Rassismus

Ein Zerrbild weißer Machtstrukturen? Über „Identitti“ von Mithu Sanayl

Über kaum ein Thema wird derzeit so scharf diskutiert wie über Identitätspolitik. Mit ihrem ebenso bissigen wie lehrreichen Debütroman „Identitti“ über eine indische Star-Professorin, die als Weiße entlarvt wird, führt die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal sämtliche Debatten bravourös ad absurdum.

Ausgerechnet Saraswati! Nivedita ist erschüttert. Schließlich ist die charismatische Star-Professorin für Postcolonial Studies an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf weit mehr als nur ihre Mentorin. Sie ist auch das Rollenvorbild, nach dem sich die Studentin so lange gesehnt hat. Saraswati war es, die Nivedita endlich zeigte, wer sie sein kann – als Tochter eines Inders und einer Deutschen mit polnischen Wurzeln, die sich vorher nirgends wirklich zugehörig fühlte. Ihren scharfsichtigen Lehren verdankt Nivedita auch die Inspiration zu ihrem Blog Identitti, auf dem sie als Mixed-Race Wonder Woman mit der indischen Göttin Kali Gespräche über Sex, Rassismus und Identitätsfragen führt. Und nicht zuletzt war es Saraswati, die durch ihre Seminare, in denen sie prinzipiell keine weißen Studierenden duldet, viele People of Colour der Uni zu einer eingeschworenen Campus-Community zusammenschweißte. Ausgerechnet diese Frau steht nun weltweit als Betrügerin da. Denn in Wahrheit ist Saraswati weiß und wurde als die privilegierte Zahnarzttochter Sarah Vera Thielmann geboren. 

Ein Skandal, der auch Nivedita mit in den Shitstorm reißt: Anstatt sie wie ihre KommilitonInnen in sozialen Medien an den Pranger zu stellen, konfrontiert Nivedita ihre Mentorin – und zieht, als diese ihr klare Antworten schuldig bleibt, kurzerhand bei ihr ein. Schon bald findet sich Nivedita in einer absurden Diskurs-WG wieder. Es stoßen nicht nur ihre Cousine Priti und Saraswatis Lebensgefährtin hinzu, sondern auch derjenige, der die Entlarvung überhaupt erst ins Rollen brachte: Saraswatis Bruder. 

Erst nach und nach kommt ans Licht, was Sarah Vera dazu bewogen hat, zur selbsternannten transracial Saraswati zu werden. Während die halbe Netzwelt über kulturelle Aneignung und die Betrügerin als Zerrbild weißer, postkolonialer Machtstrukturen schimpft, wirft Saraswati die utopische Frage auf, ob race nicht ebenso eine gesellschaftlich konstruierte Zuschreibung ist wie das Geschlecht. Wo fängt Ausgrenzung an, wo hört sie auf? Nivedita treibt dagegen eine ganz andere Frage um: Hat all das identitätsstiftende Empowerment, das sie ihrem Idol verdankt, nun überhaupt noch einen Wert?

Was auf den ersten Blick nach einer fast grotesken Versuchsanordnung anmutet, um die scharfen Debatten über Identitätspolitik ad absurdum zu führen, hat tatsächlich reale Vorbilder. Bekannt geworden ist besonders der Skandal um die weiße US-Professorin Jessica Krug, die sich fälschlicherweise als Schwarze ausgab. Aber auch darüber hinaus gelingt der Autorin Mithu Sanyal in ihrem ersten Roman Identitti ein ebenso witziges wie kluges Spiel mit der Realität – angefangen bei den Parallelen zwischen Niveditas und ihrer eigenen Biografie bis hin zu den Einwürfen aus der Netzwelt, die den Fall Saraswati kommentieren. Immer wieder lässt Sanyal reale ExpertInnen aus der Forschung, AktivistInnen, JournalistInnen oder AutorInnen zu Wort kommen, und bleibt trotz echter Wortmeldungen bekannter Persönlichkeiten wie Ijoma Mangold, Fatma Aydemir oder Berit Glanz innerhalb ihrer Fiktion. An einer Stelle bricht die Realität dann doch mit voller Wucht in die Handlung ein: Die erschreckende Nachricht von den rassistischen Morden in Hanau trifft LeserInnen mit derselben Härte wie Nivedita und ihre FreundInnen.

