Verbrecher Verlag

#Stayhomeandreadabook: Bücher gegen den Lagerkoller (1)

War das hier nicht mal ein Literaturblog? Stimmt. Nur dass ich schon seit einiger Zeit nicht mehr dazu komme, neben meiner Arbeit als Schriftsteller und Redakteur und in meiner dank zweier Kinder eher spärlich gesäten Freizeit über Bücher zu schreiben – zumal ich immer den Anspruch hatte, mir viel Zeit für die Texte zu nehmen und in meinen Rezensionen in die Tiefe zu gehen. Auf die Schnelle ein paar Buchtipps raushauen? Das können andere besser als ich. Das heißt aber nicht, dass ich damit aufgehört hätte, Bücher zu empfehlen: Im Stuttgarter Stadtmagazin LIFT betreue ich neben dem Stadt-Ressort schließlich auch die Literaturseiten und stelle darin jeden Monat drei aktuelle Bücher in Kurztexten vor.

Aber heute schrieb Uwe Kalkowski auf seinem Blog Kaffeehaussitzer einen großartigen Text darüber, warum es gerade jetzt in der Corona-Krise wichtig sei, über Literatur zu reden. Und der liebe Uwe hat nicht nur Recht damit – er hat mich auch dazu inspiriert, die letzten LIFT-Ausgaben herauszukramen und nun einige meiner Buchvorstellungen auf den Blog zu stellen. Vielleicht werde ich die Quarantäne (trotz der wenigen Freizeit dank der bereits erwähnten Kinder) nun auch dazu nutzen, mal wieder mein altes Literaturblogger-Cape überzustreifen und ein paar der Bücher vorzustellen, die ich zuletzt gelesen habe. Denn wie Uwe es ganz richtig schrieb: Wir müssen gerade jetzt über Bücher sprechen. Zum Beispiel über diese hier:

Lucia Leidenfrost – Wir verlassenen Kinder

luciaEin Dorf fast ohne Erwachsene, in denen die Kinder das Sagen haben – im diesem Roman ist das eine Horrorvision. Nach und nach verlassen immer mehr Eltern den Ort, vage ist von einem Krieg die Rede, auch wenn vieles im Unklaren bleibt. Bald organisieren sich die Kinder selbst und schaffen ein System aus Macht und Gewalt. Nur die jugendliche Mila versucht, ihren ganz eigenen Weg zu finden – sie ist es aber auch, die irgendwann die geladene Waffe findet… Wir verlassenen Kinder ist eine erschreckende wie poetische Parabel mit einem ganz eigenen Sound, der schon Lucia Leidenfrosts Erzählungen in ihrem Debüt Mir ist die Zunge so schwer so besonders machte. Gerade jetzt ein beklemmender, aber deshalb umso relevanterer Roman. [Kremayr & Scheriau, 192 S., € 19,90]

Nick Drnaso – Sabrina

sabrinaSabrina ist verschwunden – und ihr Partner völlig am Boden zerstört. Als sich sein Freund Calvin um ihn kümmert, geraten beide in einen Strudel aus bizarren Verschwörungstheorien und Fake News. Zu Recht war Nick Drnasos großartiges Buch als erste Graphic Novel überhaupt für den Man Booker Prize nominiert. In verstörend trostlosen, stillen Bildern erzählt er, wie Lügen und Wahn unsere Gesellschaft zunehmend erodieren lassen. Sieht man sich die letzten Videos von Xavier Naidoo an oder liest einige der kursierenden Fake News zur Corona-Krise, ahnt man, wie nahe Fiktion und Realität inzwischen beieinander liegen… [Blumenbar, 208 S., € 26,-]

Clemens J. Setz – Der Trost runder Dinge

setzVerstörend sind auch die jüngsten Erzählungen des so verschrobenen wie genialen Österreichers Clemens Setz. Seine sprachlich brillanten, eigensinnigen Geschichten lesen sich zwar wie absurde Albträume, wirken aber dennoch wie eine Realität, die nur um einige wenige Grad verschoben wurde. Das gilt aktuell sicher besonders für die erste Geschichte des Buches, in der der Erzähler nach der Stornierung seines Fluges vom Flughafen in seine Wohnung zurückkehrt – und dort nur Stunden nach der Abreise ein Lazarett voller Dahinsiechender vorfindet… Liest man Setz, denkt man an Franz Kafka, an Edgar Allan Poe, an David Foster Wallace – aber eigentlich braucht Setz diese Vergleiche gar nicht: Er ist längst eine Klasse für sich. [Suhrkamp, 320 S., € 24,-]

