Element of crime

Schräge Vögel und Blender. Über „Wiener Straße“ von Sven Regener

Regener - Wiener StraßeMan kennt das. Da kehrt man nach langer Zeit in seine Heimatstadt zurück und trifft alte Freunde in der Kneipe wieder. Es folgt eine durchzechte Nacht, man freut sich, einander wiederzusehen und wärmt Anekdoten aus den guten alten Zeiten auf. Träfen sich Frank Lehmann, Karl Schmidt und Kneipenbesitzer Erwin heute wieder, sie sprächen vermutlich eher über die Ereignisse in Wiener Straße als über jene in Herr Lehmann – da ging ja schließlich alles schon so langsam den Bach hinunter. Lieber sprächen sie über damals, Anfang der Achtziger, als sie noch jung und unbeschwert waren. Über die Kneipen-WG mit Erwins Nichte Chrissie. Über Hausbesetzer und Künstler wie H.R. Ledigt, Kacki und P. Immel, die früher im Einfall ein- und ausgingen und mit ihren anarchischen Kunstaktionen für Chaos sorgten. Sie würden sich gegenseitig an skurrile Typen wie den redseligen Nachbarn Marko oder den verstockten neuen KOB erinnern, würden nachfragen, was denn wohl aus Chrissie und ihrer Mutter Kerstin geworden sei, würden den Eklat bei der Vernissage in eine brüllend komische Anekdote verpacken. Über später würden sie nicht sprechen. Nicht über Erwins Scheidung, aufgrund der er selbst die ehemalige WG-Wohnung in der Wiener Straße beziehen musste, nicht über Karl Schmidts Nervenzusammenbruch und seinen Entzug, nicht über Frank Lehmanns Entschluss nach dem Mauerfall, das alles hinter sich zu lassen und irgendwo neu anzufangen. Man kennt das: Trifft man alte Freunde wieder, spricht man eben lieber über die guten alten Zeiten als über die ernsten Themen des Lebens.

Unter Hausbesetzern und Künstlern

Ganz genauso liest sich Wiener Straße, Sven Regeners neuester Besuch im Kosmos rund um Frank Lehmann, der diesmal lediglich eine Nebenrolle spielen darf: leicht und witzig wie ein Abend mit alten Freunden, aber eben auch ein bisschen aufgewärmt und oberflächlich. Schon in Herr Lehmann ging es eigentlich um nichts – mit dem Unterschied, dass eben dieses Nichts für die Figuren auf dem Spiel stand. Trotz aller Komik schwang stets die Melancholie mit, dass Frank Lehmann und seine Freunde nach Jahren des In-den-Tag-Hineinlebens an einem Punkt angekommen waren, an dem Veränderungen unausweichlich wurden. In Wiener Straße stehen sie noch am Anfang ihrer gemeinsamen Zeit in Kreuzberg. Das Berlin Anfang der Achtziger ist dabei jedoch weit mehr als bloße Kulisse: Sven Regener fängt den Zeitgeist und die anarchische Kreativität der alternativen Kunstszene perfekt ein. Lernten wir Karl Schmidt in Herr Lehmann als gescheiterten Künstler kennen, der unter dem eigenen Erwartungsdruck zusammenbrach, ist hier das Gefühl von Freiheit und Aufbruch allgegenwärtig. Berlin ist noch ein Experimentierfeld für Kreative, Verrückte und Lebenskünstler, eine Stadt, in der alles möglich ist und jeder sein Publikum findet, selbst wenn manchmal mehr Schein als Sein dahintersteckt. Nicht bei allen Zugezogenen sitzt das Berlinerisch sicher, aus einem Sozialarbeiter kann schon mal ein Kurator werden und aus einem Hausbesitzer ein Hausbesetzer – Hauptsache, das Image stimmt.

Der gewohnte Regener-Sound

Das Zeitkolorit ist stimmig, auch die Figuren sind schräg und sympathisch, trotzdem liest sich Wiener Straße eher wie eine improvisierte B-Seite von Herr Lehmann. Der gewohnte Regener-Sound ist amüsant und kurzweilig, kippt ohne Erdung diesmal aber manchmal fast ins Klamaukige. Vor allem aber schreibt das Multitalent Sven Regener einen Roman wie diesen mit links – und zwar trompetespielend und mit einem im Kahn. Liest sich wie ein Verriss? Ist aber keiner. Ich habe Wiener Straße gerne gelesen und hatte meine Freude am Wiedersehen mit alten Bekannten. Auch halte ich es für richtig, in der Longlist mit leichteren, unterhaltsameren Titeln einen Kontrast zur feuilletonistischen Schwere zu setzen, die manche mit dem Deutschen Buchpreis gerne in Verbindung bringen. Wiener Straße ist ein amüsanter, kleiner Roman, der gar nicht erst versucht, der nächste große Herr Lehmann zu sein. Das macht ihn zwar grundsympathisch, allerdings zu keinem Kandidaten für die Shortlist. Wie das eben so ist mit alten Freunden, denen man nach langer Zeit mal wieder begegnet: Es ist schön, einander zu sehen – die wirklich bedeutsamen gemeinsamen Momente, die einen einst zusammenschweißten, liegen in Wahrheit aber schon lange zurück. Man kennt das.19396722_10158890121230578_7682669848055600835_n


Sven Regener: Wiener Straße. Erschienen bei Galiani Berlin, 296 Seiten. Weitere Besprechungen des Romans gibt es bei meinem Buchpreisbloggerkollegen Sandro Abbate sowie auf LiteraturReich zu lesen .