Nach ihren hochgelobten Sachbüchern ist der Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal gleich mit dem ersten Roman ein wahres Kunststück gelungen: Einerseits temporeich und bissig, ist Identitti zugleich ein lehrreiches Buch über die Wichtigkeit, aber auch die Ambivalenz von Identitätspolitik – und das, ohne zu belehren. Wären die Grenzen zwischen Realität und Fiktion tatsächlich so fließend wie in diesem Roman, man würde der Figur Nivedita ein anderes Rollenvorbild wünschen. Mithu Sanyal zum Beispiel.

Mithu Sanyal: Identitti. 432 Seiten, erschienen bei Hanser und als Lizenzausgabe bei der Büchergilde. Diese Besprechung erschien bereits im aktuellen Magazin der Büchergilde.

 

Eine doppelte Hommage an James Baldwin bei lesen.hören 13

IMG_5264In den 50ern und 60ern galt James Baldwin als einer der wichtigsten Autoren der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, nicht selten wurde er aufgrund seiner Romane, Essays und bemerkenswerten Reden in einem Atemzug mit Malcom X, Medgar Evers oder Martin Luther King genannt, deren Ermordungen ihn nachhaltig verstörten. Dennoch geriet Baldwin nach seinem Tod 1987 besonders international beinahe in Vergessenheit. Das änderte sich spätestens im Zuge der Black Lives Matter-Bewegung 2013: Trotz aller Fortschritte seit dem Ende der Segregation ist Rassismus in den USA noch immer ein allgegenwärtiges Problem, zu wenig hat sich in den Köpfen der Menschen während der vergangenen Jahrzehnte geändert. Dass auf Barack Obama als erstem schwarzen Präsidenten ausgerechnet ein offener Rassist wie Donald Trump nachfolgte, macht die Schriften von James Baldwin, literatisch ohnehin von zeitloser Qualität, aktueller denn je.

Spätestens I’m not your negro, Raoul Pecks oscarnominierter Dokumentarfilm über James Baldwins Textfragment Geschichte der Schwarzen läutete 2017 die weltweite Renaissance des Schriftstellers ein – und bildete am Sonntag im vollbesetzten Atlantis Kino den Auftakt zu einer Hommage an den großen Literaten bei lesen.hören13. Unterlegt von der Stimme Samuel L. Jacksons überführt Peck Filmaufnahmen aus der Zeit der Bürgerrechtsbewegung sowie Interviews und Reden Baldwins in unsere Gegenwart und verstört dabei immer wieder mit Aufnahmen aktueller Polizeigewalt gegenüber Schwarzen. Ein Film, der manchmal nur schwer zu ertragen ist – und eben darum so wichtig.

„Die Botschaft war klar: Du bist nicht wichtig.“

Im zweiten Teil des Thementags wurde in der Alten Feuerwache über die Relevanz und Aktualität von James Baldwins Schriften in Deutschland diskutiert, wo sein Werk seit letztem Frühjahr – beginnend mit seinem Debütroman Von dieser Welt – in Neuübersetzungen bei dtv erscheint. Während der Schauspieler Mehmet Ateşçi vom Gorki Theater Berlin Stellen aus Baldwins Debüt und einigen Essays las, sprachen Mirjam Nuenning als Übersetzerin afrodiasporischer und Schwarzer Literatur sowie der Autor Max Czollek, der 2018 mit seinem Buch Desintegriert euch! einen viel beachteten Denkanstoß zur Debatte um Integration und Zugehörigkeit veröffentlichte, mit der Moderation Verena Lueken von der FAZ über die Gründe, warum uns James Baldwin auch hier und heute noch viel zu sagen hat. 

