Black Lives matter

Buchtipps zum Sommer

Normalerweise empfehle ich auf den Literaturseiten des Stuttgarter Stadtmagazins LIFT  jeden Monat kurz und knackig drei aktuelle Bücher. Zur Urlaubszeit durften es nun ausnahmsweise ein paar mehr sein:

serpentinenOlivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst

Einen Namen hat Olivia Wenzels queere Ich-Erzählerin nicht. Mit ihrer Identität kämpft sie trotzdem – im Roman heruntergebrochen auf das „dreifache Bananenproblem“: Isst sie eine Banane, weckt das bei anderen Assoziationen, weil sie a) eine Frau, b) ostdeutsch und c) Schwarz ist. Dass ihre weiße Oma trotzdem AfD wählen will, ist nur einer der vielen Widersprüche, mit denen sich Wenzels Protagonistin in permanenter Selbstbefragung auseinandersetzt. Denn als Schwarze wird sie einerseits immer wieder mit Rassismus konfrontiert, andererseits weiß sie um ihre Privilegien als Deutsche, die einfach mal so in die USA reisen kann. 1000 Serpentinen Angst ist nicht nur ein clever konzipiertes Romandebüt – es ist auch das Buch der Stunde. [S. Fischer, 349 S., € 21,-]

sarahScott Mc Clanahan: Sarah

Selbst wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was er in seinem semi-autobiografischen Roman Sarah schreibt, ist Scott Mc Clanahan ein ziemlicher Idiot. Einer, der theatralisch den Familien-PC zerstört, als seine Frau Sarah die Pornos darauf entdeckt – und damit auch alle Kinderbilder auf der Festplatte vernichtet. Oder der heimlich beim Autofahren säuft und dabei ganz vergisst, dass seine Kinder auf der Rückbank sitzen. Obwohl er und Sarah einander lieben, zerstört der unreife Scott erst ihre Ehe und anschließend fast sich selbst – etwa bei einem tragisch-lächerlichen Suizidversuch mit Kinderschmerzmitteln. Doch trotz aller Komik: Immer wieder bringt Mc Clanahan diese schmerzhaft-ehrlichen Sätze, die einem beim Lesen sofort das Herz brechen. [ars Vivendi, 206 S., € 22,-]

fehlstartMarion Messina: Fehlstart

Ihr gefeierter Debütroman brachte Marion Messina schnell Vergleiche mit dem zynischen Starautor Michel Houellebecq ein. Auch sie leuchtet in gnadenloser Schärfe und Klarheit das soziale Gefälle Frankreichs aus und spart dort, wo es nötig ist, nicht an Härte. Anders als der alte weiße Mann der französischen Literatur bringt Messina jedoch echte Empathie für ihre Figuren auf, allen voran für die 19-jährige Aurélie, die nach dem Scheitern ihres Studiums und ihrer ersten Liebe nach Paris zieht – und dabei erkennen muss, wie schal das Versprechen von sozialem Aufstieg für ihre Generation längst geworden ist. Ein entwaffnend ehrlicher Roman über das Versiegen der Hoffnung, es einmal besser zu haben als die eigenen Eltern. [Hanser, 168 S., € 18,-]

paradeDave Eggers: Die Parade

Für Straßenbauer Vier ist es ein Routineauftrag – und doch ist er so gefährlich, dass weder er noch sein neuer Kollege Neun den echten Namen des jeweils anderen kennen dürfen. Mitten im Nirgendwo auf sich allein gestellt, bauen sie eine neue Straße durch ein namenloses Entwicklungsland, das nach einem blutigen Bürgerkrieg wieder zusammenwachsen soll. Doch während Vier stoisch seiner Pflicht nachgeht, sucht Neun lieber das Abenteuer und den Kontakt zu Einheimischen. Schon bald geht es für sie nicht mehr nur um das Vertrauen zu Fremden und die Frage nach den moralischen Fallstricken von Entwicklungshilfe – sondern auch um Leben und Tod. Eine kluge und differenzierte Parabel, vor allem aber ein echter Pageturner und der beste Eggers-Roman seit Ein Hologramm für den König. [Kiepenheuer & Witsch, 192 S., € 20,-]

KANDASAMY_Schlaege_Cover_CMYK_300dpiMeena Kandasamy: Schläge

Sie eine wissbegierige Studentin, er ein linker Uni-Dozent: Was wie eine indische Liebesgeschichte beginnt, wird schnell zum Albtraum, als Meena nach der Hochzeit mit ihrem Mann in eine ferne Küstenstadt zieht – und dort von ihm eingesperrt, von der Außenwelt abgeschnitten und misshandelt wird. Die Feder sei mächtiger als das Schwert, heißt es in einem Sprichwort. Tatsächlich ist Literatur die einzige Waffe, die Meena in ihrer gewalttätigen Ehe bleibt – Sprache dient ihr ebenso als Zuflucht wie als Instrument zur Selbstermächtigung. Schläge ist ein oft erschütternder, manchmal auch gallig-komischer autobiografischer Roman über Missbrauch und Macht, aber auch ein starkes Plädoyer für die Kraft der Literatur. [CulturBooks, 264 S., € 22,-]

