Vielleicht hatte Jakob Nolte ja nur einen merkwürdigen Traum, einen, der so präzise und verschroben war, dass er ihn unbedingt zu Papier bringen musste, ehe er ihn vergäße. Und dann ist das Ganze halt etwas ausgeufert. Womöglich wollte Nolte nach einem anstrengenden Tag abends einfach nur ein wenig abschalten. Mit einer Flasche Wein vielleicht. Oder einem Joint. Er las ein bisschen Wallace und ein paar Seiten Pynchon, aber schon bald wurden ihm die Augen schwer. Also fernsehen: eine Doku über politische Gewalt in den Siebzigern, über Protest und Terrorismus. Da waren Hippies und die RAF, da waren Olympia ’72 und Flugzeugentführungen und Kriege in Vietnam, Angola oder Afghanistan. Alles schrecklich und auch schrecklich interessant, klar. Aber schwerer Stoff, wenn man müde ist. Drum zappte Nolte schläfrig weiter und blieb bei einem Trashfilm hängen, irgendwas mit Werwölfen, Hexen und Parasiten, bei dem er schließlich wegdöste – und etwas träumte, das all dies zu einer so cleveren wie wahnwitzigen Geschichte verwob.
So könnte es gewesen sein mit Nolte und seinem Longlist-Titel Schreckliche Gewalten. Die Mischung der Themen, Genres und Stile, die sich darin tummeln – ja, selbst die Handlung – ist geradezu krude; dennoch folgt der Roman wie in einem Traum, der einem eben noch real erschien, seiner ganz eigenen, in sich schlüssigen Logik. Die Welt, in der Noltes Hauptfiguren Iselin und Edvard Honik leben, unterscheidet sich eigentlich kaum von der unsrigen, sieht man einmal von Ereignissen wie der Werwolf-Werdung ihrer eigenen Mutter ab, die daraufhin ihren geliebten Mann tötet. Oder von ihrem Risiko, sich ebenfalls eines Tages in ein anderes Lebewesen zu verwandeln, ein genetischer Fluch, der wie ein Schatten über ihren unterschiedlichen Lebenswegen schwebt. Zwar kommen auch Hexen im Roman vor, zwar ist von Parasiten die Rede, die sich anstelle eines Herzens in Menschen einnisten können, zwar gibt es sogar jemanden mit Doktor in Horrorgeschichte. Nichtsdestotrotz gelten diese Dinge auch in Schreckliche Gewalten als unerhört. Und die wahren Schrecken gab und gibt es sowohl in unserer als auch in Iselins und Edvards Welt. Genau wie ihre realen Zeitgenossen in den Siebzigern leben auch sie in einer hochpolitisierten Zeit und müssen sich mit der Aufarbeitung des Holocausts, Stellvertreterkriegen und aufkeimendem Terrorismus auseinandersetzen. Nach dem Zwischenfall mit ihrer Mutter trennen sich ihre Wege: Edvard bricht zu einer Reise gen Osten auf, ein fast hippiesker Selbstfindungstrip, der ihn bis nach Afghanistan führt, während sich Iselin nach ihrem Archäologiestudium zu einer erst feministischen, später dann verbrecherischen Terroristin entwickelt.
Jakob Nolte erzählt ihre Geschichte in abwechselnden, manchmal nur wenige Zeilen langen Abschnitten und schweift dabei immer wieder ab, widmet sich Details und Nebenfiguren oder geschichtlichen Exkursen, die mal versponnen und mal wahr, die manchmal albern, aber meistens interessant sind. Ob ihm jeder Leser dabei folgen kann oder will, scheint für Nolte keine Rolle zu spielen – wer sein Ohr ganz nah ans Buch hält, kann ihn womöglich sogar ganz leise am Schreibtisch kichern hören. Noltes postmodernes Spiel mit versandenden Versatzstücken, ironischen Brechungen und Infohäppchen wie Hyperlinks ist durchaus selbstverliebt und manchmal auch ermüdend. Zugleich ist es aber auch klug, amüsant – und vor allem erfrischend.
Schreckliche Gewalten ist die Sorte Roman, die so manche Buchhändler beim Anblick der Longlist vermutlich zu ratlosem Kopfschütteln veranlasst. Viel zu sperrig und schräg, um sich gut verkaufen zu lassen – ein typischer Feuilletontitel wie Frank Witzel vor zwei Jahren, den dann ja doch keiner liest. Ich sehe das anders: Wenn die Longlist des Deutschen Buchpreises die ganze Bandbreite anspruchsvoller deutschsprachiger Literatur abbilden soll, dann muss auf ihr auch Platz für ein Buch wie dieses sein. Für ein Buch, das sich nicht um Konventionen und Grenzen schert und das sperrig ist, ohne dabei zu vergessen, auch zu unterhalten. Schreckliche Gewalten ist sicher nichts für für die breite Masse. Aber es sticht aus einer solchen heraus. Es ist ein Gewinn für unsere Literaturlandschaft, dass die Jury des Deutschen Buchpreises die Arbeit und den Mut unabhängiger Verlage auch in diesem Jahr mit Aufmerksamkeit belohnt.
Jakob Nolte: Schreckliche Gewalten. Erschienen bei Matthes & Seitz, 340 Seiten. Auch mein Buchpreisbloggerkollege Sandro hat das Buch auf seinem Blog besprochen.