Am Ende herrscht Stille im Saal der Alten Feuerwache. Sie bildet die Klammer des Abends über Roger Willemsens Liebe zur Musik. Musik werde aus der Stille geboren, aus der Ruhe der Betrachtung, hieß es im ersten vorgetragenen Text aus seinem Nachlass. Was die Stille mit der Musik verbinde, glaubte er, sei das Gefühl, ganz bei sich zu sein. Dies trifft auf viele Gäste und besonders die Veranstalter an diesem Abend aber nur bedingt zu: Sie sind mit ihren Gedanken am Ende nämlich ganz beim 2016 verstorbenen Roger Willemsen. Auch wenn es niemand so bezeichnet, ist die lange Stille eine Schweigeminute für den Mann, der für immer untrennbar mit lesen.hören verbunden sein wird. Willemsen war ab der ersten Ausgabe 2007 bis 2015 Schirmherr und Moderator, ab 2013 auch Programmleiter des Literaturfestivals – und egal, mit wem man vor Ort spricht: Er fehlt schmerzlich. Trotzdem ist Musik höre ich wehrlos keine Trauerveranstaltung, im Gegenteil. Stattdessen wollen alle Beteiligten, darunter auch ehemalige Wegbegleiter Willemsens, auf der Bühne seine große Leidenschaft für Musik feiern.
„Mit Roger gemeinsam Musik zu hören, war immer etwas Besonderes“, sagt Insa Wilke, die nach seinem Tod nicht nur die Programmleitung von Willemsen übernahm, sondern auch zu seiner Nachlassverwalterin wurde. „Er hat stets auch die Geschichten und Gefühle hinter den Liedern gehört.“ Obwohl er gerne und oft über Musik sprach, hat er zeitlebens leider kein Buch über sie geschrieben. Dafür aber etliche Texte, die er für Auftritte, Kolumnen, Booklets verfasst hatte. Wilke stellte hundert von ihnen für die 2018 erschienene Sammlung Musik! Über ein Lebensgefühl zusammen und ist davon überzeugt, dass Willemsen mit dieser Veröffentlichung einverstanden gewesen wäre.
Ehrfurcht und Verachtung
Das gilt ganz sicher auch für die Gestaltung des Abends. Die Texte werden grandios von den Schauspielern Markus John und Marion Mainka vorgetragen, mit letzterer hatte sich Willemsen oft die Bühne geteilt. Auch mit dem Pianisten Frank Chastenier vom gleichnamigen Jazz-Trio verband den Intellektuellen eine lange gemeinsame Geschichte. Die Band gibt an diesem Abend musikalische Antworten auf die gelesenen Texte. Anstatt die Songs, über die Willemsen schrieb, bloß nachzuspielen, spürt sie den Empfindungen nach, die er in ihnen erkannte: Lebendigkeit. Liebe. Schmerz. Nicht nur für Jazz-Enthusiasten eine beeindruckende Performance, immer wieder brandet noch während der Stücke Applaus auf.
Architektur und Musik seien die einzigen Künste, die Räume erschaffen könnten, so Willemsen. Und tatsächlich: Während man seinen Essays über Kindheitserinnerungen an Spielmannszüge und Kirmesmusik oder die Biografien genialer Jazz-Musiker lauscht, wähnt man sich beinahe in seinem Wohnzimmer beim gemeinsamen Hören. Über Musik schrieb Willemsen fachkundig, ohne fachzusimpeln – immer spielte auch das ehrliche Interesse an dem Menschen hinter ihr eine Rolle, die Ehrfurcht vor der Magie, die Musik gleichermaßen aus dem Nichts wie aus dem Innersten heraus entstehen lässt. Umso offenkundiger war deshalb auch seine Verachtung gegenüber jener Musik, die sich lediglich als Ware begreift. Willemsens beißend ironischer Text über Modern Talking und Helene Fischer („das größte gemeinsame Einfache“) brachte das Publikum in der Alten Feuerwache immer wieder zum Lachen und sorgte damit für die richtige Dosis Auflockerung in einem ansonsten angemessen feierlichen Programm.
Musik, fand Willemsen, sei wie eine Landschaft. Wer unterwegs sein wolle, müsse sich verlieren können und Dinge hinter sich lassen. Eines an diesem Abend wird jedoch klar: Nur weil wir Roger Willemsen verloren haben, müssen wir ihn noch lange nicht hinter uns lassen. Dafür hat er uns in den Texten, die er hinterließ, noch viel zu viel zu sagen.
Roger Willemsen: Musik! Über ein Lebensgefühl. Herausgegeben von Insa Wilke, erschienen 2018 bei S.Fischer, 512 Seiten. Hier entlang zu meiner Besprechung von Roger Willemsens Wer wir waren.