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Die Stille nach dem Urknall. Über „Weiter als der Himmel“ von Pippa Goldschmidt

weiteralsderhimmelNicht selten ist ein Buch, nachdem man es zur Seite gelegt hat, fast vergessen, sobald man sich das nächste zur Hand nimmt. Manche dagegen lassen einen nicht los: Pippa Goldschmidts Roman „Weiter als der Himmel“ las ich bereits im Sommer, fand seither aber einfach keine Zeit, eine Rezension zu schreiben. Doch obwohl ich inzwischen viele andere Bücher gelesen habe, wollte ich meinen Blog mit gerade diesem aus dem Winterschlaf wecken. Aufgrund nur vager Erinnerungen und inzwischen kryptischer Notizen musste ich, um mein Gedächtnis aufzufrischen, den Roman noch einmal querlesen – und näherte mich damit ganz automatisch seinem Kernthema an: dem Versuch, eine Verbindung zu etwas Vergangenem herzustellen.

Eine traumatisierte Familie

Eigentlich läuft alles bestens für Jeanette. Als frisch promovierte Astronomin hat sie die Weichen für ihre Zukunft gestellt und kann endlich entkommen: „Dem Zuhause, der Depression des Sofas, dem radioaktiven Leuchten des Fernsehers, dem außerirdischen Vakuum im Haus und der Zigarettenasche, die auf alles niederrieselt wie Erde auf einen Sarg.“ Trotzdem lässt sie die Vergangenheit nicht los. Ein tragischer Unfall aus ihrer Kindheit wirft einen Schatten, aus dem Jeanette noch immer nicht heraustreten kann: „Im Sommer, in dem Jeanette zehn Jahre alt ist, explodiert ihr Zuhause. Ein heftiger Blitz fegt durch alle Räume, entzieht ihnen Luft und Geräusche und Farben, macht alles blendend weiß, makellos still.“ Seit dem Ertrinken ihrer großen Schwester Kate, als Schwimmwunderkind der ganze Stolz ihrer Eltern, driftet die traumatisierte Familie auseinander wie nach einem Urknall. Es entsteht ein kaltes neues Universum mit scheinbar unumstößlichen Naturgesetzen: ein expandierendes Weltall ohne Schall, in dem niemand mehr über Kate spricht und sich alle immer weiter voneinander entfernen. Das jahrelange Schweigen fordert seinen Tribut: Die Schwerkraft der unterdrückten Trauer lässt Jeanettes Mutter in eine Depression versinken, während ihr Vater nach einem selbstverursachten Brandunfall aus der familieneigenen Umlaufbahn geschleudert wird und heimlich seinen Seelenfrieden in den Armen einer anderen Frau sucht. Jeanette hadert hingegen mit ihrem Minderwertigkeitsgefühl gegenüber der von allen bewunderten Schwester, die selbst im Tod, selbst im Schweigen noch immer im Mittelpunkt der Familie steht.

Auf der Suche nach Verbundenheit

Auch als promovierte Astronomin muss Jeanette um Wahrnehmung kämpfen. Als eine der wenigen Frauen des Wissenschaftsbetriebs ist sie einem harten Konkurrenzkampf und herablassendem Sexismus ausgesetzt. Umso größer ist die Aufregung über ihre Entdeckung zweier Galaxien, die – entgegen der Gesetze der Standard-Urknalltheorie – miteinander verbunden zu sein scheinen. Weil Jeanettes Daten eindeutig sind, hält sie allen Widerständen zum Trotz an ihnen fest. Ein Affront: Ihre Entdeckung stellt schließlich nicht nur die gängige Lehrmeinung in Frage, sondern auch ein System, das von alten Männern und speichelleckenden Karrieristen verteidigt wird. Aufgrund ihrer Entdeckung erlebt Jeanette beruflich eine Berg- und Talfahrt, die sich auch im Privaten spiegelt. Zu Beginn des Romans herrscht in Jeanettes Leben noch gähnende Leere; von ihren Eltern entfremdet, wahrt sie auch zu ihren Mitmenschen zumeist Distanz und versteckt sich hinter nüchternem Sarkasmus. Dann lässt Jeanette jedoch erstmals seit Jahren Nähe zu und verliebt sich trotz Bindungsangst in ihre langjährige Freundin Paula – wohlwissend um das Risiko einer amour fou, die sie noch weiter aus der Bahn werfen könnte. (mehr …)

1000 Tode schreiben – und lesen!

1000todeObwohl sich mein Blog aufgrund des zeitfressenden Feinschliffs an Dezemberfieber momentan (leider!) noch in Zwangspause befindet, melde ich mich aus aktuellem Anlass nun doch mal wieder zu Wort: Morgen erscheint Version 3 (von 4) der fortlaufenden Textsammlung „1000 Tode schreiben“. In dem so ehrgeizigen wie interessanten E-Book-Projekt des Frohmann Verlags (den ich diesem Artikel sträflicherweise nicht erwähnt habe) sollen sich 1000 Menschen in ebenso vielen Beiträgen mit dem Thema Tod auseinandersetzen. Die bislang 350 kurzen Texte sind so unterschiedlich und abwechslungsreich wie ihre Autoren: Menschen, die privat oder beruflich mit dem Thema zu tun haben, schreiben gleichberechtigt neben Bloggern und gestandenen Schriftstellern wie Clemens Setz, Jan Fischer oder Daniela Seel. Auch ich durfte einen Text zu dem Projekt beisteuern; im kommenden Update von „1000 Tode schreiben“ befindet sich an 322. Stelle ein Auszug meines Romans Dezemberfieber, in dem der Verlust eines geliebten Menschen die Welt seiner Angehörigen sprichwörtlich aus dem Gleichgewicht bringt. Zur nächsten Version von „1000 Tode schreiben“ stelle ich das Projekt inhaltlich noch einmal genauer vor und veröffentliche in diesem Zuge dann auch meinen Beitrag auf dem Blog.

Für die 4. Version, die zur Leipziger Buchmesse erscheinen soll, nimmt die Herausgeberin Christiane Frohmann – die das Projekt mit geradezu heldenhaftem Einsatz beinahe im Alleingang stemmt – noch bis zum 1. März Texte an (weitere Infos hier). Mit dem Kauf muss man bis dahin jedoch nicht warten: Bei jedem Update bekommt man die aktuelle Version des E-Books per Mail geschickt. Die 4,99 € – zum Beispiel im Store von Minimore – sind nicht nur aufgrund der schieren Masse und Vielfalt an Texten gut angelegt: Da der gesamte Autoren- und Herausgeberanteil ans Kindersterbehospiz Sonnenhof in Berlin­‐Pankow gespendet wird, unterstützt man obendrein auch eine gute Sache!