Bestseller

Was vom Jahre übrig blieb: Kurzrezensionen

Seit der Frankfurter Buchmesse herrscht Funkstille auf meinem Blog. Was ist da los? Fun Fact: Das Bloggen ist nur eine meiner drei Superkräfte, mit denen ich kein Geld verdiene. Nach Veröffentlichung der siebten Ausgabe von ]trash[pool habe ich mich in den letzten Monaten vor allem auf meinen neuen Roman konzentriert, den ich – so der Prokrastinationsgott will – im Frühjahr fertigstellen werde. Deshalb sind viele Bücher, die ich 2016 hier besprechen wollte, leider ein wenig unter die Räder gekommen. Einige von ihnen habe ich zumindest in meinen regelmäßigen Buchempfehlungen im Stuttgarter Stadtmagazin LIFT vorgestellt; das nahende Jahresende ist jedenfalls ein guter Anlass, um die digitale Schublade auszumisten und ein paar kurze Empfehlungen nachzureichen.


1. Die Dicken:

Unterleuten von Juli ZehJULI ZEH – UNTERLEUTEN
Ein Bestseller über die Eskalation eines Dorfstreits? Natürlich ist es keine Überraschung: dass die Welt auf dem Land noch in Ordnung zu sein scheint, sich in Wahrheit aber auch die größten Probleme im Kleinen spiegeln. Es sind jedoch vor allem die glaubwürdigen und ambivalenten Figuren, die Unterleuten zu einem großartigen Gesellschaftsroman machen. Die Verweise auf Jonathan Franzen – eine Figur ist Vogelschützer, eine andere heißt Franzen mit Nachnamen – sind sicher kein Zufall: Tatsächlich hat Juli Zeh in diesem Jahr den gelungeneren Franzen-Roman geschrieben als der Meister selbst. Für mich neben Thomas Melles Die Welt im Rücken der beste deutschsprachige Roman 2016!
[Luchterhand, 640 S.]

978-3-498-02137-5JONATHAN FRANZEN – UNSCHULD
Bei Franzen weiß man, was man bekommt. Es ist alles da: die typischen Franzen-Figuren mit ihren biografischen Brüchen und persönlichen Krisen. Das aktuelle gesellschaftspolitische Thema als Folie für einen Plot, der sich erst nach und nach erschließt. Schließlich der langersehnte Aha-Moment, der endlich Klarheit bringt und die Erzählstränge zusammenführt. Nicht alle Figuren und Subplots sind gelungen, besonders die Hauptfigur Pip macht den Einstieg in den Roman überraschend holprig – auch wenn man sie, nachdem man Bekanntschaft mit ihrer Mutter gemacht hat, deutlich besser versteht. Aber die Geduld wird belohnt: Mit zunehmender Seitenzahl – und in diesem Punkt knausert der gute, alte Franzen ja nie – gewinnt Unschuld an Brillanz und entwickelt auch die Sogkraft, die man von seinen Romanen gewohnt ist. Ich habe Unschuld gerne gelesen, sehr gerne sogar. Nichtsdestotrotz schleicht sich langsam ein wenig Gewöhnung ein. Gerne darf sich der gute, alte Franzen für die Erzählstruktur, die seit den Korrekturen stets demselben Schema folgt, bei seinem nächsten Roman mal etwas Neues einfallen lassen. [Rowohlt, 830 S, übersetzt von Bettina Abarbanell & Eike Schönfeld]

2. Die Dünnen:

amanda-lee-koe_ministerium_350AMANDA LEE KOE: MINISTERIUM FÜR ÖFFENTLICHE ERREGUNG. STORIES
Die singapurische Autorin erzählt Geschichten aus einer anderen Welt, einem anderen Leben: über Frauen am Rand der Gesellschaft, die sich einen Rest an Würde und Souveränität bewahren wollen. Über ungleiche Freundschaften, Abhängigkeiten und die Unmöglichkeit von Liebe über Grenzen hinweg. Ein grandioses Debüt voller ungewöhnlicher Perspektiven und überraschender Einblicke. [CulturBooks, 240 S., aus dem Englischen von Zoë Beck]

9783608983074JAN SNELA – MILCHGESICHT. EIN BESTIARIUM DER LIEBE
Gehörnte Männer, die in Milch baden oder Katzenfutter essen. Eine Liebesgeschichte mit einem Wiesel oder ein One Night Stand mit einem Geist. In den skurrilen Erzählungen von Open Mike-Gewinner und Bachmann-Kandidat Jan Snela gelten ganz eigene Regeln. Eines eint sie aber alle: die eigenwillige, detailverliebte Sprache, in der kein Wort dem Zufall überlassen wird. [Klett Cotta, 184 S.]

tumblr_ogbnf87y5w1snbv2io2_1280MICHAELA MARIA MÜLLER – AUF SEE. DIE GESCHICHTE VON AYAN UND SAMIR
Die Journalistin schreibt über ein somalisches Paar, das vom Bürgerkrieg getrennt wird. Auf See ist ein gut recherchierter Hybrid aus Reportage und Erzählung über die täglichen Tragödien vor der Küste Lampedusas. Trotz seines Themas ist das Buch weder belehrend noch rührselig, sondern gleichermaßen nüchtern wie emphatisch – und eine Erinnerung daran, dass hinter jeder Meldung die Geschichte eines Menschen steckt.
[Frohmann, 144 S.]

