E-Book-Singles: Kleine Texte mit großem Spielraum (2/2)

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Ich muss zugeben: Die große Resonanz auf den ersten Teil meines Artikels hat mich überrascht. Virale Phänomene kannte ich persönlich bislang nur aus der KiTa-Eingewöhnung meiner Tochter, entsprechend erstaunt war ich darüber, wie oft mein Text in den ersten Tagen nach seiner Veröffentlichung retweetet wurde. Krönung des Ganzen war ein Crossposting im Blog des Buchreports und schließlich sogar der Abdruck in dessen Magazin. Fast zeitgleich schrieb meine geschätzte Bloggerkollegin Mara Giese über ihre Eindrücke von der Electronic Book Fair und wurde daraufhin im Perlentaucher bei Spiegel Online verlinkt. Entgegen mancher Meinung, dass es keinen nennenswerten Markt für digitale Literatur, insbesondere Formate wie E-Book-Singles gäbe, scheint also großes Interesse an dem Thema zu bestehen – ein Grund mehr, an dieser Stelle wie angekündigt einige aktuelle Titel exemplarisch vorzustellen.

Nora Bossong: Schnelle Nummer (Hanser Box)

schnellenummerMit dem Begriff Stundenhotel assoziierte Nora Bossong vor der Recherche für Schnelle Nummer nicht nur Anrüchigkeit, sondern vor allem auch etwas Anachronistisches. „Indes weit gefehlt: Es gibt sie noch, zahlreich mitunter in Großstädten, gewaltig in der Bandbreite, vom schäbigen Verrichtungsraum in Straßenstrichnähe bis zum samtweichen Luxusetablissement.“ In ihrem Essay widersteht die Autorin der Versuchung einer allzu voyeuristischen Milieustudie und schildert ihre subjektiven, oft ernüchternd gewöhnlichen Eindrücke von Stundenhotels in Deutschland und Österreich, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Während in den meisten Häusern noch die Prostitution im Vordergrund steht, bieten andere geradezu ein Wellness-Angebot, in dem Paare dem Alltag entfliehen, mitunter sogar Hochzeitsnächte verbringen; in Zeiten von Tinder und Seitensprungportalen sind Stundenhotels inzwischen auch beliebter Treffpunkt für unverbindlichen Sex zwischen Fremden. In Schnelle Nummer kommen aber nicht nur schillernde Figuren wie „Onkel Lulli“ aus einem Freierforum zu Wort, sondern auch Freud und Foucault: In ausführlichen kultur- bzw. literaturgeschichtlichen Exkursen beleuchtet Bossong Stundenhotels im Lichte gesellschaftlicher und politischer Veränderungen und arbeitet nationale Unterschiede heraus. Leider geht sie in diesem Zuge nicht auch Phänomenen wie etwa den Zeitehen im schiitischen Islam auf den Grund: Eheverträge, die Prostitution und Sex außerhalb fester Bindungen legitimieren, weil sie auch lediglich für 30 Minuten im Stundenhotel geschlossen werden können. Dennoch ist Nora Bossong ein anspruchsvoller wie unterhaltsamer Essay über eine Parallelwelt mit verspiegelten Zimmern und Zewa-Rollen auf Nachttischen gelungen, der gerade aufgrund seiner Länge gewinnt.

Michaela Maria Müller: Vor Lampedusa (Frohmann)

