Die Ärzte

Mische statt Wasserglas: Bela B. Felsenheimer in der Zugabe von lesen.hören 13

Bildschirmfoto 2019-04-29 um 23.05.12Eigentlich ging die 13. Ausgabe des Mannheimer Literaturfestivals lesen.hören bereits im März zu Ende, im April öffnete die Alte Feuerwache allerdings für eine Zugabe noch einmal ihre Pforten. Zugabe, das klingt ja vor allem nach einem Rockkonzert. Und genau danach sah die Menschenschlange rund um das Gebäude eine Stunde vor dem Auftritt von Bela B. Felsenheimer auch aus: In strömendem Regen warteten Hunderte auf Einlass, um den Ärzte-Star aus seinem Debütroman Scharnow lesen zu sehen – aufgrund des großen Andrangs ist es sogar bereits seine zweite Lesung an diesem Tag.

Dass die Deutschpunk-Ikone mit Hang zu Horrorfilmen und Trash eines Tages unter die Schriftsteller gehen würde, haben vermutlich nur die wenigsten erwartet. Eines überrascht an diesem Abend jedoch keinen: dass Felsenheimer viel zu sehr Rampensau ist, um eine gewöhnliche Wasserglaslesung zu geben. Als er im Bademantel auf die Bühne kommt, legt er zunächst eine Videokassette in einen alten VHS-Rekorder ein, dann beginnt eine Stimme aus dem Off, aus Schnarnow zu lesen, während sich Felsenheimer in aller Ruhe auf seinem Platz einrichtet. Auch sonst verlässt er sich, obwohl er durchaus vortragen kann, bei seiner Lesung nicht einfach nur auf seine Stimme und das Buch: Es kommen auch Animationen, Illustrationen, Bilder und – sehr zur Belustigung des Publikums – immer wieder Soundeffekte zum Einsatz. 

Drei Jahre von der Idee bis zum Buch

Felsenheimer selbst ist an diesem Abend, wie er sagt, in bester Laune – und man wird den Eindruck nicht los, dass er manchmal noch selbst ins Staunen gerät, wie gut er im Literaturbetrieb angenommen wird: „Ich begann diese Lesereise als völlig unerfahrener Bestsellerautor“, stellt er ironisch fest. Aber Felsenheimer gibt trotz aller Witze unumwunden zu, dass ihn der Erfolg seines Debüts stolz macht. Scharnow mag ein aberwitzig abstruses, blutiges und in Teilen absichtlich trashiges Buch sein, die Arbeit an ihm nahm Felsenheimer – anders, als man das von so manchem Promi-Autor vermuten würde – jedoch äußerst ernst. „Ich habe vor drei Jahren beschlossen, das Buch zu schreiben, ein Jahr damit gehadert und dann zwei Jahre mit Lektoren am Manuskript gearbeitet“, so Felsenheimer. Sein Verlagslektor habe sich zum Glück einigermaßen tapfer geschlagen – einmal habe er aber auch ein großes WTF?! an den Rand geschrieben.

Der Irrsinn von Scharnow mit seinen paranormalen, fantastischen Begebenheiten und 38 Protagonisten nebst einigen Tieren hat durchaus seinen Sinn, erklärt Felsenheimer: „Mir ging es darum, im Buch zwei Welten darzustellen – die fantastische und die profane Welt. Die Leute im Buch sind aber so sehr mit ihrem Alltag beschäftigt, dass sie das Fantastische nicht wahrnehmen.“ Bei seiner Lesung beschränkt sich Felsenheimer hauptsächlich auf einen Handlungsstrang um die vier Männer vom sogenannten „Pakt der Glücklichen“, die nackt einen Supermarkt ausrauben, um sich Alkohol zu beschaffen, und dabei eine blutige Kettenreaktion auslösen. Irgendwann stellt Felsenheimer eine Flasche Korn und Fanta auf den Tisch und gießt sechs Gläser „Mische“ zusammen, die er anschließend durchs Publikum reichen lässt. So viel zum Thema Wasserglaslesung.

Aber auch ohne Mische ist die Stimmung sowohl beim Publikum als auch beim Autor glänzend, es wird viel gelacht und geklatscht, immer mal wieder auch dazwischen gerufen. Felsenheimer selbst, der mehrfach abschweift und ins Reden kommt, hat sichtlich Spaß an seiner neuen Rolle. Die muss er an diesem Abend auch noch weit über die Lesung hinaus ausfüllen: Die anschließende Signierschlange erstreckt sich im großen Saal der Alten Feuerwache einmal ganz im Kreis. Und zwar mit Büchern in der Hand, nicht mit Ärzte-Alben.

