Big Brother

Störfall Mensch. Über „Die Terranauten“ von T.C. Boyle

TC Bolye - Die TerranautenEine Forschergruppe lässt sich für zwei Jahre in ein riesiges Terrarium einschließen, um zukünftige Raummissionen zu simulieren – und die ganze Welt schaut zu. In seinem Roman Die Terranauten seziert T.C. Boyle genüsslich menschliche Schwächen und eine Gesellschaft, in der ein Leben außerhalb des Rampenlichts zwar möglich, aber sinnlos ist.

Nichts rein, nichts raus: Im zweiten Versuch soll es endlich klappen. Schon einmal ließen sich acht Terranauten in die Ecosphäre 2 einschließen, um unter den Augen der Weltöffentlichkeit autark zu überleben. Unter der gigantischen Glaskuppel sollten sie zwei Jahre lang ihr eigenes Essen anbauen, Nutztiere umsorgen und die Ökosysteme gleich mehrerer Klimazonen aufrechterhalten. Eine Verletzung, die sie zwang, die Schleusen zu öffnen, war nur der erste von vielen Zwischenfällen, die dem Projekt die Glaubwürdigkeit raubten. Dabei hat der Visionär Jeremiah Reed, den alle nur GV („Gottvater“) nennen, noch Großes mit E2 vor: Gleich hundert Jahre sollen die wechselnden Teams die zweite Erde behausen und damit den Weg für die Besiedelung des Weltraums ebnen. Entsprechend groß ist der Ehrgeiz der neuen Anwärter, ihre Konkurrenten um den Einzug auszustechen – schließlich würden sie dadurch nicht nur zu Pionieren, sondern auch zu Stars. Im Kampf um die begehrten Plätze versucht jeder, auf seinem Feld unersetzlich zu werden. Am Ende machen nur Nuancen den Unterschied: gutes Aussehen zum Beispiel. Denn damit der Geldstrom für das Projekt nicht abreißt, braucht es Öffentlichkeit. Der wissenschaftliche Gewinn von Ecosphäre 2 mag fraglich sein, in Sachen PR leistet das Team von Mission Control jedoch Jahre vor der ersten Big Brother-Staffel wahre Pionierarbeit.

Einen kleinen Schritt für die Menschheit, aber einen großen für ihr Ego machen unter anderem der Frauenheld Ramsay und die hübsche Dawn. Deren unattraktivere Freundin Linda hat dagegen das Nachsehen und betrachtet das Geschehen mit zunehmender Verbitterung von außen. Aus diesen drei Perspektiven erzählt T.C. Boyle vom Einschluss der Terranauten und spinnt die Geschichte des realen Biosphäre-2-Experiments, das Anfang der Neunziger in den USA durchgeführt wurde, satirisch überspitzt weiter. Boyle nimmt sich viel Zeit für seine Versuchsanordnung, bringt seine Figuren in Stellung wie Schachfiguren. Schon früh stellt die Aufrechterhaltung der empfindsamen Ökosysteme die acht Terranauten vor Probleme. Noch schwieriger ist es allerdings, den Zusammenhalt der Gruppe zu wahren. Wie unter einer Lupe seziert Boyle die menschlichen Schwächen seiner Figuren und die Gruppendynamiken, die aus Hunger und Lust, Langeweile und Einsamkeit, Eitelkeiten und Neid entstehen. Trotz unzähliger Parameter, die für Ecosphäre 2 bedacht wurden, bleibt der Faktor Mensch eine unberechenbare Größe. Nichts rein, nichts raus: Das gilt zwar für den Sauerstoff unter der Kuppel, nicht aber für den Informationsfluss zwischen beiden Welten. Interventionen von „Gottvater“ Jeremiah und Intrigen seitens der neidischen Linda vergiften zusätzlich die Atmosphäre. Spätestens als sich Dawn und Ramsay ineinander verlieben und noch in E2 ein Kind erwarten, steht nicht nur das fragile Gleichgewicht in der Gruppe, sondern auch gleich das ganze Projekt auf der Kippe.

Boyle entlarvt das Projekt als wissenschaftlichen Größenwahn mit Zügen einer New-Age-Sekte und seine Figuren als Egozentriker, für die ein Leben außerhalb des Rampenlichts zwar möglich, aber sinnlos ist. Die Terranauten ist ein echter Pageturner – und beweist einmal mehr, dass T.C. Boyle einer der begnadetsten Gesellschaftssatiriker und gnadenlosesten Menschenkenner unserer Zeit ist.


