„Früher hatte ich immer Angst, dass mir was zustoßen würde. Dass ich im Schlaf von einem Einbrecher getötet würde. Dass ich auf der Straße überfallen, verstümmelt, vom Militär eingezogen, getötet würde. Und dann vergingen die Jahre, und nichts davon ist passiert, und das, was diese Leere gefüllt hat, war viel schlimmer.“
Manche Menschen finden erst spät zu ihrer Bestimmung. So auch Thomas: Um seinem Leben endlich Bedeutung zu verleihen, musste der arbeitslose Amerikaner erst 34 werden – und sieben mit Chloroform betäubte Menschen in einen verfallenen Militärstützpunkt verschleppen. Thomas nimmt nicht nur seine eigene Mutter, sondern unter Anderem auch einen ehemaligen Kongressabgeordneten und einen Astronauten als Geisel, weil er Antworten sucht. Denn eigentlich will Thomas bloß reden: über die Gründe für seine gescheiterte Biografie und den sinnlosen Tod seines Freundes Don. Und über ein Amerika, dem er an beidem die Schuld gibt.
Als ich im Januar über die Entwicklung von Dave Eggers als Autor schrieb, hoffte ich, dass er sich nach „The Circle“ einmal mehr neu erfinden könnte; sein neuer Roman „Eure Väter, wo sind sie? Und die Propheten, leben sie ewig?“ ist zwar abermals ein programmatisches, politisches Buch geworden, das sich nicht vor klaren, für manche vielleicht plakativen Botschaften scheut, stellt aber dennoch ein Novum in Eggers’ Schaffen dar. Seine zuletzt bereits reduzierte, fast karge Prosa – ein häufiger Kritikpunkt an seinem letzten Roman – beschränkt sich diesmal ausschließlich auf die Dialoge aus Thomas’ Verhören. Doch obwohl Eggers als Erzähler komplett in den Hintergrund rückt, werden seine politischen Ansichten so deutlich wie nie.
Die wütenden Verlierer
Sein Protagonist Thomas ist einer jener Zukurzgekommenen, die den Grund für ihr persönliches Scheitern stets bei Anderen suchen; er fühlt sich ohnmächtig und bedeutungslos angesichts einer immer komplexeren Welt, die keinen Platz für einen wie ihn zu haben scheint. Obwohl es schon immer einfacher war, den Finger auf Andere zu richten, als sich selbst zu hinterfragen, sind Menschen wie Thomas ein typisches Phänomen unserer Zeit: Ob Tea Party oder Pegida – den Wutbürger findet man derzeit sowohl diesseits als auch jenseits des Atlantiks. Auch die Eskalation von Blockupy in Frankfurt, Pauschalurteile über die sogenannte Lügenpresse oder das Erstarken rechtspopulistischer Parteien in halb Europa sind symptomatisch für den Vertrauensverlust der Politik und eine fehlende Identifikation mit ihren Akteuren.
Wie so viele macht Thomas vor allem Andere, insbesondere die da oben für seine Misere verantwortlich. Zwischen ihm und etwa den wütenden Verlierern von Pegida gibt es allerdings einen erheblichen Unterschied: Thomas ist zwar in der Wahl seiner Mittel radikal, nicht jedoch in seinen Ansichten. Im Gegensatz zu einem Lutz Bachmann würde er wissen, dass der Zweifingerbart nicht zur Ironisierung taugt und er nicht der Mops unter den Bärten, sondern der Rottweiler unter den Gesten ist. Trotz seines im Laufe des Romans immer offensichtlicheren Wahns steht Thomas eigentlich auf der richtigen Seite und stellt die richtigen Fragen, zieht manchmal sogar die richtigen Schlüsse. Während seines Tribunals legt er den Finger in die offenen Wunden eines zerrissenen und kranken Landes, das in vielem dem verfallenen Militärstützpunkt gleicht, in dem sich Thomas mit seinen Geiseln versteckt. Für das gewaltige Grundstück, das von einstiger Größe und Bedeutung zeugt, hat niemand mehr Verwendung, geschweige denn eine Idee. Thomas will wissen, wie der Nation das Geld für Bildung und Schulen fehlen kann, wenn sie doch Jahr für Jahr mehr ins Militär und ungewünschte Kriege steckt; will wissen, wie es möglich ist, dass ein verwirrter junger Vietnamese im eigenen Garten von Polizisten geradezu durchsiebt wird, ohne dass es zu einer Untersuchung kommt. Er sehnt sich nach einem Amerika, das inspiriert anstatt zu beschämen, wünscht sich für seine Generation eine Aufgabe, einen Plan. Doch obwohl Thomas in vielem Recht hat, stilisiert er sich als ein Opfer, das er nicht ist: Durch seine Mutter erfahren wir, dass er bereits als Kind wütend und unselbstständig war, er später weder eine Beziehung führen noch einen Job halten konnte. Sein Zorn macht Thomas unberechenbar und gefährlich.