Haltung zeigen, die Zweite. Eine Polemik.

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Was ist bloß aus dem Sommermärchen geworden? Im Jahr 2006 flitzte David Odonkor noch über den Fußballplatz, während sich Deutschland – fröhlich wimpelschwenkend – als weltoffenes und sympathisches Land präsentieren durfte, das sich sogar über einen dritten Platz freuen kann. Neun Jahre später muss sich Odonkor bei Big Brother im Keller behaupten. Und in Deutschland brennen wieder Flüchtlingsheime.

Eigentlich wollte ich nach meiner langen Sommerpause ja lieber etwas über Bücher schreiben – aber solange sie hierzulande nicht wieder verbrannt werden, besteht da als Literaturblogger (noch) keine Eile. Stattdessen ist es mir ein dringendes Bedürfnis, aufgrund der aktuellen Flüchtlingssituation abermals ein Thema aufzugreifen, mit dem ich mich bereits Anfang des Jahres anlässlich der Pegida-Bewegung auseinandergesetzt habe: Haltung zeigenWas in Heidenau und anderswo geschah, ist trauriger Höhepunkt einer Entwicklung, die sich seit Jahren abzeichnet; das gefährliche Spiel der AfD mit dem Stimmenfang am rechten Rand, die Märsche „besorgter Bürger“ in Dresden & Co. sowie die Pauschalablehnung etablierter Parteien und Medienorgane sind nur die auffälligsten Symptome einer erschreckenden gesellschaftlichen Entwicklung. Immer öfter entlädt sich die tiefsitzende Frustration einer lautstarken Minderheit in rechten Parolen (in mitunter bürgerlichem Gewand) und Gewalt. 

Ein Algorithmus der Verblendung

Eine Teilschuld daran trägt – und das behaupte ich nicht nur, weil ich mich auf den neuen Franzen vorbereiten will – ausgerechnet das demokratischste Medium von allen: das Internet. Was früher unter vorgehaltener Hand am Stammtisch propagiert wurde, findet heute nicht nur via Troll-Express seinen Weg in die Kommentarspalten von Presseartikeln, sondern dank Facebook & Co. auch eine breite Öffentlichkeit. Rechte Idioten haben schon früher in der Regel keine Zeitung gelesen; gefährlicher sind heute dagegen diejenigen, die auf die Lügenpresse schimpfen und sich ihre fertige Meinung stattdessen von vermeintlich unabhängigen Medien bestätigen lassen. Anstatt ihr Denken in Frage zu stellen, schustern sie sich in Sozialen Netzwerken und Onlineforen tendenziöse und teils verschwörungstheoretische Artikel zu, mit denen sie sich gegenseitig ihr Weltbild legitimieren. Gefährlich ist dabei vor allem das immer stärker ausgeprägte Sendungsbewusstsein: Aus Das wird man doch noch sagen dürfen! ist inzwischen längst ein Das muss endlich mal gesagt werden! geworden.

Fängt man an, sich in diese Kreise einzulesen, findet man innerhalb kürzester Zeit Gruppen, die jede noch so krude Theorie propagieren – fast fühlt man sich an einen Amazon-Algorithmus erinnert: Ihnen gefiel Pegida? Dann missfällt Ihnen bestimmt auch die Tatsache, dass Deutschland kein souveräner Staat, sondern bloß eine GmbH ist! Kunden, die sich nach „9/11-Verschwörung“ umgesehen haben, interessierten sich auch für „Ausschwitz-Lüge“ und den neuesten Aufsatz von Eva Herman. Es ist ein Algorithmus der Verblendung: Wer glaubt, dass die Flüchtlinge in einem groß angelegten Plan unsere christliche Wertegemeinschaft unterwandern wollen, der hält vielleicht auch Wladimir Putin für einen lupenreinen Demokraten oder Barack Hussein Obama für einen kriegstreiberischen Undercover-Moslem mit gefälschtem Pass. Natürlich werfe ich hier polemisch die unterschiedlichsten Themen und Verirrungen in einen Topf – aber sie alle spiegeln ein Stimmungsbild, eine Frustration wider, die die Ereignisse der letzten Wochen überhaupt erst möglich gemacht haben. (mehr …)