In Norbert Scheuers Roman „Winterbienen“ schmuggelt ein Imker Juden in Bienenkörben über die Grenze – und hält in seinem geheimen Tagebuch den Zerfall aller Ordnung angesichts des Krieges fest.
Bei seinen Bienen ist die Welt noch in Ordnung. In den Stöcken geht alles seinen gewohnten Gang, ganz im Rhythmus der Natur und ungeachtet des Zweiten Weltkriegs, der immer näher an das kleine Städtchen Kall in der Eifel heranrückt – und damit auch ans Leben des Imkers Egidius Arimond. Anders als sein Bruder Alfons und die meisten Männer der Stadt ist Egidius aufgrund einer Krankheit vom Krieg bislang verschont worden. Seine Epilepsie ist Fluch und Segen zugleich: Ihretwegen verlor er seine Anstellung als Lateinlehrer und wurde zwangssterilisiert, ihretwegen muss er aber auch nicht an die Front. So kann Egidius selbst im Januar 1944 noch ein weitestgehend ruhiges Leben führen, festgehalten in einem heimlichen Tagebuch, das er in einem seiner Bienenkörbe versteckt. Sein Alltag besteht aus dem Versorgen seiner Völker, dem Versuch, die historischen lateinischen Schriften seines Vorfahren Ambrosius Arimond zu übersetzen, und aus amourösen Abenteuern mit den zurückgelassenen Frauen in Kall. Selbst vor einer Affäre mit Charlotte, der Frau des NSDAP-Kreisleiters, schreckt der Imker nicht zurück.
Allerdings hat Egidius auch ein gefährliches Geheimnis: Um sich die Medizin gegen seine epileptischen Anfälle leisten zu können, versteckt er jüdische Flüchtlinge in einem stillgelegten unterirdischen Bergstollen und schmuggelt sie dann in Bienenkörben über die belgische Grenze. Er geht damit ein Risiko ein, das wächst, je näher die Front heranrückt: Immer öfter kreisen britische und US-amerikanische Bomber über der Eifel, immer mehr Soldaten werden in der Stadt und zuletzt sogar im Haus von Egidius stationiert. Die Versorgung bricht zusammen, aus dem Tanzlokal wird ein Lazarett, Bomben zerstören Häuser und schleudern Leichen aus ihren Gräbern. Ohne seine Medizin kehren auch die epileptischen Anfälle zurück und werfen Egidius immer weiter aus der Bahn, bis er kaum noch einen klaren Gedanken fassen kann. Und dann steht eines Tages die Gestapo vor seiner Tür.
„Meine Erinnerungen gleichen denen der Winterbienen in ihrem dunklen Stock; ich weiß nicht, ob etwas erst gestern gewesen ist oder schon lange Jahre zurückliegt. Sie erscheinen mir wie ein winziger Punkt in einem unendlichen Raum.“
In der Danksagung von Winterbienen schreibt Norbert Scheuer, ihm seien die in einem alten Bienenstock entdeckten Aufzeichnungen des entfernt mit ihm verwandten Imkers Arimond anvertraut worden, mit Insektenflügeln zwischen den Seiten und einem Geruch von Wachs und Honig. Scheuer arbeitet dabei mit einer Mischung aus Wahrheit und Fiktion: Tatsächlich wurden in der Region Flüchtlinge von Bauern über die belgische Grenze geschmuggelt, auch gab es im Ort jemanden, dessen Tagebuch aus den letzten Kriegsjahren erhalten blieb. Das Spiel mit der vermeintlichen Authentizität erlaubt es dem Leser, in Winterbienen unmittelbar am Erleben und Denken Arimonds teilzuhaben und so auch Zeuge seiner inneren Zerrrüttung zu werden.
