld unersetzlich zu werden. Am Ende machen nur Nuancen den Unterschied: gutes Aussehen zum Beispiel. Denn damit der Geldstrom für das Projekt nicht abreißt, braucht es Öffentlichkeit. Der wissenschaftliche Gewinn von Ecosphäre 2 mag fraglich sein, in Sachen PR leistet das Team von Mission Control jedoch Jahre vor der ersten Big Brother-Staffel wahre Pionierarbeit.

Einen kleinen Schritt für die Menschheit, aber einen großen für ihr Ego machen unter anderem der Frauenheld Ramsay und die hübsche Dawn. Deren unattraktivere Freundin Linda hat dagegen das Nachsehen und betrachtet das Geschehen mit zunehmender Verbitterung von außen. Aus diesen drei Perspektiven erzählt T.C. Boyle vom Einschluss der Terranauten und spinnt die Geschichte des realen Biosphäre-2-Experiments, das Anfang der Neunziger in den USA durchgeführt wurde, satirisch überspitzt weiter. Boyle nimmt sich viel Zeit für seine Versuchsanordnung, bringt seine Figuren in Stellung wie Schachfiguren. Schon früh stellt die Aufrechterhaltung der empfindsamen Ökosysteme die acht Terranauten vor Probleme. Noch schwieriger ist es allerdings, den Zusammenhalt der Gruppe zu wahren. Wie unter einer Lupe seziert Boyle die menschlichen Schwächen seiner Figuren und die Gruppendynamiken, die aus Hunger und Lust, Langeweile und Einsamkeit, Eitelkeiten und Neid entstehen. Trotz unzähliger Parameter, die für Ecosphäre 2 bedacht wurden, bleibt der Faktor Mensch eine unberechenbare Größe. Nichts rein, nichts raus: Das gilt zwar für den Sauerstoff unter der Kuppel, nicht aber für den Informationsfluss zwischen beiden Welten. Interventionen von „Gottvater“ Jeremiah und Intrigen seitens der neidischen Linda vergiften zusätzlich die Atmosphäre. Spätestens als sich Dawn und Ramsay ineinander verlieben und noch in E2 ein Kind erwarten, steht nicht nur das fragile Gleichgewicht in der Gruppe, sondern auch gleich das ganze Projekt auf der Kippe.

Boyle entlarvt das Projekt als wissenschaftlichen Größenwahn mit Zügen einer New-Age-Sekte und seine Figuren als Egozentriker, für die ein Leben außerhalb des Rampenlichts zwar möglich, aber sinnlos ist. Die Terranauten ist ein echter Pageturner – und beweist einmal mehr, dass T.C. Boyle einer der begnadetsten Gesellschaftssatiriker und gnadenlosesten Menschenkenner unserer Zeit ist.


T. C. Boyle: Die Terranauten. 608 Seiten. Erschienen beim Hanser Verlag und als Lizenzausgabe bei der Büchergilde. Dieser Text wurde bereits im aktuellen Magazin der Büchergilde veröffentlicht, das hier kostenlos zum Download bereitsteht.

Menschen sind so. Über „Das Floß der Medusa“ von Franzobel

floß der medusaEin Schiffbruch zwischen Afrika und Europa – inzwischen ist das ja kaum noch eine Meldung wert. Fast täglich sterben Menschen auf dem Mittelmeer, ertrinken Frauen, Kinder, Männer bei der verzweifelten Flucht vor Elend und Krieg. Wir haben uns an die Bilder der Toten vor unseren Küsten längst gewöhnt und gelernt, wegzuschauen. Menschen sind so. Auch damals, im Sommer 1816, wollte zunächst niemand etwas vom Unglück der Medusa wissen. Zu ungeheuerlich und furchtbar waren die Ereignisse, die sich infolge des Schiffbruchs vor Afrika zugetragen hatten. Schließlich kam die Katastrophe der französischen Fregatte aber doch ans Licht – und wurde zum Skandal: aufgrund des unfähigen Kapitäns, der seine Position bloß einer treuen royalen Gesinnung verdankte und der, anstatt auf die Warnungen seiner Offiziere zu hören, lieber einem Hochstapler vertraute. Aufgrund der Rettungsboote, von denen es zu wenige gab und die dann nicht einmal voll besetzt waren. Vor allem aber aufgrund des Floßes, das eilig aus Schiffsteilen zusammengebaut worden war und zur grausamen Todesfalle für hundertsiebenundvierzig, vom Kapitän im Stich gelassene Menschen wurde. Nach fast zwei Wochen auf dem offenen Meer lebten nur noch fünfzehn von ihnen – und die waren in ihrer Not zu Kannibalen geworden.

