In David Gilberts Roman „Was aus uns wird“ dreht sich alles um einen gealterten Schriftsteller, der sich vor Jahrzehnten gleich mit seinem Debüt, einem gefeierten Coming-of-age-Roman, in den Literaturkanon Amerikas schrieb und später zur Legende wurde, weil er sich aus der Öffentlichkeit zurückzog und als Autor verstummte. Die Parallelen sind kein Zufall, dennoch ist A.N. Dyer keine fiktionalisierte Version J.D. Salingers, sein Roman „Ampersand“ kein Chiffre für den „Fänger im Roggen“: Salinger ist lediglich der Maßstab für A.N. Dyers Status als Autor.
Doch Andrew Dyers Erfolge als Schriftsteller liegen lange zurück – inzwischen ist er nicht nur alt und gebrechlich, sondern hat auch längst seine Stimme verloren: Seit seiner letzten Veröffentlichung sind Jahrzehnte vergangen. Selbst die Grabrede für seinen besten Freund, Charlie Topping, traut sich Andrew nicht mehr zu und lädt sich stattdessen einen seelenlosen Standardtext aus dem Netz. Das Begräbnis seines Kindheitsfreundes veranlasst ihn jedoch dazu, seine entfremdeten Kinder für ein womöglich letztes gemeinsames Familientreffen nach New York einzubestellen. Andrew Dyer will aber nicht nur seine Angelegenheiten regeln, sondern vor allem ein lange gehütetes Geheimnis lüften.
Franzen lässt grüßen
Die Anlage von David Gilberts Roman erinnert zunächst stark an Jonathan Franzens „Die Korrekturen“: Im Vordergrund stehen die gescheiterten Biografien der Kinder, die zu einer letzten Familienzusammenkunft gedrängt werden, während eine übergeordnete Handlung – hier: die New Yorker Literaturszene und der lange Schatten des Jahrhundertromans „Ampersand“ – die Erzählstränge beisammenhält. Wie so häufig ist der Nachwuchs im Schatten eines großen Mannes verkümmert. Andrew Dyer war kein besonders guter Vater, entsprechend schlecht ist das Verhältnis zu seinen erwachsenen Söhnen Richard und Jamie, die bislang nur wenig im Leben erreicht haben. Ex-Junkie Richard, inzwischen Familienvater und Drogenberater, hofft auf den großen Durchbruch als Drehbuchautor, wird aber nur deshalb von einem Hollywood-Star hofiert, weil dieser auf die Filmrechte von „Ampersand“ schielt. Jamie reist dagegen mit seiner Kamera als Elendstourist durch die Welt und dokumentiert in Kurzfilmen das reale Grauen, ohne etwas dabei zu empfinden. Ihr Stiefbruder Andy – zumindest offiziell das Ergebnis eines Seitensprungs, der die Ehe der Dyers zerstörte – ist den beiden fremd. Der erst siebzehnjährige Andy lebt alleine bei seinem immer anhänglicheren Vater und will eigentlich nur eines: endlich seine Jungfräulichkeit verlieren.
So weit, so Franzen – wäre da nicht noch Philip Topping, Sohn des verstorbenen Charly und Erzähler des Romans. Philip ist nicht bloß ein großer Bewunderer A.N. Dyers, sondern sehnte sich schon immer danach, Teil von dessen Familie zu sein. In Sachen Scheitern steht Philip seinen Wunschbrüdern in nichts nach: Er ist als Lehrer suspendiert, hat nach einer Affäre seine Familie verloren und wird vermutlich nie über den Status eines Möchtegern-Schriftstellers hinauskommen. Viel stärker nagt an ihm jedoch die Ablehnung, die er bereits als Kind durch Richard und Jamie erfahren hat; sie haben Philip nie als ihresgleichen akzeptiert, sondern bloßgestellt und gehänselt, wann immer sich ihnen die Gelegenheit bot. Dass ausgerechnet ihr Opfer Philip, seit Kindheitstagen gequält von unerwiderter Zuneigung, über ihr Leben schreibt, macht ihn zu einem höchst unzuverlässigen Erzähler, dem man als Leser (und als Dyer!) nicht trauen sollte. Philip bleibt zwar immer in der Nähe der Figuren – teils, weil er nach dem Rauswurf seiner Ehefrau und dem Tod seines Vaters einige Tage bei Andrew wohnen darf, teils, weil er den Dyers wie ein Stalker nachspürt -, ist aber nur an den wenigsten Szenen des Romans unmittelbar beteiligt. (Vorsicht, beim Weiterlesen drohen Spoiler!)