Drehten sich die Einträge im Tagebuch des Bienenzüchters lange um den Versuch, die Normalität im Alltag aufrechtzuerhalten, zeugen sie mit dem Einzug des Krieges in Kall plötzlich vom Zerfall aller Ordnung – der inneren wie der äußeren. Immer öfter bricht Egidius ab, bleiben die Einträge undatiert. Die Sprache wird knapper, verzweifelter, nach Anfällen bisweilen gar fahrig und wirr. Frieden findet der Imker nur, wenn er über seine Bienen und die komplexen Strukturen ihrer Völker schreibt. Dieses Spannungsfeld aus summenden Bienen und dröhnenden Bombern am Himmel, aus Frieden und Schrecken, aus Ordnung und Zerfall ist der Kontrast, dem der Roman seine große Wirkung verdankt und der ihn zu einem Meisterwerk macht, für das Scheuer zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand und mit dem Wilhelm-Raabe-Literaturpreis ausgezeichnet wurde.
Norbert Scheuer: Winterbienen. 320 Seiten, erschienen bei C.H. Beck und als Lizenz bei der Büchergilde. Diese Besprechung erschien erstmals im Magazin der Büchergilde 2/2020.


Eigentlich ist Walter Nowak ja fit für sein Alter, nicht nur wegen des täglichen Schwimmens. Für den Rentner ist es deshalb auch gar kein Problem, dass seine jüngere Frau für ein paar Tage zu einer Konferenz verreist ist. Und ohne den Unfall wäre er vielleicht ja auch ganz gut alleine zurechtgekommen. Vielleicht hätte er nicht das Wildschwein in der Küche zerlegt und es dann auf dem blutigen Boden vergammeln lassen. Vielleicht hätte er weniger getrunken und keine halben Tage verschlafen, wäre er nicht ohne Schuhe und mit Badekappe zum geschlossenen Freibad und dann zu seiner ehemaligen Firma gefahren. Walter Nowak macht sich wegen all dieser Dinge keine großen Gedanken. Das tun bloß die anderen: etwa seine Ex-Sekretärin, die ihn besorgt auf einen Kaffee hineinbittet und dann zusehen muss, wie er vor ihr flieht. Oder sein entfremdeter Sohn, der ihn erstmals nach Jahren besucht und ihm anfangs nicht einmal die Sache mit der Fledermaus glaubt.
Ein Schiffbruch zwischen Afrika und Europa – inzwischen ist das ja kaum noch eine Meldung wert. Fast täglich sterben Menschen auf dem Mittelmeer, ertrinken Frauen, Kinder, Männer bei der verzweifelten Flucht vor Elend und Krieg. Wir haben uns an die Bilder der Toten vor unseren Küsten längst gewöhnt und gelernt, wegzuschauen. Menschen sind so. Auch damals, im Sommer 1816, wollte zunächst niemand etwas vom Unglück der Medusa wissen. Zu ungeheuerlich und furchtbar waren die Ereignisse, die sich infolge des Schiffbruchs vor Afrika zugetragen hatten. Schließlich kam die Katastrophe der französischen Fregatte aber doch ans Licht – und wurde zum Skandal: aufgrund des unfähigen Kapitäns, der seine Position bloß einer treuen royalen Gesinnung verdankte und der, anstatt auf die Warnungen seiner Offiziere zu hören, lieber einem Hochstapler vertraute. Aufgrund der Rettungsboote, von denen es zu wenige gab und die dann nicht einmal voll besetzt waren. Vor allem aber aufgrund des Floßes, das eilig aus Schiffsteilen zusammengebaut worden war und zur grausamen Todesfalle für hundertsiebenundvierzig, vom Kapitän im Stich gelassene Menschen wurde. Nach fast zwei Wochen auf dem offenen Meer lebten nur noch fünfzehn von ihnen – und die waren in ihrer Not zu Kannibalen geworden.
Ich sagen: In der Literaturkritik darf das nur der Blogger. Und beim
Fast hätte ich ihn dann doch nicht gelesen. Dabei hatten mich nicht nur die begeisterten Besprechungen bei