Édouard Louis – Wer hat meinen Vater umgebracht

louisSein autobiographisch gefärbtes Debüt Das Ende von Eddy war eine Abrechnung: mit der französischen Kleinstadt, die ihm das Aufwachsen als Homosexueller zur Hölle machte. Und mit seinem schroffen Vater, dem Louis wie seiner Heimat eines Tages fluchtartig den Rücken kehrte. Wer hat meinen Vater umgebracht mag zwar ein kurzes Buch sein – aber dafür eines mit Größe: Mit viel Empathie, aber noch viel mehr Wut im Bauch beschreibt Louis seinen Vater als Opfer der sozialen Missstände in Frankreich. Für mich – auch dank des großartigen Vorgängerromans Im Herzen der Gewalt – einer der wichtigsten Autoren unseres Nachbarlandes.  [S. Fischer, 80 S., € 16,-]

Mareike Fallwickl – Das Licht ist hier viel heller

DasLicht_Cover_METALLIC_RZ.inddAm Anfang des Romans versucht ein abgehalfterter Mann, sich auf die Soap Sturm der Liebe einen runterzuholen. Vergeblich. Einst war er ein Starautor, der Wenger, einer, der immer für eine Frauengeschichte, immer für einen Skandal gut war. Jetzt ist er bloß noch ein aus der Zeit gefallenes Auslaufmodell und beinahe in Vergessenheit geraten. Doch als er ganz unten ist, landet Wenger plötzlich wieder einen Beststeller – das gelingt ihm allerdings nur, weil er schamlos das tragische Schicksal einer Unbekannten ausbeutet, deren Briefe versehentlich in seinem Briefkasten landen. Parallel dazu wird auch seine Tochter Zoey zum Opfer einer Gesellschaft, die auch nach #metoo noch immer viel zu stark von männlicher Dominanz geprägt ist. Ein unterhaltsamer, garstiger und hochaktueller Roman über Männer, die zwar Kreide gefressen, aber noch immer nichts verstanden haben. [Frankfurter Verlagsanstalt, 384 S., € 22,-]

Miri Watson – Meer ohne Mo

Cover_Watson_Meer-ohne-MoEigentlich hat Svenja hier nichts verloren – weder im Hochhaus am Meer, deren Bewohner sie nie zu Gesicht bekommt, noch in dem Obdachlosenasyl, in dem sie nachts arbeitet. Verloren hat sie aber Mo, ihren besten Freund seit der Grundschule, der sich das Leben nahm und Svenja damit ins Exil am Meer trieb. Ein gelungenes, atmosphärisches und tieftrauriges Debüt. [duotincta, 260 S., 17,-]

Alexandra Riedel – Sonne, Mond, Zinn

Layout 1Der Familienpatriarch ist tot. Die Beerdigung? Ein verlogenes Fest voller unausgesprochener Wahrheiten. Mit am Tisch sitzt auch Gustav, der Enkel, den es nicht geben dürfte: Seine Mutter war das Ergebnis eines Seitensprungs des Verstorbenen und litt zeitlebens unter ihrer Verleugnung. Ein stilles, fast unterkühltes Buch – aber das passt bestens zur Stimmung der Feier. [Verbrecher Verlag, 112 S., € 19,-]

Eindrücke vom Wetterleuchten 2017

wetterleuchtenAm Samstag fand zum zweiten Mal das Wetterleuchten statt, der Sommermarkt der unabhängigen Verlage im Literaturhaus Stuttgart. Während im Obergeschoss ganztägig Lesungen geboten wurden, präsentierten mehr als vierzig Aussteller, darunter die Frankfurter Verlagsanstalt, Voland & Quist oder der Verbrecher Verlag, draußen wie drinnen ihr aktuelles Programm. Die Stände und Lesungen waren wie zur Premiere erfreulich gut besucht, obwohl bis auf Arno Frank in diesem Jahr die  – sofern man bei Indie-Verlagen davon sprechen kann – prominenten Namen fehlten. Nicht unbedingt ein Nachteil: Umso eher gab es dadurch Neues zu entdecken.