tumblr_inline_nmsbeswop61ryyflu_500Auf Michaela Maria Müllers Essay über ihre Recherchereise nach Lampedusa im Dezember 2013 trifft die Bezeichnung Single ausnahmsweise gut zu: Der Text ist ein Vorabauszug aus ihrem dokumentarisch-literarischen Buchprojekt über das Schicksal eines somalischen Paares auf der Flucht. In Vor Lampedusa schildert die Journalistin und Autorin ihre Eindrücke von einem Ort, der inzwischen wie kein zweiter für das unaufhörliche Sterben im Mittelmeer und das Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik steht: ein guter, wichtiger Text, weil er – anders als sachliche Meldungen, die offenbar nur noch nach besonders dramatischen Unglücken betroffen machen können – veranschaulicht, welche menschlichen Tragödien sich tagtäglich vor der italienischen Küste abspielen. Wenn Müller in einem Wrack auf dem Schiffsfriedhof Lampedusas die Habseligkeiten von Flüchtlingen findet, verwandeln sich Opfer aus der gesichtslosen Masse plötzlich zu Menschen aus Fleisch und Blut. Menschen mit einer Geschichte. „Auch die Karte ist vom Salzwasser zerfressen. […] Zwei Hände bilden ein schützendes Dach über einem Menschen: das Symbol des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen. Es sind die Reste einer Lebensmittelkarte. Auf ihr ist handschriftlich ein Name vermerkt. Das Meerwasser ließ nur den Vornamen leserlich zurück: Ayanna.“ Trotz manch erschütternder Textstelle ist Michaela Maria Müllers Vor Lampedusa weder belehrend noch rührselig geraten. Ihre Beobachtungen sind gleichermaßen nüchtern wie empathisch. Keinen Zweifel lässt die Journalistin jedoch am Ausmaß der Tragödie, besonders, wenn sie Albert Camus zitiert, als er die Atmosphäre in den pestverseuchten Städten Italiens beschreibt: „Dann wird man verstehen, wie ungemütlich der Tod, auch der moderne Tod sein kann, wenn er einen an solch gefühllosem Ort ereilt.“ Vor Lampedusa ist ein wichtiger Essay. Und der Vorbote eines Buches, über das man – hoffentlich – noch reden wird.

Faiz / Julia Tieke: Mein Akku ist gleich leer (Mikrotext)

Cover-Faiz-Julia-Tieke-Mein-Akku-ist-gleich-leer-mikrotext-2015-400pxDie Flucht vor einer humanitären Katastrophe steht auch bei Mein Akku ist gleich leer im Fokus: Das Chatprotokoll zwischen der deutschen Studentin Julia Tieke und dem syrischen Flüchtling Faiz dokumentiert eine monatelange Odyssee durch Südosteuropa, die vom Mut der Verzweiflung geprägt ist. Weil Faiz aufgrund seines zivilgesellschaftlichen Engagements die Enthauptung durch den IS droht, versucht er sich gemeinsam mit anderen Syrern nach Deutschland durchzuschlagen. Ihre Flucht führt sie in die Türkei und von dort nach Griechenland, droht jedoch in Mazedonien und Serbien immer wieder aufs Neue zu scheitern. Gleich mehrfach werden sie verhaftet, geschlagen und zurückverfrachtet; vierzig Kilometer lange Fußmärsche mit ungewissem Ausgang sind keine Seltenheit, klamme Nächte in Wäldern voller Moskitos die Regel. In seinen Chats mit Julia schreibt Faiz, dessen Sarkasmus zunehmend offener Verzweiflung weicht, lakonisch über die Demütigungen, die ihm und seinen Mitstreitern beinahe täglich widerfahren, und dokumentiert ihren entbehrungsreichen Alltag mit Fotos von seiner Handykamera. Immer öfter muss Julia ihm Mut zusprechen; umso beklemmender wirkt die Funkstille, wenn Faiz wieder einmal aufgegriffen und tagelang in Gefängnissen mit unmenschlichen Zuständen festgehalten wird. Man sollte Mein Akku ist gleich leer nicht als Text mit literarischem Anspruch verstehen, sondern vielmehr als ein Dokument der Hilflosigkeit von Menschen, die sich von der Internationalen Gemeinschaft zurecht im Stich gelassen fühlen. Darüber hinaus ist diese Veröffentlichung ein gutes Beispiel für die Aktualität und die Textsorten, die mit digitaler Literatur möglich sind. Vor allem kann sie Menschen, die ansonsten vielleicht ungehört blieben, eine Stimme geben – so zum Beispiel auch dem syrischen Flüchtling Aboud Saeed, dessen Texte ebenfalls bei Mikrotext erschienen sind.