Ein Land in der Identitätskrise
Man spürt, wie viel von Eggers in Thomas steckt; die Frustration über den Zustand der USA ist echt, aber umso schärfer, polemischer, indem er sie einem Geisteskranken in den Mund legt. Einmal mehr zeigt Eggers in seinen Büchern Haltung. Das werden manche – besonders im deutschen Feuilleton – besserwisserisch und belehrend finden, vielleicht sogar platt. Und sie hätten womöglich Recht, richtete sich Eggers primär an deutsche Leser mit eurozentrischem Weltbild. Angesichts der politischen Kultur der USA – gerade in den vergangenen Jahren – ist das, was hier gerne als plakativ und allzu moralisch abgestempelt wird, dort allerdings eine wichtige Stimme der Vernunft in einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft, in der Eggers‘ Positionen eben kein Meinungsmainstream sind. Als deutschem Autor würde ich ihm wahrscheinlich viel weniger durchgehen lassen, mir von einem Roman wie diesem mehr Ambivalenz, mehr Zweifel wünschen. Aber in einem Land, in dem Kompromiss und Liberalität als Schimpfworte gelten, während tendenziöse Medienanstalten wie Fox News die politische Kultur vergiften, einem Land, in dem die Waffenlobby als unantastbar gilt, aber ausgerechnet eine Krankenversicherung die Gemüter erhitzt, darf und muss man als Autor Haltung zeigen können.
Der vorhersehbare (und durchaus zynische) Gutmensch-Reflex mancher Rezensenten lässt vollkommen außer Acht, wo und für wen Dave Eggers als Schriftsteller hauptsächlich wirkt. „The Circle“ hat sich nirgends in der Welt so gut verkauft wie in Deutschland; das ist im Land der digitalen Bedenkenträger, das dank der Verpixelung ganzer Straßenzüge bei Google Street View womöglich schlechter repräsentiert ist als Nordkorea, allerdings auch keine Überraschung. Dennoch hat Eggers seinen neuen Roman nicht für uns geschrieben. In „Eure Väter, wo sind sie? Und die Propheten, leben sie ewig?“ geht es nicht um ein globales Phänomenen, sondern allein um die USA und deren Missstände. Will man dieses Buch begreifen, muss man die politische Kultur der Vereinigten Staaten und das Selbstverständnis ihrer Bürger, den american way of life, berücksichtigen. Die Identifikation mit der eigenen Nation – als auserwähltes Volk! – ist das, was die US-Bürger trotz all ihrer Unterschiede eint. In Dave Eggers’ Roman ist die Figur des Thomas stellvertretend für die vielleicht schwerste Identitätskrise der USA seit ihrem Bestehen. Immer weniger Bürger fühlen sich von Washington repräsentiert; nach zwei Amtszeiten unter Bush und Cheney folgte mit Obama ein Präsident, der viele großen Hoffnungen enttäuschte und dank der unerbittlichen Spaltung zwischen Demokraten und Republikanern kaum noch handlungsfähig ist. Thomas hat den Glauben an den amerikanischen Traum verloren, den Glauben daran, dass jeder seine Chance bekommt, wenn er nur hart genug dafür arbeitet. Wie soll er sich mit einem Land identifizieren, das seine Bürger nicht mehr stolz, sondern ratlos macht, sie mitunter sogar beschämt?
Thomas ist enttäuscht. Von einem Land, das das Versprechen seines Traumes schon lange nicht mehr einlöst. Und von einer Mutter, die ihm nie beigebracht hat, für seinen zu kämpfen. Also nimmt Thomas sein Schicksal nun endlich in die eigene Hand – koste es, was es wolle…