Den Abend eröffnete jedoch Baldwin selbst: mit einem eingespielten Auszug einer Rede vor schwarzen Schulkindern, in der er über die eigene schockierende Erkenntnis als Kind sprach, dass er als Schwarzer in der Geschichtsschreibung der USA nicht vorkomme. Eine Erfahrung, die auch die Schwarze Mirjam Nuenning beim Aufwachsen in einem nordrhein-westfälischen Dorf machte: „Das Schulsystem und die Lehrpläne dort waren weiß – ich kam darin nicht vor. Die Botschaft ist klar: Du bist nicht wichtig.“ Umso wichtiger sei es darum, die Perspektive von Schwarzen und People of Colour stärker in den Fokus zu rücken, auch in der Literatur. „Ich bin eine Verfechterin des positionierten Übersetzens: Schwarze sollten Schwarze übersetzen – allein schon, weil Übersetzungen immer Interpretationen sind und dabei auch Gefühle und Erfahrungen eine Rolle spielen.“ Zudem seien sie sensibler für diskriminierende Begriffe. Nuenning macht sich aber nicht nur mit ihren Übersetzungen für Schwarze Perspektiven stark, sie gründete in Berlin zudem eine afro-diasporische Kita, in der sich die Kinder in Büchern, Puppen oder Spielzeug widergespiegelt fühlen sollen. 

Auch der Jude Max Czollek musste bereits früh die Erfahrung machen, dass es eine unsichtbare Grenze zwischen ihm und anderen gab. Er erinnert sich an Fernsehteams, die seine jüdische Schule besuchten, um die Kinder zu fragen, ob sie sich wohl in Deutschland fühlten. „Nach 1945 spielten die Juden eine große Rolle für die Selbstvergewisserung der Deutschen“, so Czollek. Mit der Desintegrationsthese in seinem Buch meine er allerdings keine Abkopplung einzelner Gruppen aus der Gesellschaft, sondern die Suche nach einem anderen Selbstverständnis und neuen Bündnissen. „Hier zitiere ich gerne Adorno: Man muss eine Gesellschaft ermöglichen, in der man ohne Angst verschieden sein kann.“ Gerade Verschiedenheit werde in Deutschland aber tendenziell als Gefahr wahrgenommen – und zwar nicht erst seit dem Aufstieg der AfD.

Ein schonungsloser Pragmatiker

James Baldwin war es wichtig, stets verschiedene Perspektiven zu beleuchten und brachte sogar Verständnis für die Weißen auf, die ihre Dominanz auch aufgrund ihrer Angst vor der berechtigten Wut der Schwarzen aufrecht erhalten wollten. Manche Bürgerrechtler warfen Baldwin deshalb vor, nicht radikal genug zu sein. „Er war ein beweglicher Schriftsteller, schrieb mit Giovannis Zimmer sogar einen Roman mit ausschließlich weißen Figuren“, sagt Czollek. Aber auch als Pragmatiker habe er offen über die Verletzungen und das realistische Leiden unter der weißen Dominanz geschrieben. „Zugleich suchte er genauso nach den Abgründen in seinen schwarzen Figuren. Diese Schonungslosigkeit war Baldwins große Stärke.“

Zwar las Mirjam Nuenning bereits mit 15 erstmals seine Essays, wirklich entdeckt hat sie James Baldwin jedoch genau wie Max Czollek erst während des Studiums in den USA, wo er als Autor, Essayist und Redner inzwischen kanonische Bedeutung erlangt hat – dort komme man an der Uni gar nicht um ihn herum, so Nuenning. Anders war es lange in Deutschland. Erst durch Zufall fand Czollek heraus, dass sein eigener Großvater einen von Baldwins Essays erstmals in der DDR verlegte. Man kann nur hoffen, dass James Baldwin im Zuge der Neuübersetzungen seiner Bücher bei dtv oder dem aktuellen Kinofilm Beale Street auch hierzulande der literarische Stellenwert eingeräumt wird, der ihm zusteht – bedauerlicherweise selbst mit Blick auf unsere Gegenwart.