T. C. Boyle: Die Terranauten. 608 Seiten. Erschienen beim Hanser Verlag und als Lizenzausgabe bei der Büchergilde. Dieser Text wurde bereits im aktuellen Magazin der Büchergilde veröffentlicht, das hier kostenlos zum Download bereitsteht.

Haltung zeigen, die Zweite. Eine Polemik.

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Was ist bloß aus dem Sommermärchen geworden? Im Jahr 2006 flitzte David Odonkor noch über den Fußballplatz, während sich Deutschland – fröhlich wimpelschwenkend – als weltoffenes und sympathisches Land präsentieren durfte, das sich sogar über einen dritten Platz freuen kann. Neun Jahre später muss sich Odonkor bei Big Brother im Keller behaupten. Und in Deutschland brennen wieder Flüchtlingsheime.

Eigentlich wollte ich nach meiner langen Sommerpause ja lieber etwas über Bücher schreiben – aber solange sie hierzulande nicht wieder verbrannt werden, besteht da als Literaturblogger (noch) keine Eile. Stattdessen ist es mir ein dringendes Bedürfnis, aufgrund der aktuellen Flüchtlingssituation abermals ein Thema aufzugreifen, mit dem ich mich bereits Anfang des Jahres anlässlich der Pegida-Bewegung auseinandergesetzt habe: Haltung zeigenWas in Heidenau und anderswo geschah, ist trauriger Höhepunkt einer Entwicklung, die sich seit Jahren abzeichnet; das gefährliche Spiel der AfD mit dem Stimmenfang am rechten Rand, die Märsche „besorgter Bürger“ in Dresden & Co. sowie die Pauschalablehnung etablierter Parteien und Medienorgane sind nur die auffälligsten Symptome einer erschreckenden gesellschaftlichen Entwicklung. Immer öfter entlädt sich die tiefsitzende Frustration einer lautstarken Minderheit in rechten Parolen (in mitunter bürgerlichem Gewand) und Gewalt. 

Ein Algorithmus der Verblendung

Eine Teilschuld daran trägt – und das behaupte ich nicht nur, weil ich mich auf den neuen Franzen vorbereiten will – ausgerechnet das demokratischste Medium von allen: das Internet. Was früher unter vorgehaltener Hand am Stammtisch propagiert wurde, findet heute nicht nur via Troll-Express seinen Weg in die Kommentarspalten von Presseartikeln, sondern dank Facebook & Co. auch eine breite Öffentlichkeit. Rechte Idioten haben schon früher in der Regel keine Zeitung gelesen; gefährlicher sind heute dagegen diejenigen, die auf die Lügenpresse schimpfen und sich ihre fertige Meinung stattdessen von vermeintlich unabhängigen Medien bestätigen lassen. Anstatt ihr Denken in Frage zu stellen, schustern sie sich in Sozialen Netzwerken und Onlineforen tendenziöse und teils verschwörungstheoretische Artikel zu, mit denen sie sich gegenseitig ihr Weltbild legitimieren. Gefährlich ist dabei vor allem das immer stärker ausgeprägte Sendungsbewusstsein: Aus Das wird man doch noch sagen dürfen! ist inzwischen längst ein Das muss endlich mal gesagt werden! geworden.

Fängt man an, sich in diese Kreise einzulesen, findet man innerhalb kürzester Zeit Gruppen, die jede noch so krude Theorie propagieren – fast fühlt man sich an einen Amazon-Algorithmus erinnert: Ihnen gefiel Pegida? Dann missfällt Ihnen bestimmt auch die Tatsache, dass Deutschland kein souveräner Staat, sondern bloß eine GmbH ist! Kunden, die sich nach „9/11-Verschwörung“ umgesehen haben, interessierten sich auch für „Ausschwitz-Lüge“ und den neuesten Aufsatz von Eva Herman. Es ist ein Algorithmus der Verblendung: Wer glaubt, dass die Flüchtlinge in einem groß angelegten Plan unsere christliche Wertegemeinschaft unterwandern wollen, der hält vielleicht auch Wladimir Putin für einen lupenreinen Demokraten oder Barack Hussein Obama für einen kriegstreiberischen Undercover-Moslem mit gefälschtem Pass. Natürlich werfe ich hier polemisch die unterschiedlichsten Themen und Verirrungen in einen Topf – aber sie alle spiegeln ein Stimmungsbild, eine Frustration wider, die die Ereignisse der letzten Wochen überhaupt erst möglich gemacht haben. (mehr …)