E-Book-Singles: Kleine Texte mit großem Spielraum (1/2)

single3 Vor einem halben Jahr habe ich in einem Artikel über den Zustand der Verlagswelt bereits angerissen, dass ich E-Book-Singles derzeit für die interessanteste und innovativste Idee des Buchmarkts halte: kleine Texte mit großem Spielraum, die nur wenig kosten und wie gemacht fürs digitale Lesen sind. Anscheinend habe ich ein Faible für Underdogs, ein typischer deutscher Leser scheine ich jedenfalls nicht zu sein. Denn der interessiere sich nicht für das neue Textformat, stellte Die Welt jüngst in ihrem Feuilleton fest. Hiesige Käufer von E-Books „unterscheiden sich in ihren Vorlieben nicht wesentlich von den Käufern gedruckter Bücher. Sie wollen dicke Romane, Genreliteratur, Krimis, Thriller, Romantik, Sex. Und sie möchten auch auf dem Lesegerät keine unbekannten Autoren entdecken, sondern bleiben bei dem, was sie kennen“, schreibt Konstantin Richter. Auch Johannes Haupt, Betreiber von lesen.net, kommt aufgrund ihrer niedrigen Verkaufszahlen zu einem harschen Urteil über E-Book-Singles und bezeichnet sie gegenüber Deutschlandradio Kultur als Flop. Bei den Hanser Literaturverlagen, wo mit Hanser Box eine der prominentesten Single-Reihen publiziert wird, sieht man das anders. Als Reaktion auf den Welt-Artikel twitterte Verlagslektor Florian Kessler: Bildschirmfoto 2015-06-18 um 11.39.15 Meines Erachtens vertritt Kessler hier genau den richtigen Ansatz: Momentan sollten die kurzen E-Books nicht an den Maßstäben von Bestsellern, sondern nur an ihrem eigenen Potenzial gemessen werden. Ein neues Format braucht Zeit, um sich zu entwickeln und zu finden. Zunächst einmal müssen Grenzen ausgelotet, Möglichkeiten erkundet werden – und zwar sowohl seitens der Autoren als auch seitens der Leser. Das Format bietet Texten eine Chance, die andernfalls womöglich nie veröffentlicht würden: Manche literarischen Texte sind zu kurz oder speziell, um kostendeckend gedruckt zu werden, manche Essays oder Reportagen zu lang, um in Magazinen oder Zeitungen zu erscheinen. Nicht zuletzt entstehen inzwischen immer öfter Texte, die digitale Literatur als eigene Gattung begreifen und in Printform zwar möglich, aber unsinnig wären. Im Frohmann Verlag werden mitunter Tweets zu einem Buch zusammengefasst oder regelrechte MAXI-Singles wie das Mammutprojekt 1000 Tode schreiben veröffentlicht, bei Mikrotext können gesammelte Statusmeldungen aus Facebook den syrischen Bürgerkrieg reflektieren oder Chatprotokolle eine dramatische Flucht ins politische Asyl illustrieren.

Alles geht, nichts muss

Manche Texte funktionieren für das Format vielleicht besser als andere, aber ohne den wirtschaftlichen Zwang zum Erfolg sind die kostengünstig zu produzierenden E-Books eine erfrischende Abwechslung zu den oft ermüdend gleichförmigen, durchkalkulierten Programmen der Publikumsverlage. Ohne größeres Risiko können Autoren aus dem engen Markenkorsett, in das Agenten und Verlage sie zuweilen zwängen, ausbrechen und herumexperimentieren, sich ausprobieren. Kurzgeschichten, für die es in Deutschland noch nie einen nennenswerten Markt gegeben hat, finden eine Plattform außerhalb unverkäuflicher Erzählbände. Reportagen und Essays, denen es auf Seite drei der Süddeutschen zu eng ist, dürfen sich nun auch auf dreißig ausbreiten. Leser, die sich ihre Neugierde bewahrt haben, können sich von Texten wieder öfter überraschen lassen und neue Autoren entdecken. Das alles ist, was Florian Kessler meinte, als er davon sprach, dass E-Book-Singles vor allem eine Erweiterung seien.

Soviel zur schönen Theorie. (mehr …)