Jan Fischer: Ihr Pixelherz (Mikrotext)

ISBN 978-3-944543-23-9

ISBN 978-3-944543-23-9

Nach zwei Essays und einem Text mit dokumentarischem Charakter möchte ich zuletzt auch eine belletristische E-Book-Single vorstellen. In seiner Erzählung Ihr Pixelherz schreibt Jan Fischer über eine amour fou in der virtuellen Welt des second life, die schon bald die Oberhand über das echte Leben gewinnt. „Ich sah sie zum ersten Mal zwischen Grafikfehlern an einem Nacktbadestrand. Die Palmen neigten sich in kalkulierten Winkeln Richtung Wasser und schwankten in Zufallssequenzen, als gäbe es Wind, die Sonne ging nie unter, sie hing starr immer an derselben Stelle im Hintergrund.“ Nach dieser ersten Begegnung mit der geheimnisvollen Fremden schlägt sich der Erzähler die Nächte um die Ohren, um mit ihr die künstlichen Welten der Online-Community zu erkunden. Er zieht sich immer weiter zurück und setzt damit nicht nur die Beziehung zu Freundin Anna, sondern auch seinen Job aufs Spiel. In einer geradezu paranoiden Verschränkung verschwimmen jedoch zusehends die Grenzen zwischen echter und virtueller Realität; sie lösen sich genauso auf wie die Bindungen des Erzählers, der – soviel sei verraten – schließlich in beiden Welten alleine ist. Ihr Pixelherz ist ein digitaler Text über digitale Verwahrlosung, der genauso gut Teil eines klassischen Erzählbandes sein könnte. Es ist fast ein bisschen schade, dass angesichts der Thematik die Möglichkeiten digitalen Erzählens nicht noch weiter ausgelotet wurden – besonders visuell wäre hier einiges möglich gewesen. Auch Jan Fischers Essay über die digitalen Ruinen des second life hätte sich gut als „Bonusmaterial“ geeignet. Andererseits hat seine gelungene Erzählung etwaige Spielereien eigentlich nicht nötig: Sie trägt sich nämlich auch ganz altmodisch selbst.

6 Kommentare

  1. Ich habe „Mein Akku ist gleich leer“ gelesen. Ehrlich gesagt konnte ich mit diesem Text sehr wenig anfangen. Ich denke mir liegen solche kurzen Texte überhaupt nicht. Im besagtem Buch war mir zwar die Thematik klar, doch mir war das Ganze nicht ausgereift genug. Für mich etwas zu oberflächlich. Ich hätte mir gewünscht tiefer in das Thema eintauchen zu können.

    Sicherlich, diese Texte sind oftmals so ausgelegt, dass man sich damit auch nach dem Lesen noch beschäftigt. Ehrlich gesagt ist es bei mir eher umgekehrt … wenn ich so wenig Info bekomme, reizt es mich nicht sonderlich mehr zu erfahren.

    Aber das ist ja auch nur meine Meinung … 🙂

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    1. „Mein Akku ist gleich“ ist da sicher ein Spezialfall, weil sich der Text ja aufs rein Protokollarische beschränkt. Das Schöne an diesem Format ist ja, dass solche Textformen darin einfach ausprobiert werden können – ob so ein Experiment gelungen ist oder nicht, liegt dann natürlich im Auge des Betrachters. Aber ich kann deine Kritik durchaus nachvollziehen und schrieb deshalb auch, dass man dieses Beispiel nicht unbedingt nach literarischer Qualität bewerten sollte.

      Anderen Texten solltest du auf jeden Fall mal eine Chance geben – es gibt ja auch oftmals ganz klassische Kurzgeschichten oder Essays/Reportagen, die über das, was man in Zeitungen und Magazinen liest, hinausgehen können. Das Thema sollte einen aber natürlich interessieren. 🙂

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