Vom Chronisten zum Täter?
Die Frage, ob Philips Ausführungen wahr, bloß ein wenig ausgeschmückt oder schlichtweg erfunden sind, muss jeder Leser für sich selbst beantworten. Das gilt ganz besonders für Andrew Dyers Enthüllung gegenüber Jamie und Richard, dass der siebzehnjährige Andy nicht etwa sein Sohn, sondern in Wahrheit ein Klon von sich sei. Er bittet seine Kinder darum, sich nach seinem Tod um Andy zu kümmern und dafür zu sorgen, dass dieser – anders als er selbst – ein glückliches und erfülltes Leben führe; er solle einen anderen Weg als den der Schriftstellerei einschlagen, die Andrew zwar Geld und Ruhm, aber keine Zufriedenheit einbrachte. Zunächst als narzisstischer Wahn oder die Verwirrung eines alten Mannes abgetan, wird Andrews aberwitzige Behauptung im Verlauf der Handlung immer wahrscheinlicher – wenn man denn Philip Topping Glauben schenken darf. Dieser kommt jedoch einem ganz anderen erschütternden Geheimnis auf die Schliche, das mindestens als Motiv für Verleumdung, womöglich sogar Schlimmeres taugt. Es war vor allem die Freundschaft seines Vaters zu A.N. Dyer, die diesen zeitlebens unglücklich und unnahbar machte. Keimzelle von Dyers Ruhm war nichts anderes als eine fortwährende Demütigung Charly Toppings: Andrew schlachtete die unerwiderte Zuneigung seines besten Freundes schamlos für seinen Roman „Ampersand“ aus und machte Charly zu einer armselig schwächlichen Romanfigur. Philip selbst wird damit zum Opfer in zweiter Generation, ein Schwächling, der genau wie sein Vater von den Dyers ausgenutzt und lächerlich gemacht wird.
Die Geschichte, die uns Philip Topping erzählt, ist also vielleicht bloß eine späte Rache an der Ikone A.N. Dyer, vielleicht aber auch eine – symbolische oder gar irre – Rechtfertigung für die erschütternde Wendung am Ende des Romans, die den Chronisten womöglich zum Täter macht: Im Gegensatz zu seinem gealterten Ebenbild muss Andy sterben, ehe er seine Unschuld verlieren, sich schuldig machen kann. Philip Topping verweigert A.N. Dyer die Chance auf ein zweites, glücklicheres Leben ohne das schwelende Schuldgefühl, seinen besten Freund verraten zu haben.
Der Clou des Romans – sein unzuverlässiger Erzähler – unterscheidet ihn von den vergleichbaren Werken Franzens und seiner Epigonen; es bleibt nicht nur unklar, inwieweit das Erzählte glaubwürdig ist, sondern auch, ob wir es nicht bloß mit einem Roman im Roman, einer fiktionalen Abrechnung des Autors Topping mit A.N. Dyer und seinem „Ampersand“ zu tun haben. Das Besondere von „Was aus uns wird“ ist jedoch zugleich sein größtes Manko: Während etwa Jonathan Franzen Figuren schafft, die glaubwürdig und echt wirken, müssen wir diejenigen in Gilberts Roman ständig in Frage stellen, sie immer wieder aufs Neue bewerten. Empathie ist so nur schwer möglich. Dennoch ist Gilbert mit „Was aus uns wird“ – der englische Titel „& sons“ ist übrigens weitaus passender – ein sehr unterhaltsamer, doppelbödiger Roman gelungen, der vor allem dank seiner offenen Fragen an Vielschichtigkeit gewinnt.