Drei Bücher von… Hanser

3 Bücher... von HanserSinn und Zweck dieser Rubrik ist ja eigentlich, drei Bücher vorzustellen, die, so unterschiedlich sie vielleicht auch sein mögen, ein bestimmtes Thema miteinander verbindet. Dieser Beitrag ist nun die Ausnahme zur Bestätigung der Regel. Die folgenden Bücher haben nämlich kaum Gemeinsamkeiten – außer dass sie in den Hanser Literaturverlagen erschienen sind. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch: Sie sind aller Wahrscheinlichkeit nach gut. Es gibt sie nämlich noch, die Verlage, denen man als Leser mit einem gewissen Grundvertrauen begegnen kann, Verlage, die trotz der Vielfalt ihres Programms zumeist ein klares Profil haben und die sich nicht nur als Wirtschaftsunternehmen, sondern auch als Kuratoren, als Literaturvermittler verstehen. Eben Verlage wie Suhrkamp, wie die Frankfurter Verlagsanstalt, wie: Hanser.

Natürlich spielt da als Leser neben dem Literaturgeschmack ein Stück weit auch Sympathie eine Rolle, vor allem für diejenigen, die dem Verlag ein Gesicht geben. Im Fall von Hanser muss man dazu zwar nicht unbedingt die kuriosen und manchmal wahnsinnig komischen Alltagsskizzen des Verlegers Jo Lendle auf Facebook verfolgen. Aber es hilft. Und wer – Fun Fact – schon mal ein Pixi geschrieben hat, kann ohnehin kein schlechter Mensch sein. Auch Lektor Florian Kessler ist jemand, dem man die Leidenschaft für Literatur, aber auch seine Haltung jederzeit abkauft, egal, ob er als Helfer vor Ort über die Zustände in einem griechischen Flüchtlingslager schreibt oder ganz unprätentiös Thekendienst beim Prosanova-Festival schiebt. Es sind eben nicht nur die Bücher, die einen Verlag ausmachen, sondern genauso die Menschen, die sich für sie stark machen – angefangen bei der Presse-Betreuung durch liebgewonnene Menschen wie Frauke Vollmer, die uns Bloggern stets mit Respekt und Freundschaft begegnet. Aber am Ende ist ein Verlag natürlich trotzdem nur so gut wie seine Bücher – und um die soll es nun auch gehen.

Anja Kampmann – Wie hoch die Wasser steigen

Auf der Suche nach einem süffigen Buch für den Strand, einer leichten, lebensfrohen Urlaubslektüre? Dann gehen Sie bitte weiter, hier gibt es nichts zu sehen. Anja Kampmanns Prosadebüt ist womöglich der schwermütigste Roman, den ich seit Rolf Lapperts großartigem Über den Winter (ebenfalls Hanser) gelesen habe. Ein Buch, das sich Zeit lässt, das träge und schwer dahinfließt wie das Öl, das Protagonist Waclaw auf Bohrinseln fördert, bis sein bester Freund im Meer ertrinkt. Und das genauso wertvoll ist. Nach dem Tod von Mátyás reist Waclaw zunächst mit dessen letzten Habseligkeiten, später dann mit einer Brieftaube durch halb Europa und nimmt dabei nicht nur Abschied von seinem Freund, sondern auch von einem Leben, das ihn über viele Jahre hart und illusionslos werden ließ. Nach Stationen ihrer früheren Landgänge sucht Waclaw schließlich Anknüpfungspunkte an seine Vergangenheit im Ruhrpott und die Menschen, die er dort einst zurückließ – allen voran Milena, die Liebe seines Lebens.

Vor ihrem ersten Roman hat sich Anja Kampmann in erster Linie als Lyrikerin einen Namen gemacht, dementsprechend lebt Wie hoch die Wasser steigen vor allem von seiner Sprache und der dichten, schwermütigen Atmosphäre. Ein Pageturner, ein Buch zum-einfach-Weglesen ist Kampmanns Roman nicht: Ich habe länger als sonst für die Lektüre gebraucht, musste immer wieder innehalten, um Stellen laut zu lesen, gelegentlich sogar Pausen einlegen. Die Tristesse und das langsame Erzähltempo sind nichts für zwischendurch, der Roman braucht Konzentration und manchmal auch den Willen, sich auf seine Melancholie einzulassen – umso größer wird dann aber der Sog, wenn man sich von der Stimmung erst anstecken lässt. Keine leichte Lektüre also, literarisch aber in jedem Fall ein Schwergewicht.