Ein historischer Zerrspiegel aktueller Katastrophen…

Zweihundert Jahre später wirken die Ereignisse vor der westafrikanischen Küste wie ein Zerrspiegel der aktuellen humanitären Katastrophe auf dem Mittelmeer. Die Toten der Medusa waren keine Flüchtlinge, sondern französische Kolonisten auf dem Weg nach Senegal, darunter der zukünftige Gouverneur sowie Dutzende Soldaten zur Aufrechterhaltung der dortigen Machtverhältnisse. Die Hierarchie blieb auch in der Katastrophe bestehen, auf dem Floß wurden hauptsächlich Soldaten und Seeleute zurückgelassen. Was damals für politischen Zündstoff sorgte – mit der Restauration war gerade erst die alte Ordnung nach der französischen Revolution wiederhergestellt worden – hat als menschliche Tragödie bis heute nichts an Aktualität eingebüßt. Der Vorfall inspirierte deshalb nicht nur zu dem berühmten Gemälde aus dem Jahr 1819, das heute im Louvre hängt, sondern auch zu einer zeitgemäßen Interpretation von Streetart-Künstler Banksy.

…und ein Abenteuerroman

Andere Autoren hätten aus diesem Stoff einen schweren, einen düsteren und belehrenden Roman gemacht. Nicht so der Österreicher mit dem ungewöhnlichen Künstlernamen Franzobel: Das Floß der Medusa kommt ohne erhobene Zeigefinger aus – mit Ausnahme vielleicht jener, die von ausgehungerten Figuren abgenagt werden. Denn trotz genauer Recherche überzeugt Franzobel vor allem als Fabulierer, dem es gelingt, eine grausame Geschichte über das, was Menschen bereit sind, für ihr Überleben zu tun, überraschend unterhaltsam zu erzählen. Tatsächlich liest sich Das Floß der Medusa über weite Strecken wie ein Abenteuerroman, der zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises steht. Mit beinahe spöttischem Humor folgt Franzobel dem Schicksal der Schiffbrüchigen und entwirft dabei Figuren, die mal an einen Dickens-Roman, mal an Fluch der Karibik, mal an politische Satire erinnern. Ein cleveres Vorgehen: Ohne Überzeichnung und Komik wären die Ereignisse auf dem Floß vermutlich nur schwer zu ertragen. So ist Franzobel jedoch ein echter Pageturner gelungen, der bestens unterhält, die Frage nach dem Preis von Menschlichkeit im Angesicht des Todes aber dennoch in aller Ernsthaftigkeit stellt. Anders als bei Wassermusik von T.C. Boyle – der Roman, an den ich mich beim Lesen am meisten erinnert fühlte – hat sich Franzobel bei Das Floß der Medusa weitestgehend an den realen historischen Ereignissen orientiert. Die Wikipedia-Recherche gleich nach der Lektüre lässt den Roman deshalb umso stärker nachwirken. An manchen Stellen liest er sich vielleicht wie eine grausame Farce, im Kern ist er jedoch wahr: Menschen sind so – und zwar damals wie heute.

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Franzobel: Das Floß der Medusa. Erschienen bei Zsolnay, 592 Seiten. Der echte Erfahrungsbericht von den Überlebenden Savigny und Corréard erscheint übrigens demnächst in einer Neuauflage bei Matthes & Seitz.