Haltung zeigen, die Zweite. Eine Polemik.

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Was ist bloß aus dem Sommermärchen geworden? Im Jahr 2006 flitzte David Odonkor noch über den Fußballplatz, während sich Deutschland – fröhlich wimpelschwenkend – als weltoffenes und sympathisches Land präsentieren durfte, das sich sogar über einen dritten Platz freuen kann. Neun Jahre später muss sich Odonkor bei Big Brother im Keller behaupten. Und in Deutschland brennen wieder Flüchtlingsheime.

Eigentlich wollte ich nach meiner langen Sommerpause ja lieber etwas über Bücher schreiben – aber solange sie hierzulande nicht wieder verbrannt werden, besteht da als Literaturblogger (noch) keine Eile. Stattdessen ist es mir ein dringendes Bedürfnis, aufgrund der aktuellen Flüchtlingssituation abermals ein Thema aufzugreifen, mit dem ich mich bereits Anfang des Jahres anlässlich der Pegida-Bewegung auseinandergesetzt habe: Haltung zeigenWas in Heidenau und anderswo geschah, ist trauriger Höhepunkt einer Entwicklung, die sich seit Jahren abzeichnet; das gefährliche Spiel der AfD mit dem Stimmenfang am rechten Rand, die Märsche „besorgter Bürger“ in Dresden & Co. sowie die Pauschalablehnung etablierter Parteien und Medienorgane sind nur die auffälligsten Symptome einer erschreckenden gesellschaftlichen Entwicklung. Immer öfter entlädt sich die tiefsitzende Frustration einer lautstarken Minderheit in rechten Parolen (in mitunter bürgerlichem Gewand) und Gewalt. 

Ein Algorithmus der Verblendung

Eine Teilschuld daran trägt – und das behaupte ich nicht nur, weil ich mich auf den neuen Franzen vorbereiten will – ausgerechnet das demokratischste Medium von allen: das Internet. Was früher unter vorgehaltener Hand am Stammtisch propagiert wurde, findet heute nicht nur via Troll-Express seinen Weg in die Kommentarspalten von Presseartikeln, sondern dank Facebook & Co. auch eine breite Öffentlichkeit. Rechte Idioten haben schon früher in der Regel keine Zeitung gelesen; gefährlicher sind heute dagegen diejenigen, die auf die Lügenpresse schimpfen und sich ihre fertige Meinung stattdessen von vermeintlich unabhängigen Medien bestätigen lassen. Anstatt ihr Denken in Frage zu stellen, schustern sie sich in Sozialen Netzwerken und Onlineforen tendenziöse und teils verschwörungstheoretische Artikel zu, mit denen sie sich gegenseitig ihr Weltbild legitimieren. Gefährlich ist dabei vor allem das immer stärker ausgeprägte Sendungsbewusstsein: Aus Das wird man doch noch sagen dürfen! ist inzwischen längst ein Das muss endlich mal gesagt werden! geworden.

Fängt man an, sich in diese Kreise einzulesen, findet man innerhalb kürzester Zeit Gruppen, die jede noch so krude Theorie propagieren – fast fühlt man sich an einen Amazon-Algorithmus erinnert: Ihnen gefiel Pegida? Dann missfällt Ihnen bestimmt auch die Tatsache, dass Deutschland kein souveräner Staat, sondern bloß eine GmbH ist! Kunden, die sich nach „9/11-Verschwörung“ umgesehen haben, interessierten sich auch für „Ausschwitz-Lüge“ und den neuesten Aufsatz von Eva Herman. Es ist ein Algorithmus der Verblendung: Wer glaubt, dass die Flüchtlinge in einem groß angelegten Plan unsere christliche Wertegemeinschaft unterwandern wollen, der hält vielleicht auch Wladimir Putin für einen lupenreinen Demokraten oder Barack Hussein Obama für einen kriegstreiberischen Undercover-Moslem mit gefälschtem Pass. Natürlich werfe ich hier polemisch die unterschiedlichsten Themen und Verirrungen in einen Topf – aber sie alle spiegeln ein Stimmungsbild, eine Frustration wider, die die Ereignisse der letzten Wochen überhaupt erst möglich gemacht haben.

Ein großer Vorteil von social media ist indes, dass man sich unter Gleichgesinnten schneller entlarvt: Wer glaubt, für eine gute, ja, für die richtige Sache zu kämpfen, nimmt online oft kein Blatt vor den Mund – selbst, wenn über diesem ein Bärtchen prangt. Man kann versuchen, diese Menschen zu verstehen. Aber: Belehren kann man sie nicht. Sie kennen ihre Wahrheit bereits. Was man allerdings in jedem Fall tun kann, ist: Haltung zeigen. Man muss nicht mit jedem Spinner diskutieren – hält mir jemand einen Vortrag über die Chemtrails-Verschwörung, kann ich mir meinen Teil denken, ohne gleich einen Regentanz aufzuführen. Doch wenn man mit jemandem spricht, der Putins Russland gegen den „kriegstreiberischen und gleichgeschalteten“ Westen verteidigt, darf man ihm gerne einmal die Pelzkappe vom Kopf ziehen und die Ohren waschen. Und wenn ein Victor Orbán in Ungarn verzweifelten Flüchtlingen – Menschen! – die dringend benötigte Hilfe verweigert, dann ist es eben an uns, die Gulaschkanonen aufzustellen und sie verdammt noch mal willkommen zu heißen.

Ein dringend benötigtes Sommermärchen

Denn: Die jüngste Welle der Solidarität in Deutschland ist in diesem Ausmaß eben auch nur dank des Internets möglich. Die vielen spontanen Initiativen, die während der letzten Wochen entstanden sind – darunter auch der Zusammenschluss Blogger für Flüchtlinge, der mittlerweile über 100.000 € an Spenden gesammelt hat – beweisen, wie viel sich durch die Vernetzung einiger weniger „Gutmenschen“ erreichen lässt. Ein Zeichen setzen auch viral verbreitete Ideen wie Aktion Arschloch oder die Appelle von Fernsehclowns, denen man solch klare Worte nicht zugetraut hätte.

Um den Bogen zum Anfang zu kriegen: Die Aussicht auf eine Zukunft ohne Krieg, Hunger und Verfolgung könnte ein Sommermärchen für viele Menschen sein, die ein Happy End sehr viel dringender nötig haben als Deutschland vor neun Jahren. Deshalb müssen wir Menschlichkeit noch lange nicht mit Naivität verwechseln: Die Realität wird sie und uns sicher früh genug einholen – über die politischen und wirtschaftlichen Folgen für Deutschland und Europa wird noch für Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte zu reden sein. Aber nicht jetzt. Jetzt müssen wir einzig und allein darüber reden, wie wir Menschen, die in Not sind, schnell und unkompliziert helfen können.

Ähnlich wie 2006 wird man sich an diesen deutschen Sommer noch lange erinnern. Sorgen wir dafür, dass 2015 nicht von den Bildern brennender Flüchtlingsheime geprägt wird, sondern von dem applaudierender Menschen am Münchner Hauptbahnhof. Inzwischen haben übrigens auch David Odonkor und seine Mitstreiter das Big Brother-Haus geräumt – Platz haben wir also genug. Gerne auch im Luxusbereich.


Anmerkung: Wie eingangs erwähnt, habe ich mich bereits im Januar sehr ausführlich und vor allem differenzierter (weil weniger polemisch) mit dem Thema „Haltung zeigen“ auseinandergesetzt. Zu dem Artikel geht es hier entlang.

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