Leander Steinkopf – Stadt der Feen und Wünsche

Während Kampmanns Waclaw haltlos durch halb Europa reist, treibt es den Ich-Erzähler aus Leander Steinkopfs langer Erzählung Stadt der Feen und Wünsche bloß kreuz und quer durch Berlin. Weil er es mit sich alleine in der Wohnung nicht aushalten kann, seine eigene Gegenwart nicht erträgt, spaziert er drei Tage lang als Flaneur die Kieze ab und beobachtet weitestgehend teilnahmslos das Treiben der Menschen. Anders als Waclaw hat er keinen Verlust zu verarbeiten. Denn: Da war nie was. Da ist nur Leere. Er lebt ohne Sinn in den Tag hinein, ohne Aufgabe oder Verbindlichkeit. Natürlich gibt es Menschen in seinem Leben, da sind Freunde und zwei Frauen, Judith und Hanna, da ist sein alter Schulfreund Moritz, der ihn aus der Provinz besuchen kommt, da ist die Kellnerin, in die er sich verguckt hat. Aber nichts und niemand füllt – oder fühlt – die Leere in ihm. Das klingt jedoch tragischer als Steinkopfs Erzählung eigentlich ist: Stadt der Feen und Wünsche ist eine amüsante Lektüre, ein Gesellschafts-, Stadt- und Zeitgeistportrait voll kluger Beobachtungen und satirischer Spitzen. Ohne sich in Klischees zu verzetteln, lässt der Autor seine Figur die zuweilen zur Pose verkommenen Eigenheiten Berlins und seiner Bewohner einordnen und kommentieren. Ein Anti-Berlin-Buch ist es deshalb noch lange nicht geworden, im Gegenteil: Vielmehr wollte Steinkopf, wie er im Interview auf novellieren.com erzählte, ein Gefühl einfangen, das er mit Berlin verbindet – irgendwo zwischen süßer Sehnsucht und beschwingter Vergänglichkeit. Und das klingt dann schon fast wieder wie eine Liebeserklärung.

Colson Whitehead – Underground Railroad

Über diesen Roman ist bereits eine Menge geschrieben worden. Und zwar zu Recht. Underground Railroad ist eines dieser seltenen Bücher, denen der Spagat zwischen E und U, der Spagat zwischen gesellschaftspolitischem Gewicht und Spannungsliteratur für ein breites Publikum gelingt. Denn natürlich ist es zunächst einmal eine hollywoodreife Geschichte, wie den Sklaven Cora und Caesar die Flucht von der Baumwollfarm im amerikanischen Georgia gelingt, während ihnen ein Kopfgeldjäger quer durch die USA auf den Fersen bleibt. Und dann ist da natürlich das Alleinstellungsmerkmal, nämlich Colson Whiteheads geniale Idee, das historische Netzwerk Underground Railroad einfach wörtlich zu nehmen und die Figuren mit einem Hauch von erzählerischer Phantastik tatsächlich in unterirdischen Zügen fliehen zu lassen. Aber das Entscheidende ist etwas anderes: Angesichts eines Rassisten im Oval Office und Ereignissen wie jüngst in Charlottesville wird immer wieder deutlich, wie wenig sich in den Köpfen der Menschen seit dem Ende der Sklaverei getan hat. Noch immer wird in den USA die eigene unrühmliche Geschichte zu wenig thematisiert, noch immer ist Rassismus für viele Menschen Teil des Alltags. Allein das macht Underground Railroad trotz manch erzählerischer Schwäche zu einem wichtigen, weil leider noch immer erschreckend aktuellen Buch.


Anja Kampmann: Wie hoch die Wasser steigen, 352 Seiten. // Leander Steinkopf: Stadt der Feen und Wünsche, 112 Seiten. // Colson Whitehead: Underground Railroad, 352 Seiten. // Ebenfalls in den Hanser Literaturverlagen erschienen und von mir besprochen: Über den Winter von Rolf Lappert, Das Floß der Medusa von Franzobel & Die Terranauten von T.C. Boyle. In Zukunft dürften noch einige Romane dazukommen – gerade erst habe ich mir vorgenommen, anlässlich des Todes von Philip Roth eine klaffende Bildungslücke zu schließen…