Ehe er starb, wollte Roger Willemsen unsere Gegenwart aus der Perspektive der Zukunft beleuchten. Seine Zukunftsrede ist deshalb zu seinem Vermächtnis geworden: eine scharfsinnige und weitsichtige Analyse unserer Zeit.
Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Hoffnungsvolle Utopien sind längst aus der Mode gekommen, haben Platz gemacht für Weltuntergangsszenarien und Kulturpessimismus. Anscheinend haben uns Trump, Brexit und eine AfD im Bundestag das letzte bisschen Optimismus ausgetrieben. Die jüngste große Zukunftsvision? Ein Reinfall mit böser Pointe: Hofften wir vor ein paar Jahren noch auf soziale Medien als Chance für die Demokratie, sehen wir nun hilflos dabei zu, wie ihnen stattdessen die Wahrheit zum Opfer fällt und sie ausgerechnet einem neuen Nationalismus Vorschub leisten. Aber auf eine Gewissheit ist Verlass: Früher war alles besser, schon immer.
„Wenn man es genau bedenkt, ist vom Anfang aller Tage an alles immer schlechter geworden. Luft und Wasser sowieso, dann die Manieren, die politischen Persönlichkeiten, der Zusammenhalt unter den Menschen, das Herrentennis und das Aroma der Tomaten.“
Vielleicht ist es genau dieser leicht spöttische, unaufgeregte Ton, der uns in dieser an vergifteten Debatten und Dauerkrisen übersättigten Zeit am meisten fehlt. Einer wie Roger Willemsen hätte uns mit seiner Klugheit und Geistesgegenwart ein wenig Orientierung geben können und dabei geholfen, die Themen unserer Gegenwart besser einzuordnen. Willemsen war einerseits ein intellektueller und präziser Beobachter der Gesellschaft, wurde im gleichen Maße aber auch für seine Neugier, seine Offenheit, seinen Witz geschätzt. Er konnte sich vortrefflich über die Welt und die Zeit, in der wir leben, amüsieren, war bei aller Ironie aber nie überheblich oder belehrend, sondern immer auch ein überzeugter Moralist und Menschenfreund.
Sein letztes Buch sollte Wer wir waren heißen und unsere Gegenwart aus der Perspektive der Zukunft betrachten – einer Zukunft, die der Autor selbst nicht mehr erleben durfte. Roger Willemsen starb 2016 an Krebs, das Buch hat er vor seinem Tod nicht mehr schreiben können. In seinen letzten Reden vor der Erkrankung jedoch hat Willemsen einige der zentralen Gedanken bereits vorgestellt. Die „Zukunftsrede“ aus dem Juli 2015, auf der dieses letzte Buch nun basiert, ist deshalb zu einem vielleicht nicht beabsichtigten, aber nicht unpassenden Vermächtnis geworden.
Wer wir waren ist ein melancholischer Blick auf die Flüchtigkeit unserer Gegenwart, die dank virtueller Nebenschauplätze immer zersplitterter, immer beschleunigter, immer simulierter wird. Wir leben im Zeitalter der ständigen Ablenkung und verlieren unseren Fokus im medialen Grundrauschen, sind trotz permanenter Selbstdarstellung in sozialen Netzwerken immer seltener tatsächlich anwesend. Viele der Themen und Phänomene, die drei Jahre nach seiner Rede unseren Alltag prägen, nimmt Willemsen bereits mit Scharfsinn und Weitsicht vorweg:
„Jedes Jahr dämmert ein neues Jahr 1984 und dann ein neues Jahr 2000, eine neuere Zukunftsformel haben wir noch nicht. Wir werden diese Zukunft aber auch daran erkennen, dass die Grenzen zwischen dem Original und der Simulation immer stärker verschwimmen.“
Trotz Willemsens kritischer Analyse unserer digitalen Welt ist Wer wir waren alles andere als ein kulturpessimistisches Pamphlet, sondern vielmehr ein Appell zu Aufmerksamkeit und Fokus, ein Appell dazu, innezuhalten und sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Vor allem eines wird nach der Lektüre seiner „Zukunftsrede“ deutlich: Vielleicht war früher nicht alles besser, die Welt aber ist ohne Roger Willemsens Scharfsinn und seinen Witz auf jeden Fall ein wenig ärmer.
Roger Willemsen: Wer wir waren. Erschienen bei S. Fischer sowie als Lizenzausgabe im aktuellen Programm der Büchergilde, 64 Seiten. Diese Besprechung erschien erstmals im Magazin der Büchergilde in Ausgabe 3/18 – hier entlang zum kostenlosen Download!