Die Szenen wiederholen sich Nacht für Nacht: Menschen, die auf fahrende Züge aufspringen und sich 50 Kilometer lang an ihnen festhalten müssen, ehe sie ihr Ziel erreicht haben. Menschen, die sich auf der Autobahn in LKW schmuggeln und Plastiktüten über ihre Köpfe ziehen, um sich nicht durch ihren Atem zu verraten. Menschen, die sich beim Versuch, nach England zu gelangen, die Knochen brechen oder sterben, weil sie lieber den Tod in Kauf nehmen, als ohne Hoffnung leben zu müssen. Es sind Menschen wie wir, die das Pech hatten, am falschen Ort geboren worden zu sein. Während uns die Fahrt durch den Eurotunnel von Calais nach England gerade einmal 14 € kostet, bezahlen viele von ihnen mit dem Leben.
„Wenn du länger als eine Minute keinen geflüchteten Menschen mehr gesehen hast, dann bist du nicht mehr in Calais.“
Über den „Dschungel“ von Calais, wo derzeit geschätzt 6000 Geflüchtete auf dem Gelände einer ehemaligen Mülldeponie in der Nähe des Eurotunnels gestrandet sind, ist inzwischen häufig berichtet worden – an manchen Tagen trifft man dort gefühlt vermutlich fast so viele Journalisten wie freiwillige Helfer an. Aktuell ist das Lager im Fokus, weil es unter Protesten seiner Bewohner in Teilen geräumt wurde und verkleinert werden soll; auch die Stürmung einer Fähre nach Großbritannien durch 50 Geflüchtete erregte jüngst wieder mediales Aufsehen.
Angefixt von einem YouTube-Video reist auch der Autor und Streetworker Hammed Khamis, der sich zuvor bereits ehrenamtlich im Auffanglager in Moabit engagiert hat, im Sommer 2015 nach Calais, um in einem Blog über die Menschen im „Dschungel“ zu berichten – und um ihnen zu helfen. Ende Januar erscheint sein Erfahrungsbericht „I am not animal“ – Die Schande von Calais – als erster Titel der Reihe An einem Tisch – als Buch im Frohmann Verlag.
„Der Dschungel von Calais ist so was wie ein Festivalgelände. Nur ohne den Fun.“
Khamis, der von den Einwohnern in Calais selbst für einen Geflüchteten gehalten und geschnitten wird, sobald er ohne Kamera unterwegs ist, findet im „Dschungel“ ein wahres Parelleluniversum vor: ein riesiger Slum mitten in Europa, aufgeteilt in Kommunen für Afghanen, Pakistanis, Iraner, Sudanesen und Ostafrikaner. Die Geflüchteten haben aus ihrer Not eine Tugend gemacht und sich eine regelrechte Infrastruktur errichtet. Im Lager gibt es nicht nur kleine Läden und Imbisse, sondern auch eine Shisha-Bar und einen Friseursalon; es wird nicht nur Fußball oder Cricket gespielt, sondern auch im Fitnessstudio trainiert oder in den Puff gegangen. Khamis trifft auf einen Mann, der sich innerhalb von zwei Wochen ein zweistöckiges Haus aus Holz gebaut hat und lernt den Priester einer beeindruckenden Kirche aus Plastik kennen. All dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, unter welch würdelosen Zuständen die Menschen im „Dschungel“ leben müssen.
Der Gestank des allgegenwärtigen Mülls ist an manchen Stellen kaum auszuhalten. Viele Bewohner besitzen nicht mehr als die Kleidung an ihrem Leib und manche von ihnen nicht einmal das. Der alltägliche Bedarf – Essensausgabe, Waschstellen, Toiletten, Steckdosen – ist von langen Wartezeiten und Mangel geprägt. Und so ist es kein Wunder, dass viele Bewohner jede Nacht aufs Neue versuchen, aus Calais ins ersehnte England zu fliehen – obwohl diejenigen, denen die Flucht gelingt, dort zumeist am harten Asylrecht scheitern. Und es ist kein Wunder, dass die Verzweiflung der Geflüchteten immer wieder zu Auseinandersetzungen mit der Polizei führt. In eine solche geraten auch Khamis und seine Mitstreiter – ein Dokumentarfilmteam aus Hamburg – hinein, als es mitten auf der Autobahn zu einer spontanen Demonstration kommt: Etliche Geflüchtete stehen plötzlich hunderten Polizisten gegenüber, die schon bald zu Tränengas und Schlagstöcken greifen. Eine bedrückende und erschütternde Szene, die nicht nur bei Khamis, sondern auch beim Leser nachwirkt. (mehr …)