Mit Jesse Bronske stimmt was nicht. Ständig weint er. Oder brüllt in Gesprächen, ohne es zu merken. Immer öfter lässt ihn sein Gedächtnis im Stich, spielt ihm seine Wahrnehmung einen Streich. Und dann ist da diese Angst, die ihn wieder trinken lässt. Die ihn dazu bringt, sich eine Waffe zu besorgen und niemandem mehr zu trauen, nicht einmal seiner Freundin Mona. Vielleicht stimmt es ja, was sie sagt: dass er sich verändert habe und Hilfe brauche. Genauso gut könnte Mona aber – womöglich sogar, ohne es zu wissen – mit Aaron unter einer Decke stecken. Denn das ist Jesses große Angst: dass ihn sein Zwillingsbruder nach all den Jahren ausfindig gemacht hat und nun den perfiden Plan verfolgt, ihn heimlich zu ersetzen.
Viel zu holen gibt es in Jesses Leben eigentlich nicht. Die tägliche Tristesse in seiner Supermarktkneipe Kleine Maus, die eigentlich mal Klaus Meine hieß, erträgt Jesse schon lange nicht mehr. Tagein, tagaus dieselben Alkoholiker mit denselben schalen Witzen am Tresen und denselben Scorpions-Songs im Player. Noch deprimierender ist bloß der Blick auf den Supermarktparkplatz vorm Fenster: eine permanente Erinnerung ans gescheiterte Leben der Eltern, die einst mit einem Parkplatzimbiss ihr Geld verdienten und dabei ihre Würde verloren. An die Kindheit mit einem gebrochenen Elvis-Imitator als Vater. Und an eine Mutter, die die Familie im Stich ließ, um ein neues Leben anzufangen, es aber nur bis ans andere Ende der Straße schaffte. Nach dem Tod des Vaters und dem Bruch mit Aaron gibt es nur noch wenige Konstanten in Jesses Leben. Klar, da ist Mona, die sonnenbankgebräunte Supermarktkassiererin. Allerdings machen sich in der Beziehung inzwischen erste Ermüdungserscheinungen bemerkbar – und zwar nicht nur, weil Jesse seiner Freundin Schlaftabletten ins Essen mischt, um abends alleine zu sein. Wirklich Halt geben kann Jesse nur einer, und das ist Klaus Meine. Jesse hat nicht nur seine Kneipe nach dem Scorpions-Sänger benannt, sondern fährt, wenn es ihm schlecht geht, auch gerne mal zu dessen Haus und macht Fotos von seinem Garten. Vor allem schreibt er ihm aber Briefe. Klaus Meine kann Jesse alles erzählen – sogar über Aaron, von dem nicht einmal Mona etwas weiß. Als Jesse glaubt, seinen Zwillingsbruder nachts im Maisfeld vor dem Haus zu sehen, gerät sein schon lange ins Wanken geratene Leben endgültig aus den Fugen…
Superbuhei, so heißt der Supermarkt, in dem Mona und Jesse arbeiten. Der Debütroman von Sven Amtsberg wäre in einem ebensolchen nur schwer einzusortieren: einerseits Groteske über die Hölle der Vorstadttristesse, andererseits Psychogramm eines Mannes am Rande des Nervenzusammenbruchs. Und obwohl zumeist der verschrobene Humor im Vordergrund steht, liest sich der Roman stellenweise fast wie ein Thriller. Tatsächlich ist Superbuhei trotz seiner Skurrilität überraschend melancholisch und düster: als hätte Wes Anderson einen Psychothriller über die niedersächsische Provinz gedreht. Amtsberg kann schreiben und treffsicher amüsieren, nicht immer gelingt ihm jedoch die richtige Balance zwischen Komik und Ernst. Mancher Handlungsbogen ist etwas überspannt, vor allem aber steht die permanente Überzeichnung seiner Figuren der Empathiebildung im Weg. Verglichen mit artverwandten Romanen wie Herr Lehmann von Sven Regener oder Heinz Strunks Fleisch ist mein Gemüse fehlt es Superbuhei manchmal an Erdung. Das ändert jedoch nichts daran, dass Sven Amtsberg mit seinem Debüt einen hochkomischen und tieftraurigen, vor allem aber überraschenden Roman vorgelegt hat, der neugierig auf seinen nächsten macht.
Sven Amtsberg: Superbuhei. Erschienen bei der Frankfurter Verlagsanstalt, 360 Seiten.