cover_kling_ql_rgbMarc-Uwe Kling / Zachary Tallent: Qualityland

Eine schöne neue Welt ist das, die uns der gebürtige Stuttgarter Marc-Uwe Kling in der Graphic Novel-Adaption seines Bestsellers Qualityland da vorhersagt: In der Zukunft wird unser Leben komplett von Algorithmen bestimmt. Der Freundeskreis, die passende Partnerin, der nächste Kauf? Hängt alles von unserem persönlichen Score und den durchleuchteten Vorlieben ab. Individualität? Ein Konzept von gestern. Doch als ihm ein rosa Delfinvibrator geschickt wird, den er nicht umtauschen kann, wachsen beim Maschinenverschrotter Peter Zweifel an der Fehlerlosigkeit des Systems. Der US-Zeichner Zachary Tallent bringt Klings schräge Dystopie in knalligen Bildern perfekt aufs Papier. Die Bildschirm-Rechte hat sich derweil längst HBO gesichert. [Voland & Quist, 176 S., € 18,-]

warumichnichtReni Eddo-Lodge: Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche

Noch immer machen es sich die Weißen zu leicht, besonders hier in Europa. Die systemische Polizeigewalt gegenüber Schwarzen wie jüngst die Ermordung Georg Floyds
in den USA halten viele zum Beispiel bloß für ein fernes Problem. Eine bereits angedachte Studie zum Thema Racial Profiling bei der deutschen Polizei? Von Innenminister Horst Seehofer für unnötig erklärt. Nicht nur der sollte Eddo-Lodges wichtiges und für Weiße äußerst unbequeme, nun auch als Taschenbuch erschienene Buch lesen – und etwas darüber lernen, was es für Black and People of Color bedeutet, in einer von Weißen dominierten Welt zu leben. Das größte Problem sind eben nicht die offensichtlichen Anfeindungen von Rechts, sondern vielmehr der ganz alltägliche strukturelle Rassismus und die Blindheit der Weißen angesichts ihrer eigenen Privilegien. [Tropen, 272 S., € 10,-]

arbeitThorsten Nagelschmidt: Arbeit

Zwar konnte der Muff-Potter-Sänger Thorsten Nagelschmidt nicht vorhersehen, in was für einer außergewöhnlichen Zeit sein Roman erscheinen würde, trotzdem wirkt Arbeit gerade ein bisschen wie der Abgesang auf eine vergangene Ära – und ein Berlin, das es so womöglich bald nicht mehr gibt. In 16 lose durch einen Taxifahrer miteinander verknüpften Episoden begleitet er rund ein Dutzend Menschen, die arbeiten müssen, während andere feiern, durch die Nacht. Ob Drogendealer, Sozialarbeiter, Späti Verkäuferin, Notfallsanitäterin, Türsteher oder Polizistin, sie alle werden als Kaleidoskop des Berliner Nachtlebens authentisch von Nagelschmidt eingefangen. Vielleicht der einzige Berlin-Roman, den es wirklich noch brauchte. [S. Fischer, 336 S., € 22,-]

 

Eine doppelte Hommage an James Baldwin bei lesen.hören 13

IMG_5264In den 50ern und 60ern galt James Baldwin als einer der wichtigsten Autoren der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, nicht selten wurde er aufgrund seiner Romane, Essays und bemerkenswerten Reden in einem Atemzug mit Malcom X, Medgar Evers oder Martin Luther King genannt, deren Ermordungen ihn nachhaltig verstörten. Dennoch geriet Baldwin nach seinem Tod 1987 besonders international beinahe in Vergessenheit. Das änderte sich spätestens im Zuge der Black Lives Matter-Bewegung 2013: Trotz aller Fortschritte seit dem Ende der Segregation ist Rassismus in den USA noch immer ein allgegenwärtiges Problem, zu wenig hat sich in den Köpfen der Menschen während der vergangenen Jahrzehnte geändert. Dass auf Barack Obama als erstem schwarzen Präsidenten ausgerechnet ein offener Rassist wie Donald Trump nachfolgte, macht die Schriften von James Baldwin, literatisch ohnehin von zeitloser Qualität, aktueller denn je.

Spätestens I’m not your negro, Raoul Pecks oscarnominierter Dokumentarfilm über James Baldwins Textfragment Geschichte der Schwarzen läutete 2017 die weltweite Renaissance des Schriftstellers ein – und bildete am Sonntag im vollbesetzten Atlantis Kino den Auftakt zu einer Hommage an den großen Literaten bei lesen.hören13. Unterlegt von der Stimme Samuel L. Jacksons überführt Peck Filmaufnahmen aus der Zeit der Bürgerrechtsbewegung sowie Interviews und Reden Baldwins in unsere Gegenwart und verstört dabei immer wieder mit Aufnahmen aktueller Polizeigewalt gegenüber Schwarzen. Ein Film, der manchmal nur schwer zu ertragen ist – und eben darum so wichtig.

