Damals in den Neunzigern war Benjamin von Stuckrad-Barre meine erste Lesung – und hat mich für alle darauffolgenden ein bisschen versaut: was für eine Show! Sein Debüt Soloalbum fand ich zwar amüsant, aber zu stark an die Bücher von Nick Hornby & Co angelehnt – stereotypische Popliteratur ohne großen Mehrwert. Auf der Bühne riss Stuckrad-Barre dagegen ein Feuerwerk ab: eine absolute Rampensau, schnell wie Schmidt und unberechenbar wie Kaufman. Das war keine Lesung, sondern Rock’n Roll! Trotzdem wusste ich nicht, was mich erwarten würde, als ich ihn im April 2016 im Theaterhaus Stuttgart zum zweiten Mal sah. Zwischen beiden Lesungen lagen fast zwanzig Jahre und soviel Rock’n Roll, dass es an ein Wunder grenzt, diesen Mann wieder live auf der Bühne zu sehen. Nach der Lektüre von Panikherz sah ich ihn plötzlich mit anderen Augen: Mit derselben gnadenlosen Scharfsicht, mit der er andere in seinen Texten seziert, schreibt Stuckrad-Barre in seiner Autobiografie über seinen Absturz in Kokainsucht und Bulimie. Verstörend offen, aber nicht ohne Humor erzählt Panikherz vom Wahnsinn seiner verlorenen Jahre und der späten Rettung in den zweiten Akt seines Lebens – die er zum Teil ausgerechnet seinem Kindheitsidol Udo Lindenberg zu verdanken hat.
Wie lässt sich ein so erschütterndes, manchmal gar demütiges Buch mit der öffentlichen Person, der Rampensau Stuckrad-Barre, vereinbaren? Die Antwort ließ auf der Lesung nicht lange auf sich warten: gar nicht. „Stuckiman“ bot im Theaterhaus genau das, was man von ihm auf der Bühne erwartet – ein Comedyprogramm für Menschen, die Comedyprogramme hassen, irgendwo zwischen Latenight und Personality Show. Aus Panikherz las er vornehmlich die lustigen Passagen, in Erinnerung blieben aber vor allem Showeinlagen wie der T-Shirttausch mit einem RTL-Redakteur und sein Crowdsurfing über die Ränge. Benjamin von Stuckrad-Barre hat das Publikum, mich eingerechnet, an diesem Abend bestens unterhalten – seinem Buch wurde er dabei allerdings nicht gerecht.
Keine Frage: Oft liest sich „Panikherz“ wie ein typischer Stuckrad-Barre und ist dank gewohnt präziser Beobachtungen so selbstgerecht wie witzig. Wie er sich nach der behüteten Kindheit in einer Pastorenfamilie und seiner Schulzeit als Loser fintenreich und hakenschlagend zum Shooting Star der Popliteratur mausert, ist klassischer Coming of Age-Stoff und durchaus unterhaltsam; in seinen stärksten Momenten ist Panikherz aber ein düsteres und hartes Buch. Wenn Stuckrad-Barre über seine körperliche, auch geistige Verwahrlosung durch Bulimie und Kokainsucht schreibt, über seine Entzüge und Abstürze, sein Leben in vermüllten Wohnungen und Hotelzimmern, ist seine Autobiografie so schonungslos ehrlich, dass es weh tut.