Vom Verlag pudelundpinscher etwa hatte ich bislang nie gehört, nun begeisterte mich aber gleich bei meiner ersten Lesung Hamed Abboud mit seiner teils lyrischen Kurzprosa aus Der Tod backt einen Geburtstagskuchen. Mit viel schwarzem Humor begegnet er darin dem längst zum Alltag gewordenen Schrecken des syrischen Bürgerkriegs, vor dem er 2012 in einer drei Jahre dauernden Odyssee nach Österreich floh. Den Text Ich möchte einen Panzer fahren bekamen wir gleich zwei Mal zu hören. Zunächst trug Abboud das lange Prosagedicht auf Arabisch vor, anschließend ein professioneller Sprecher auf Deutsch. Konzentriert einer Sprache zu lauschen, von der ich kein Wort verstehe, war eine faszinierende Erfahrung, besonders, als sich nach einigen Minuten die ersten Muster erkennen ließen. Später las der Autor auf Bitten des Moderators auch selbst einige Zeilen auf Deutsch – und die hatten es in sich. In Die verschiedenen Varianten des Todes schreibt Abboud sarkastisch über die Entwertung des Todes im Krieg. Der ist in Syrien schließlich Alltag, beinahe langweilig: „Wandere um eines besseren Lebens willen nicht aus, sondern um eines besseren Todes willen. Du musst deinen passenden Tod im geeigneten Augenblick ergattern. […] Stirb sauber und steril durch das Salz des Meeres statt durch Chemiewaffen. Stirb vor Kälte in einem Kühlwagen auf der Autobahn. […] Stirb, weil du den Ausweis vergessen oder weil du die Bescheinigung über den Aufschub des Militärdienstes zu langsam vorgezeigt hast.“ Den schmalen zweisprachigen Band habe ich mir nach der gelungenen Lesung gleich als Rezensionsexemplar sichern müssen. Ein Geheimtipp, hoffentlich aber nicht mehr lange: Hamed Abboud ist gemeinsam mit seinen Übersetzern für den 9. Internationalen Kulturpreis vom HKW nominiert.

Nach meiner mehr als positiven Besprechung von Arno Franks So, und jetzt kommst du habe ich mich auf seinen Auftritt beim Wetterleuchten natürlich sehr gefreut. Trotz dreier Passagen, die er aus seinem autobiografischen Debüt las, stand vor allem das Gespräch mit Moderatorin Sandra Potsch im Vordergrund. Interessant fand ich dabei besonders seine distanzierte Wortwahl, wenn es um die Mitglieder seiner Familie, allen voran seinen Vater, ging: Nie sprach er von meinem Vater, meiner Mutter, meiner Schwester. Stattdessen war stets von dem Vater die Rede. Oder von der Figur des Ich-Erzählers. Gerne hätte ich mehr darüber erfahren, inwieweit Frank seine Kindheit fiktionalisiert hat, um sie zu einer Romanhandlung zu verdichten – oder ob er diese sprachliche Distanz einfach braucht, um öffentlich über so intime Erinnerungen an die eigene Familie sprechen zu können. Die halbe Stunde war insofern wie erwartet unterhaltsam und aufschlussreich, aber leider etwas zu kurz.

Zum Abschluss fanden noch zwei Lesungen als zwischen/miete-special statt, in denen junge Literatur im Vordergrund stand. Dietlind Falk las aus ihrem Debütroman Das Letzte, einer Coming-of-Age-Geschichte über eine Ich-Erzählerin, die in einer anarchistischen WG lebt, aber plötzlich Verantwortung für ihre Messie-Mutter übernehmen muss. Das Romansetting versprach Ungewöhnliches, leider fehlte es mir jedoch sowohl beim gelesenen Abschnitt als auch im anschließenden Gespräch ein wenig an Tiefe. Zuletzt trug der Schweizer Michael Fehr Texte aus seinem Band Glanz und Schatten vor und überzeugte nicht nur als phantasievoller Fabulierer, sondern auch als Entertainer. Er trug seine Texte frei und ausdrucksstark vor, verließ dabei immer wieder die Bühne und lief umher. Auch im unterhaltsamen Gespräch mit der Moderatorin präsentierte sich Fehr so schlagfertig und klug, dass ihm wahrscheinlich jeder im Publikum gerne noch länger zugehört hätte.

Deshalb war es schade, dass sich das Wetterleuchten schon zur Dämmerung dem Ende neigte und sich das Lesungsprogramm nicht noch weiter in den Abend zog. Dass der Sommermarkt der Indies erneut gut vom Publikum angenommen wurde, ist jedenfalls erfreulich. Im nächsten Jahr wird er definitiv ein drittes Mal stattfinden, hoffentlich plant das Literaturhaus aber auch über 2018 hinaus und macht das Wetterleuchten zu einer festen Institution in Stuttgart. Schließlich sind es gerade diese Veranstaltungen, die unabhängigen Verlagen die Aufmerksamkeit ermöglichen, die sie brauchen und verdienen – Stichwort: Bibliodiversität.