„Die Botschaft war klar: Du bist nicht wichtig.“

Im zweiten Teil des Thementags wurde in der Alten Feuerwache über die Relevanz und Aktualität von James Baldwins Schriften in Deutschland diskutiert, wo sein Werk seit letztem Frühjahr – beginnend mit seinem Debütroman Von dieser Welt – in Neuübersetzungen bei dtv erscheint. Während der Schauspieler Mehmet Ateşçi vom Gorki Theater Berlin Stellen aus Baldwins Debüt und einigen Essays las, sprachen Mirjam Nuenning als Übersetzerin afrodiasporischer und Schwarzer Literatur sowie der Autor Max Czollek, der 2018 mit seinem Buch Desintegriert euch! einen viel beachteten Denkanstoß zur Debatte um Integration und Zugehörigkeit veröffentlichte, mit der Moderation Verena Lueken von der FAZ über die Gründe, warum uns James Baldwin auch hier und heute noch viel zu sagen hat. 

Den Abend eröffnete jedoch Baldwin selbst: mit einem eingespielten Auszug einer Rede vor schwarzen Schulkindern, in der er über die eigene schockierende Erkenntnis als Kind sprach, dass er als Schwarzer in der Geschichtsschreibung der USA nicht vorkomme. Eine Erfahrung, die auch die Schwarze Mirjam Nuenning beim Aufwachsen in einem nordrhein-westfälischen Dorf machte: „Das Schulsystem und die Lehrpläne dort waren weiß – ich kam darin nicht vor. Die Botschaft ist klar: Du bist nicht wichtig.“ Umso wichtiger sei es darum, die Perspektive von Schwarzen und People of Colour stärker in den Fokus zu rücken, auch in der Literatur. „Ich bin eine Verfechterin des positionierten Übersetzens: Schwarze sollten Schwarze übersetzen – allein schon, weil Übersetzungen immer Interpretationen sind und dabei auch Gefühle und Erfahrungen eine Rolle spielen.“ Zudem seien sie sensibler für diskriminierende Begriffe. Nuenning macht sich aber nicht nur mit ihren Übersetzungen für Schwarze Perspektiven stark, sie gründete in Berlin zudem eine afro-diasporische Kita, in der sich die Kinder in Büchern, Puppen oder Spielzeug widergespiegelt fühlen sollen. 

Auch der Jude Max Czollek musste bereits früh die Erfahrung machen, dass es eine unsichtbare Grenze zwischen ihm und anderen gab. Er erinnert sich an Fernsehteams, die seine jüdische Schule besuchten, um die Kinder zu fragen, ob sie sich wohl in Deutschland fühlten. „Nach 1945 spielten die Juden eine große Rolle für die Selbstvergewisserung der Deutschen“, so Czollek. Mit der Desintegrationsthese in seinem Buch meine er allerdings keine Abkopplung einzelner Gruppen aus der Gesellschaft, sondern die Suche nach einem anderen Selbstverständnis und neuen Bündnissen. „Hier zitiere ich gerne Adorno: Man muss eine Gesellschaft ermöglichen, in der man ohne Angst verschieden sein kann.“ Gerade Verschiedenheit werde in Deutschland aber tendenziell als Gefahr wahrgenommen – und zwar nicht erst seit dem Aufstieg der AfD.

Ein schonungsloser Pragmatiker

James Baldwin war es wichtig, stets verschiedene Perspektiven zu beleuchten und brachte sogar Verständnis für die Weißen auf, die ihre Dominanz auch aufgrund ihrer Angst vor der berechtigten Wut der Schwarzen aufrecht erhalten wollten. Manche Bürgerrechtler warfen Baldwin deshalb vor, nicht radikal genug zu sein. „Er war ein beweglicher Schriftsteller, schrieb mit Giovannis Zimmer sogar einen Roman mit ausschließlich weißen Figuren“, sagt Czollek. Aber auch als Pragmatiker habe er offen über die Verletzungen und das realistische Leiden unter der weißen Dominanz geschrieben. „Zugleich suchte er genauso nach den Abgründen in seinen schwarzen Figuren. Diese Schonungslosigkeit war Baldwins große Stärke.“

Zwar las Mirjam Nuenning bereits mit 15 erstmals seine Essays, wirklich entdeckt hat sie James Baldwin jedoch genau wie Max Czollek erst während des Studiums in den USA, wo er als Autor, Essayist und Redner inzwischen kanonische Bedeutung erlangt hat – dort komme man an der Uni gar nicht um ihn herum, so Nuenning. Anders war es lange in Deutschland. Erst durch Zufall fand Czollek heraus, dass sein eigener Großvater einen von Baldwins Essays erstmals in der DDR verlegte. Man kann nur hoffen, dass James Baldwin im Zuge der Neuübersetzungen seiner Bücher bei dtv oder dem aktuellen Kinofilm Beale Street auch hierzulande der literarische Stellenwert eingeräumt wird, der ihm zusteht – bedauerlicherweise selbst mit Blick auf unsere Gegenwart.