Plotschwäche vs. Charakterstärke
Voyeure mit Bunte-Abonnement greifen dennoch besser zu einer anderen Promibiografie: Trotz Namedropping und einer Überdosis Udo steht im Zentrum von Benjamin von Stuckrad-Barres Autobiografie nur einer: Benjamin von Stuckrad-Barre selbst. So offen er über sich und seine Schwächen schreibt, so verschlossen bleibt er in Bezug auf sein Privatleben. Einzig sein Bruder spielt in einigen wenigen, dafür aber umso wichtigeren Szenen eine Rolle, ansonsten ist Panikherz fast frei von Menschen – insbesondere Frauen – aus Stuckrad-Barres persönlichem Umfeld. Das ist menschlich, womöglich auch juristisch gut nachvollziehbar. Dennoch entsteht durch diesen bewussten Verzicht eine dramaturgische Leerstelle. Bis auf den Autor selbst bleiben nahezu alle Figuren oberflächlich, degradiert zu Statisten seiner Lebensbeichte. Das Unglück, in das Suchtkranke ihr Umfeld stürzen, ihre Partner, ihre Freunde, ihre Familie, wird größtenteils ausgeklammert. Benjamin von Stuckrad-Barre schreibt nur – das jedoch angenehm unselbstmitleidig – über den Schaden, den er sich selber zugefügt hat; das macht Panikherz allerdings auch zu einem durchaus narzisstischen Buch. Zu wenig ist die Rede von denen, die er im Laufe seines jahrelangen selbstzerstörerischen Egotrips im Stich gelassen hat. Dass er die Menschen in seinem Leben nicht in die Öffentlichkeit zerrt, gar seine Beziehungen zu bekannten Frauen publicitywirksam ausschlachtet, verlangt nichtsdestotrotz Respekt und ist eine überaus sympathische Entscheidung.
Happy End auf der Bühne
Etwas mehr Entscheidungsfreude hätte dem Buch allerdings auch darüber hinaus gut getan. Besonders im letzten Drittel verliert Panikherz zunehmend den Fokus; die Szenen rund um Stuckrad-Barres Aufenthalt im berüchtigten Chateau Marmont in LA werden mit der Zeit ermüdend redundant. Benjamin von Stuckrad-Barre denkt unglaublich schnell und gerne um die Ecke, eine Idee jagt bei ihm oft die nächste. Als Junkie hat er sich deshalb häufig verzettelt und den Faden verloren; ein Lektor, der ein wenig Ordnung in seine Gedanken gebracht und Wichtiges von Unwichtigem getrennt hätte, hätte vielleicht auch Panikherz zu mehr Stringenz verhelfen können. Die eine oder andere Passage um Udo Lindenberg oder Bret Easton Ellis wäre durchaus verzichtbar gewesen.
Die Szenen mit Ellis und seinem naiven Freund Todd nehmen vor allem gegen Ende des Romans viel Raum ein. Beide Autoren verbindet eine Vergangenheit mit Kokain und die Erkenntnis, dass es zu diesem Teil ihres Lebens trotz aller wehmütigen Erinnerungen an wilde Nächte kein Zurück mehr geben kann. Stuckrad-Barre ist geheilt, aber die Sehnsucht nach der Nacht, die ihm nun nichts mehr zu bieten hat, wird bleiben: „Die Zahnbürste ist aus, drei Minuten rum, Licht aus, bin schon im Schlaftablettenwirkungsanflug, geiles Leben. Jetzt da raus, in irgendeiner Tittenbar irgendwen anhauen, man weiß dann schon, wen, das ist ja unschwer zu erkennen mit ein bisschen Erfahrung, auch wenn das im Ergebnis oft etwas rassistisch ist; sich ein bisschen verarschen lassen und ein paar Hundert Dollar verbrennen, zwei Gramm kaufen, begleitend einen ansaufen, und dann mal gucken – oder, wie ich es vor zehn Jahren genannt hätte: ein ganz normaler Montagabend. Mache ich nicht. Ich mache das Licht aus. In einer Selbsthilfegruppe würden sie jetzt wie wahnsinnig applaudieren.“
Von dieser Melancholie ist am Ende seiner Lesung in Stuttgart nichts zu spüren. Vielmehr wirkt Stuckrad-Barre in den wenigen ernsten Sätzen dieses Abends glaubhaft dankbar, geradezu demütig: „Am Büchertisch sagen manche: gut, dass du zurück bist. Ich sage: gut, dass ihr es auch seid! 2016 ist mein Lieblingsjahr bisher – es tut so gut!“ Und plötzlich schließt sich für mich der Kreis von dieser bitteren, harten Autobiografie zum vergnüglichen Abend mit Showeinlagen: Panikherz ist ein gutes Buch. Aber wer das Happy End erleben will, muss Benjamin Stuckrad-Barre auf der Bühne sehen.
Benjamin von Stuckrad-Barre: Panikherz. Erschienen bei Kiepenheuer & Witsch. ISBN: 978-3-462-04885-8
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